| # taz.de -- Wahlprogramm von CDU/CSU: Von wegen Maß und Mitte | |
| > Geht es nach der Merz-Söder-Union, wird das Land nach der Bundestagswahl | |
| > ein anderes sein – mit reicheren Reichen, ärmeren Armen, ohne | |
| > Geflüchtete. | |
| Bild: Friedrich Merz beim sogenannten Deutschlandtag der sogenannten Jungen Uni… | |
| Sieben Wochen vor der Wahl scheint sicher, dass die Union der nächsten | |
| Regierung angehören wird. Wahrscheinlich wird sie diese auch anführen. Wie | |
| ticken die Christdemokraten 2025? | |
| Bereits der erste Satz des Wahlprogramms der Union weist die Richtung: | |
| „Unsere Bundesrepublik Deutschland ist eine großartige Erfolgsgeschichte: | |
| Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Weltmeistertitel, Westbindung, | |
| Friedliche Revolution, Wiedervereinigung und Aufbauleistung der | |
| Ostdeutschen, Wohlstand“. Der Satz geht noch weiter. In diesem | |
| Erfolgsstakkato ohne Verben, aber mit viel W wie „Westen“, wirkt die | |
| „Aufbauleistung der [1][Ostdeutschen]“ schon sprachrhythmisch wie ein | |
| Stolperdraht. | |
| Die Union ist wieder eine westdeutsche Männerpartei mit einer Neigung zu | |
| zackigen Sätzen geworden, in denen kein Zweifel nisten darf. „Machen statt | |
| reden! Regieren statt streiten! Mit ‚Made in Germany‘ wieder an die | |
| Spitze!“, dröhnt es. Weg mit dem Relativsatz! Her mit dem Ausrufezeichen! | |
| Die zugespitzte Formel dieses „Politikwechsel für Deutschland“ betitelten | |
| Programms könnte lauten: Deutschland früher toll. Ampel schlimm, Union | |
| besser. | |
| Damit es wieder aufwärts geht, will die Union Steuern senken. Der Soli für | |
| Reiche soll weg, der Spitzensteuersatz erst für höhere Einkommen gelten. | |
| Unternehmen sollen weniger Steuern zahlen. Die Stromsteuer soll gestrichen | |
| werden. Wenn das realisiert wird, klafft ein Loch von fast 100 Milliarden | |
| Euro im Haushalt. [2][Weil die Schuldenbremse für die Union in Stein | |
| gemeißelt ist,] fragt sich, wie das funktionieren soll. Bei der Vorstellung | |
| des Programms beschied Friedrich Merz kurz und knackig, das sei gar kein | |
| Problem: Der Staat gebe „50 Milliarden für Flüchtlinge, 50 Milliarden für | |
| Bürgergeld“. Da könne man zwar nicht alles streichen, aber viel. | |
| ## Beunruhigendes Verhältnis zu Fakten | |
| Im Wahlkampf wird nicht immer die reine Wahrheit gesagt. Aber hier | |
| offenbart sich ein beunruhigend dehnbares Verhältnis zu den Fakten. Für | |
| Geflüchtete gibt der Staat nicht 50, sondern weniger als 30 Milliarden aus. | |
| Bürgergeld oder Grundsicherung können nicht um zweistellige | |
| Milliardenbeträge gekürzt werden. | |
| Das Bundesverfassungsgericht hat untere Grenzen definiert, weil die | |
| Bundesrepublik laut Grundgesetz ein „sozialer Rechtsstaat“ und nicht der | |
| Nachtwächter des neoliberalen Manchester-Kapitalismus ist. Daran ändern | |
| erfreulicherweise auch die Hauruck-Hauptsätze der Union nichts. Zu | |
| suggerieren, man könne die Bürgergeldkasse einfach plündern, ist unlauter. | |
| Die Union weiß, dass die Weiterbildung von Arbeitslosen genau das Geld | |
| kostet, mit dem sie die Reichen zu beglücken verspricht. | |
| Die Senkung der Unternehmenssteuer ist zwar ein bekannter Textbaustein der | |
| Unions-Programmprosa. Doch nimmt man all diese Steuerpläne zusammen, ist | |
| dies das wirtschaftsliberalste Programm der Union seit 2005. Es erinnert an | |
| die Heilslehre des Neoliberalismus: Gebt den Reichen, dann wächst die | |
