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# taz.de -- Wie dem Autowahn entkommen?: Unfälle als natürliche Todesursache
> Noch schwerfälliger als unsere Körper hat die jahrzehntelange automobile
> Dressur unsere Köpfe gemacht. Verkehrswende ist Denkwende.
Bild: Rushhour in der autogerechten Stadt
Die Hauptfigur meines ersten Romans wird, nachdem sie zweihundert Seiten
lang durch die Stadt flaniert oder eher gestreunt ist, von einem Auto
überfahren. Irgendwie muss man aus der Sache ja rauskommen, dachte ich mir
damals, und da schien das einfach ein naheliegender Abbruch für einen außer
Kontrolle geratenen Extremspaziergang: der [1][Unfall als natürliche
Todesursache] des Fußgängers in der Großstadt des frühen einundzwanzigsten
Jahrhunderts.
Tja. Was einem so natürlich erscheint. Neulich sprach ich eine Autofahrerin
an, die ihr Fahrzeug auf einem dieser berüchtigten Fahrrad-„Schutzstreifen“
geparkt hatte, um sich in die Lektüre ihres Smartphones zu vertiefen.
Ich war freundlich, denn meine Frau hat mich mit Recht dazu ermahnt, nicht
immerzu auszurasten, und man freut sich hierzustadt ja sowieso, wenn
Autofahrer ihre Handys immerhin nicht beim Abbiegen benutzen. Wie sie es
fände, fragte ich also in aller Höflichkeit, wenn ihr Kind auf diesem
Radstreifen führe und da ein Auto drauf parkte? Sodass ihr Kind gezwungen
wäre, nach links auf jene Spur auszuweichen, auf der Autos gerne mal mit
sechzig, siebzig Sachen heranbrettern?
Erschrocken schaute sie mich an. Und antwortete: Niemals wäre sie so
verantwortungslos, ihr Kind in der Stadt radfahren zu lassen.
Es ist dasselbe Denkmuster, nach dem Eltern aus durchaus realem und ja
sogar schönem Schutzinstinkt ihre Kinder im Auto bis vors Schultor karren:
Elterntaxi statt Fahrrad oder Füße, weil Füße oder Fahrrad fürs Kind zu
gefährlich wären – wegen der vielen Autos. Man muss gar nicht darüber
spotten.
## Jahrzehnte in der autogerechten Stadt
Wahrscheinlich ist zumindest einigen dieser Chauffiereltern das bizarre
Paradox bewusst. Trotzdem scheint dieses Handeln alternativlos – natürlich.
Was willste machen? Die Stadt ist, wie sie ist.
[2][Einige Jahrzehnte autogerechte Stadt] haben eben nicht nur unsere
Bewegungs-, sondern auch unsere Denk- und Fantasieapparate verrenkt. So
wird dann auch das Überfahrenwerden zur natürlichen Todesursache.
Diese ganze gegenwärtige Stadt, die aufs Auto zugeschnitten ist und unser
Denken und Fantasieren aufs Auto zuschneidet, scheint mir eine Art
Hyper-Mythos des Alltags, wie [3][Roland Barthes] ihn in seinen
„Mythologies“ von 1957 definierte: Etwas zu einem konkreten historischen
Zeitpunkt und aus konkreten Gründen Menschgemachtes wird zu einer Art
unhintergehbarem Naturzustand umdefiniert und überhöht.
## Reichsgaragenordnung von 1939
Wir haben diesen Mythos in Stein gehauen und in Beton gegossen, die
Metropole als mythische Mega-Statue. Kommt man dann ins kontroverse
Gespräch über mögliche Alternativen, landet man am Ende leicht bei der
denkbar mickrigsten Schrumpfform des mythischen Denkens – etwa: Ja, wo soll
man denn sonst parken?
Und stöbert man nach den historischen Wurzeln des Autostadt-Denkens, stößt
man am Ende zum Beispiel auf die Reichsgaragenordnung von 1939, die Wohnen
und Parken aneinanderschmiedete. „Die Förderung der Motorisierung ist das
vom Führer und Reichskanzler gewiesene Ziel“, heißt es darin. Der Führer
befahl, wir folgen bis heute. Mag die SPD auch untergehen, die deutsche
Nationalsozialdemokratie lebt. Und sei es noch darin, dass wir uns wie
motorisierte Werwölfe als letztes Volk der Erde einem Tempolimit auf
unseren Autobahnen widersetzen.
Manchmal ist es befreiend, die Welt einen Moment lang durch die Augen eines
Kindes zu betrachten. Vor ein paar Jahren stand ich mit meinem ältesten
Sohn auf einer jener Mittelinseln, die die weise Vorsehung der Natur
inmitten der fließenden Verkehrsströme hat auftauchen lassen, um die
Chancen von Fußgängern zu erhöhen, heil rüberzukommen. Zweihundert Meter
von Schloss Bellevue ist diese Insel gelegen, und wir hatten eine Weile
Gelegenheit, die schöne Aussicht des vorüberströmenden motorisierten
Verkehrs zu genießen.
## Leichtigkeit und Flüssigkeit
Und mein Sohn (durchaus aller Vorsichtsregeln gewahr, die wir schon den
kleinsten Kindern einbläuen, so wie unsere Urgroßmütter einst ihre Kleinen
warnten, sich vor dem Säbelzahntiger zu hüten, wenn sie die Höhle
verlassen), mein Sohn also sinnierte: Warum müssen eigentlich immer die
Fußgänger warten, bis die Autos vorbei sind, und nicht umgekehrt?
