# taz.de -- Ukrainische Gesellschaft im Krieg: Hilflos im Umgang mit Versehrten | |
> Zehntausende ukrainische Soldaten und Zivilisten haben im Krieg | |
> Gliedmaßen verloren. Ein Amputierter will Menschen dafür sensibilisieren. | |
Bild: Jewhen Sywopljas bei einem Spaziergang im westukrainischen Luzk | |
LUZK taz | „Die Menschen haben sich von mir abgewandt. Ich kam mir vor wie | |
ein Aussätziger. Die Gesellschaft hat mich nicht akzeptiert“, erinnert sich | |
der 39-jährige Jewhen Sywopljas an den ersten Spaziergang nach seiner | |
Beinamputation durch das Stadtzentrum der westukrainischen Stadt Luzk. Dort | |
ist er gerade zu einer Rehamaßnahme. | |
Sywopljas wollte das so nicht hinnehmen. Deshalb begann er, Videos zu | |
machen, in denen er Zivilisten Ratschläge gab, wie sie sich gegenüber | |
verwundeten Soldaten verhalten sollten. Die Filme wurden in den sozialen | |
Netzwerken schnell von Tausenden Ukrainern gesehen und geteilt. Sywopljas | |
wurde dadurch bekannt. Er bekam viele positive Kommentare und vor allem | |
sehr viel Dankbarkeit im Internet. Im realen Leben änderte sich nichts. | |
Freiwillig an die Front | |
Vor dem Krieg hatte Sywopljas als Maschinist in einer Fabrik für | |
Sportsimulatoren gearbeitet. Wenige Tage nach Kriegsbeginn meldete er sich | |
zur Armee und fand sich noch am selben Abend bei einer Panzerabwehreinheit | |
wieder, die seine Heimatstadt Tschernihiw im Norden der Ukraine | |
verteidigte. | |
Nachdem die russischen Truppen aus der Nordukraine zurückgedrängt worden | |
waren, wechselte Jewhen Sywopljas an die Front in der Ostukraine. Dreimal | |
wurde er dort verwundet. Die letzte Verletzung, die dann zur Amputation | |
seines rechten Beins führte, erlitt er im Februar 2024 in Awdijiwka. | |
Dort sollte seine Brigade die Truppenrotation sichern, also dafür sorgen, | |
dass die einen Soldaten gefahrlos abziehen und die anderen an die Front | |
kommen konnten. „Doch die Neuen wurden von den Russen schwer beschossen und | |
kamen nicht bis zu uns heran. Tagelang konnten wir weder schlafen noch | |
essen. Ich war in einem Zustand, in dem ich keine Angst mehr vor dem Tod | |
hatte. Ich spürte nicht mehr, wo ich hin trat, hörte kein einziges | |
Geräusch. Es gibt ein Sprichwort: ‚Wenn eine Granate auf dich zukommt, | |
hörst du sie nicht.‘ So war es auch bei mir“, erinnert sich der Soldat an | |
den Moment seiner Verwundung. | |
## Hilfe im Alltag besonders wichtig | |
Nachdem er sein Bein verloren hatte, wurde Sywopljas klar, wie wichtig es | |
war, Menschen wie ihm im Alltag zu helfen. Denn selbst Alltäglichkeiten wie | |
das Einkaufen ist für Amputierte sehr schwierig.„Es ist unmöglich, einen | |
schweren Einkaufskorb zu tragen und gleichzeitig eine Krücke zu halten“, | |
erklärt Sywopljas. Und dass ihm bei so etwas niemand half, habe ihn sehr | |
aufgeregt. | |
Um die Zivilbevölkerung für den Umgang mit Amputierten zu sensibilisieren, | |
begann Sywopljas, wöchentlich mit Plakaten durchs Stadtzentrum von Luzk zu | |
laufen: „Hand aufs Herz und lächeln“ oder: „Schaut nicht weg, ich bin ke… | |
Freak“, stand darauf. Menschen umarmten ihn oder legten im Vorbeigehen die | |
Hand aufs Herz, um ihm für seinen Einsatz an der Front Respekt zu zollen. | |
Die ukrainische Gesellschaft hat noch nicht gelernt, eine angemessene | |
Haltung [1][gegenüber Menschen mit Amputationen] zu entwickeln. Aber | |
aufgrund der heftigen Kämpfe sieht man jeden Tag mehr von ihnen – sowohl | |
Soldaten als auch Zivilisten – auf den Straßen ukrainischer Städte. | |
Der deutsche Prothesenhersteller Ottobock, der mit der ukrainischen | |
Regierung zusammenarbeitet, schätzte im August 2023 die Zahl der Ukrainer, | |
die seit 2022 Gliedmaßen verloren haben, auf etwa 50.000. Das Unternehmen | |
stützte sich dabei auf Daten der ukrainischen Regierung und medizinischer | |
Partner. | |
## Amputation als komplexes Trauma | |
Die Psychologin Daria Majstruk, die Jewhen Sywopljas bei seinen Auftritten | |
in Luzk begleitet, hält es für wichtig zu lernen, wie man mit | |
Kriegsverletzten richtig kommuniziert. Einige von ihnen seien bereit, | |
Unterstützung anzunehmen. Andere hingegen reagieren aggressiv auf | |
Hilfsangebote und wollen kein Mitleid. | |
„[2][Eine Amputation ist ein ziemlich komplexes Trauma]. Man kann es mit | |
dem Verlust eines Teils seiner selbst vergleichen. Wenn der Krieg zu Ende | |
ist, müsse die Gesellschaft darauf vorbereitet sein, sich nicht vor | |
Amputierten zu fürchten, sie nicht zu meiden, sondern sie als normale | |
Menschen wahrzunehmen, sie anzusprechen, ihnen zuzulächeln, ihnen mit | |
Respekt zu begegnen“, so die Psychologin. | |
Sywopljas rät, bei der Begegnung mit einem Amputierten nicht nach unten zu | |
schauen: „Man kann lächeln, man kann ihnen zunicken. Es gibt viele | |
Möglichkeiten, Respekt und auch Dank zum Ausdruck zu bringen“, sagt der | |
ukrainische Soldat. | |
Jetzt wartet Sywopljas auf Prothesen und setzt seine Aufklärung fort. Wie | |
viele andere will er nach der Rehabilitation an die Front zurückkehren. Er | |
ist bereit, seinen Dienst auch mit Prothesen fortzusetzen, aber er weiß, | |
dass er nicht mehr in der Lage sein wird, an Kampfhandlungen teilzunehmen. | |
Die Kompromisslösung, die er für sich sieht, besteht darin, die jungen | |
Rekruten, die in seine Brigade eintreten, auszubilden und seine Erfahrungen | |
weiterzugeben. | |
Aus dem Russischen: Anastasia Magasowa | |
21 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Juri Konkewitsch | |
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