| Wirtschaft, die Steuern sprudeln, und alle sind glücklich. | |
| „Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne Wirtschaft ist alles nichts“, heißt | |
| es im Programm. Die Union denkt dabei unter anderem an Mehrwertsteuersätze | |
| für Gaststätten und versucht ihre etwas unernst wirkende neoliberale | |
| Gläubigkeit rhetorisch mit existenziellem Ernst aufzudonnern. Die Kirchen – | |
| die auf 79 Seiten dreimal pflichtschuldig erwähnt werden – spielen im | |
| aktuellen Programm der Union keine Rolle. Die Union glaubt dafür umso | |
| entschlossener an die Wunderkräfte des Marktes. | |
| Die geplanten Steuersenkungen kommen nur zu einem kleinen Teil der Mehrheit | |
| zugute. Die Reichen, die oberen zehn Prozent, werden hingegen großzügig mit | |
| rund 50 Milliarden Euro mehr pro Jahr bedacht. Die ohnehin große Kluft | |
| zwischen der unteren Hälfte und den oberen zehn Prozent soll somit größer | |
| werden. Um das fair zu finden, muss man wohl zu jener Gruppe gehören. | |
| ## Strenger AfD-Geruch | |
| Zugleich beschwört die Union den „Zusammenhalt unserer Gesellschaft“. Wie | |
| passt das zusammen? Die Union hat einen Begriff von Zusammenhalt, der eher | |
| das Gegenteil meint: Abgrenzung. Denn der Zusammenhalt wird in ihrer Sicht | |
| der Dinge durch das Bürgergeld bedroht, dessen Abschaffung „den | |
| Zusammenhalt stärken“ soll. Das Bürgergeld habe für böses Blut gesorgt, | |
| weil es stärker gestiegen sei als die Löhne. | |
| Schlichtweg verschwiegen wird dabei, dass die Union das Bürgergeld mit | |
| beschlossen hat. Verschwiegen wird auch, dass die Inflation – 20 Prozent in | |
| vier Jahren – Ärmere härter getroffen hat als die Mittelschicht. Doch für | |
| die Union ist das Bürgergeld die Chiffre für alles Üble, mit dessen Ende | |
| luftigste Steuerversprechungen bezahlt werden sollen. | |
| Das Bürgergeld taucht stets als „sogenanntes“ auf und wird zusätzlich in | |
| Anführungszeichen gesetzt, so, als wäre es ein stinkender Putzlumpen, den | |
| man sich vom Leib halten muss. All das ist Ressentimentbewirtschaftung auf | |
| dem Rücken Schwächerer, die streng nach AfD riecht. | |
| Die zweite Gefahr für den Zusammenhalt kann in den Augen der | |
| Christdemokraten nur durch die deutsche „Leitkultur“ gebannt werden, zu der | |
| sich auch MigrantInnen gefälligst zu bekennen haben. Kurzum: Unter | |
| Zusammenhalt versteht die Union die Abwehr von allem, was dem biodeutschen | |
| Kollektiv bedrohlich erscheinen könnte – nämlich faule, gierige Arme und | |
| MigrantInnen. | |
| Das zweite Hindernis, das für die erhoffte baldige Rückkehr in das goldene | |
| Zeitalter der vielen „W“ beseitigt werden muss, sind nach Deutschland | |
| geflüchtete Menschen. „Wir setzen einen faktischen Aufnahmestopp sofort | |
| durch“, heißt es grimmig entschlossen. | |
| Wenn Deutschland Flüchtlinge in Zukunft zurückweist und ihnen das Recht | |
| verweigert, einen Asylantrag zu stellen, verstößt das gegen EU-Recht. | |
| Offenbar will die Union darüber so nassforsch hinweggehen wie Herbert | |
| Kickl, Chef der [3][rechtsextremen FPÖ], der sagte: „Wir würden es einfach | |
| machen.“ Wenn Deutschland, das größte, mächtigste Land in der Europäischen | |
| Union, das außerdem die meisten Grenzen zu anderen EU-Staaten hat, dies | |
| praktizieren würde, könnte das Schengen-Abkommen implodieren. | |
| ## Zur „Remigration“ ist es nicht mehr weit | |