Ein Mensch, der sich in gewisser Weise (obwohl Universitätsprofessor und
Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste) den
kindlichen Blick auf unsere Städte bewahrt hat, ist der Österreicher
Hermann Knoflacher, ein Mann wie aus einer Zeit, in der das fantastische
Denken noch geholfen hat, und vielleicht irgendwie der Roland Barthes des
Verkehrsdenkens.
Barthes war fünfundzwanzig und die Reichsgaragenordnung ein Jahr alt, als
Knoflacher in Kärnten geboren wurde. Heute ist er achtzig und beinah ein
Mythos jenes Alltags, wie er sein könnte, wenn da nicht überall das private
Automobil wäre – der personifizierte Möglichkeitssinn. Knoflacher erkennt
noch in den schönsten Spielplätzen die Käfighaltung des Kindes und die
Absicht der Straßenverkehrsordnung von 1934, der Leichtigkeit und
Flüssigkeit des motorisierten Verkehrs den Weg freizuräumen.
## Das Auto als Virus
Das private Auto bezeichnet Knoflacher als ein „Virus“, und natürlich kann
man diese Krankheitsmetaphorik kritisch sehen. Andererseits hat es ja eine
gewisse Plausibilität bei einem Verkehrsmittel, das zu derart vielen Toten,
Verletzten und Kranken (durch Abgase, Lärm, Bewegungsmangel) führt.
Und in Verbindung mit der haarsträubend ineffizienten Verkehrsbilanz des
Privatautos, das im Durchschnitt über 23 von 24 Stunden als Stehzeug den
öffentlichen Raum verstopft und selbst in Bewegung meist nur einen einzigen
Menschen sowie viel leeren Raum transportiert, darf man mutmaßen, dass eine
solche Erfindung überhaupt nicht zugelassen würde, wenn sie denn erst heute
gemacht würde und das dicke Ende bekannt wäre.
Knoflacher meint seine Virus-Metaphorik allerdings wörtlicher: „Das Auto
ist in den tiefsten Ebenen des Stammhirns bei den Menschen verankert. Der
Mensch sieht die Welt nicht mehr so, wie er sie gesehen hat, bevor es das
Auto gab. Er sieht die Welt so, wie es das Auto haben möchte. Sonst würde
es draußen nicht so ausschauen.“
## Die Welt durch die Windschutzscheibe
Und das entspricht im Grunde der Alltagserkenntnis, dass die Welt durch die
Windschutzscheibe und aus dem Inneren eines gepanzerten Fahrzeugs anders
aussieht als für den schutz- und scheibenlos Schauenden, der ungepanzert
unterwegs ist. Denkt man dieses drastische Ungleichgewicht der sich
bewegenden Körper in der Stadt weiter, erscheint einem der von sogenannten
bürgerlichen Parteien und auch der naiven Polizei ständig ventilierte
Hinweis auf „gegenseitige Rücksichtnahme“ als Lösung aller
Straßenverkehrs-Übel wie blanker Hohn.
Dass die Reichskarrenlobby für Deutschland das ist, was Amerika an seiner
Waffenlobby hat, ist ja mittlerweile fast ein Allgemeinplatz. Diese Lobby
regiert dreist überall hinein, aber ihr nahrhaftestes Futter ist unser
starres mythisches Denken, das nicht davon ab will oder kann, dass die
autogerechte Stadt und das dem Auto dienende Land naturgegebene Tatsachen
wären, Göttergeschenke der Mobilitäts-Evolution.
Unsere körperlichen Erfahrungen vertiefen dieses Denken, nicht nur beim
automobilisierten Menschen: Der Fußgänger und der Radfahrer sind sich ja
stets bewusst, dass ihnen bei Fehlverhalten oder auch bloß Pech der Tod
droht, so als surfte er in haiverseuchten Gewässern.Kann gutgehen, geht
meistens gut, muss aber nicht.
## Makroraumfresser Automobil
Darum hat er sich, so wie das Kind und seine Eltern auf dem Spielplatz, mit
seiner strukturellen Käfighaltung abgefunden. Und für den eingehegten
Passanten, der sich an seinen geschrumpften Lebensraum angepasst hat, ist
es ein natürlicher Reflex, sich von einem Eindringling in seine
übriggelassenen Mikroräume (etwa der notorischen Nervensäge Gehwegradler)
stärker bedroht zu fühlen als von dem Makroraumfresser Automobil.
Noch schwerfälliger als unsere den tatsächlich natürlichen Bewegungen
entwöhnten Körper hat die jahrzehntelange automobile Dressur unsere Köpfe
gemacht. Auch die haben natürliche Bewegungen verlernt. Verkehrswende muss
sich darum beidem zuwenden – und zwar gleichzeitig, nicht nacheinander: dem
ungerecht verteilten Verkehrsraum und den verquerten Denkräumen.
Sinnlos und sogar kontraproduktiv wäre es allerdings, wenn man nun einfach
Pendler oder Autofahrer beschimpfte oder die Nummer Stadtzentrum gegen
Peripherie, Stadt gegen Land spielte. Fight the game, not the player. Was
einen dabei hoffnungsfroh stimmen könnte (trotz des hasenfüßigen Kleinmuts
unserer verantwortlichen Politiker), ist eine auf Knoflacher zurückgehende
Tiefengelassenheit: So wie die Menschen jahrzehntelang zur Autosucht
dressiert wurden, können sie sich auch wieder umgewöhnen.
19 Oct 2020
## LINKS
[1] /Massnahmen-gegen-Raser/!5706859
[2] /Ausstellung-zur-Hausbesetzer-Geschichte/!5715161
[3] /Zum-100-Geburtstag-von-Roland-Barthes/!5250832
## AUTOREN
Albrecht Selge
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