| # taz.de -- Wiederkehr des Klassismus: In Moral verbarrikadiert | |
| > Die Klassenfrage wird seit neuestem wieder vermehrt gestellt – allerdings | |
| > identitätspolitisch und mit moralischem Unterton. | |
| Bild: Reinigungskräfte auf dem Parteitag der Grünen in der Dortmunder Westfal… | |
| Am Identitätshimmel ist ein neuer Stern aufgegangen. In den USA altbekannt, | |
| wurde er hier erst kürzlich (wieder-)entdeckt. Er trägt den Namen | |
| „Klassismus“. Ein bedeutungsschwangerer Begriff – denn die Bedeutung, die | |
| er in seinem Bauch trägt, wiegt schwer: Es ist die Klasse. Auferstanden aus | |
| den Ruinen der Linken, ist sie zum „Klassismus“ mutiert. Klassismus meint | |
| Vorurteile und Diskriminierungen aufgrund der sozialen Herkunft. Das sind | |
| abschätzige Blicke, herablassende Gesten, das Herabschauen – Klassismus | |
| richtet sich vorwiegend gegen Schlechtergestellte. Er reicht von mangelnder | |
| Anerkennung bis hin zur offenen Verachtung. | |
| Solches zu benennen heißt, es zu kritisieren. Das schafft ein Bewusstsein, | |
| dass [1][Klassen mehr sind – immer mehr waren als rein ökonomische | |
| Kategorie]n. Ein gegensätzliches Verhältnis, wo Ausbeutung flankiert ist | |
| von Geringschätzung. Mal expliziter – mal diskreter als die „feinen | |
| Unterschiede“, wie sie der [2][Soziologe Pierre Bourdieu] sichtbar gemacht | |
| hat. In jedem Fall aber dient solcher Klassismus sowohl als Legitimation | |
| der Unterdrückung – als auch als Besiegelung des Klassenschicksals. So | |
| wehrt eine Gesellschaft allzu heftigen sozialen Aufstieg ab. | |
| Klassismus findet sich, in der Definition des US-Ökonomen Chuck Barone, auf | |
| drei Ebenen: als Unterdrückung durch das ökonomische System; als Vorurteil | |
| gegen Gruppen und als individuelle Vorbehalte. Bezeichnend, dass der | |
| nunmehr wiederentdeckte Klassismus sich allerdings auf die zweite und | |
| dritte Ebene konzentriert. | |
| ## Diskriminierung und Anklage | |
| Denn solcherart wird die soziale Frage in eine Frage der Diskriminierung | |
| verwandelt. Sie wird in einen Moraldiskurs eingeschrieben, der folgerichtig | |
| mit den entsprechenden Methoden exorziert werden soll: | |
| Anti-Klassismus-Trainings, um klassistische Einstellungen zu überwinden. | |
| Das bedeutet nichts weniger als die Wiederkehr der Klassenfrage als | |
| Identitätspolitik. Die Klasse wird zur Identität und der Klassismus zur | |
| identitätspolitischen Ausgrenzung. Das ist kein Wunder – denn Identität | |
| bildet heute unseren ideologischen Horizont. Identität ist die Form, in der | |
| gesellschaftliche Konflikte heute ausgetragen werden – wie man in | |
| Abwandlung von Karl Marx sagen könnte. Identitätspolitik aber ist immer | |
| Anerkennungspolitik. Bei race und gender ist klar, auf welche Anerkennung | |
| das abzielt. Aber bei der Klassenzugehörigkeit? Was ist das Ziel, die | |
| Utopie des Klassismus-Diskurses: eine glückliche Unterschicht, glücklich, | |
| weil man sie nicht mehr so nennen darf? | |
| Das ist natürlich billige Polemik, wird man einwenden. Denn es ginge nicht | |
| um entweder – oder. Nicht: entweder ökonomische Verteilungskämpfe oder | |
| respektvoller Umgang. Nicht: entweder Geld oder Anerkennung. Nicht: | |
| ökonomisches oder symbolisches Kapital. Es ginge vielmehr um das Und. Um | |
| beides. Wie zuletzt etwa Olaf Scholz bekräftigt hat. | |
| ## Identitätspolitische Festschreibung | |
| Aber hier übersieht man einen entscheidenden Punkt: Die | |
| identitätspolitische Festschreibung verhindert genau das. Sie verhindert | |
| das Und, das Beides – weil sie sich in ihrer Ausschließlichkeit, in ihrer | |
| Moral verbarrikadiert. Einbunkert. So wie sie den Klassismus auf dieser | |
| Ebene festnagelt. Weil sie keine allgemeinen, umfassenden Konzepte mehr | |
| zulässt. Nur noch individuelle. Mit dem Effekt, dass die notwendige | |
| Anerkennung ebenso wie die notwendige Solidarität umcodiert wird. | |
| Solidarität basiert auf Gemeinsamkeit, auf etwas, das man teilt. Früher war | |
| das die Klassenlage. Heute aber werden Anerkennung und Solidarität nur noch | |
| imaginär gefasst. Im Sinne eines Spiegelbilds. Verbindend sind nicht die | |
| Verhältnisse. Verbindend ist vielmehr die Ähnlichkeit. Wie bei race und | |
| gender. Nun wird auch Klasse zu einer solchen Identität. Um es klar zu | |
| sagen: Ja, es braucht soziale und symbolische Anerkennungskämpfe. Niemand | |
| will eine Rückkehr zum kruden Ökonomismus. Aber Richtung und Dynamik, die | |
| die Identitätspolitik genommen hat, sperren sie in ein Spiegelkabinett. Und | |
| das ist heute ihre Crux. Genau das macht all die notwendigen Kämpfe um | |
| Anerkennung zur Sackgasse. | |
| 23 Mar 2021 | |
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| Isolde Charim | |
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