| Die Union aber strebt auf Biegen und Brechen das Ende des Asylrechts an. | |
| Asyl in Deutschland soll nur noch „in einem sicheren Drittstaat“ (wie | |
| Ruanda) beantragt werden können. Wenn es gewährt wird, gilt es nicht in | |
| Deutschland, sondern in Ruanda. | |
| Dieser Exitus des Asylrechts wird als moralische Großtat verkauft, die „das | |
| menschenverachtende Geschäft der Schlepper“ zerschlagen würde. Von da ist | |
| es zur „Remigration“, die die AfD proklamiert, nicht mehr weit. Faktisch | |
| ist das Drittstaaten-Modell eher untauglich. Die Versuche von | |
| Großbritannien und Italien, Geflüchtete nach Ruanda und Albanien | |
| abzuschieben, wurden teils von Gerichten gestoppt und haben außer hohen | |
| Kosten nicht viel bewirkt. | |
| Diese AfD-affine Rhetorik zeigt, dass die Merz-Söder-Union die Merkel-Ära | |
| nach 2015 rückgängig machen will. Sie will auch das Erbe der Ampel – | |
| Cannabislegalisierung und schnellere Einbürgerung, das Heizungs- und | |
| Selbstbestimmungsgesetz – abwickeln. Auch das ist ein Bruch mit dem auf | |
| Kontinuität ausgerichteten bundesdeutschen Modell, in dem selten Gesetze | |
| früherer Regierungen gekippt werden. | |
| Dies ist eine neue Union mit einem radikaleren, härteren Tonfall. Im | |
| Wahlprogramm 2017 hieß es noch: „Heute leben wir im schönsten und besten | |
| Deutschland, das wir je hatten.“ Nach diesem biedermeierlichen Intro war | |
| klar, dass es in diesem „schönsten und besten“ Land naturgemäß nur Detai… | |
| zu verbessern gab. | |
| Jetzt herrscht eine mitunter kopflose Tabula-rasa-Rhetorik, die den | |
| unionstypischen Maß-und-Mitte-Sound übertönt. So ist im Programm etwa zu | |
| lesen, dass die „individuelle Mobilität der Inbegriff von Freiheit“ sei. | |
| Daher müsse das Verbrenner-Aus fallen, das Tempolimit auf Autobahnen | |
| verhindert, der Parkplatz in der Stadt verteidigt werden. | |
| „Inbegriff“ bedeutet die vollkommene, absolute Verkörperung von etwas, also | |
| dessen Wesen. Man sollte annehmen, dass demokratische Parteien die in der | |
| Verfassung verbrieften Grundrechte für den Inbegriff der Freiheit halten. | |
| Für die Union besteht das Wesen der Freiheit heute darin, mit 200 | |
| Kilometern über die Autobahn zu brettern und die Städte mit SUVs | |
| vollzuparken. Kaum zu glauben. | |
| ## Mit Ausrufezeichen in die Vergangenheit | |
| Politik in der Bundesrepublik ist ein langer, ruhiger Fluss. Es gab seit | |
| 1949 erst einen vollständigen Machtwechsel, 1998. Sonst regierte immer eine | |
| Partei weiter. Durchregieren, die geistig-moralische Wende, die neoliberale | |
| Revolution fanden so wenig statt wie eine linke Erstürmung der Zitadelle. | |
| Für die Union zählten Pragmatismus und Machterhalt zudem meist mehr als | |
| Programme. | |
| Also alles nicht so schlimm? Der rabulistische Ton – Ampel ausradieren, | |
| MigrantInnen abschrecken, Reiche beschenken – weckt schon den Verdacht, | |
| dass hier der Bruch mit der Konsensdemokratie, neudeutsch „Disruption“, | |
| anvisiert wird. Die Republik soll mit Ausrufezeichen in eine Vergangenheit | |
| mit Verbrenner-Autos und Leitkultur gebeamt werden. | |
| Die Union wird wohl zusammen mit der SPD oder den Grünen regieren. Wenn sie | |
| dieses Wahlprogramm wirklich ernst meint, kann sie „Regieren statt | |
| streiten!“ schon mal streichen. | |
| 4 Jan 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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