# taz.de -- Familienplanung im Ukraine-Krieg: Eier und Samen für die Zukunft | |
> Seit Russlands Invasion in die Ukraine ist die Geburtenrate dort | |
> eingebrochen. Ein Reproduktionsmediziner steuert mit Gratis-Behandlungen | |
> für Armeeangehörige gegen. | |
Bild: Gynäkologe Stefan Khmil (im türkisfarbenen Kittel) bei einer Reprodukti… | |
Lwiw taz | Der Raum ist hell, es riecht nach Desinfektionsmitteln. | |
Instrumente piepen gleichmäßig. Zwei Krankenschwestern assistieren dem Arzt | |
im türkisfarbenen OP-Kittel, der seine Arbeit parallel auf einem | |
Ultraschallmonitor verfolgt. Ein Anästhesist überwacht die Atmung der | |
Patientin. In einer Privatklinik im westukrainischen Lwiw bekommt sie | |
gerade befruchtete Eizellen eingepflanzt. Alles verläuft nach Plan, schon | |
zehn Minuten später wird sie in den Aufwachraum gebracht. | |
Paaren ihren Kinderwunsch zu erfüllen, ist das Geschäft von Stefan Khmil, | |
der den Eingriff im OP durchführt. Seit 40 Jahren arbeitet der inzwischen | |
69-Jährige als Gynäkologe. „2006 habe ich meine erste Klinik für | |
reproduktive Medizin in Ternopil eröffnet“, erzählt er. Die Stadt liegt | |
etwa 120 Kilometer östlich von Lwiw. | |
Seine Karriere als Hochschullehrer an der dortigen Universität hat Khmil | |
inzwischen beendet. Doch die Privatkliniken führt er noch weiter, drei in | |
Ternopil, eine in Lwiw. „1.000 Kinder sind infolge meiner Behandlung | |
geboren worden“, sagt er während einer Pause in seinem Büro. In den dunklen | |
Holzregalen stehen Fachbücher. Die Wände sind dekoriert mit Fotos von Babys | |
und Bildern der Jungfrau Maria. | |
## Kostenlose Kinderwunschbehandlung für Armeeangehörige | |
Seit ein paar Monaten bietet er die Behandlung kostenlos an, wenn | |
mindestens eine PartnerIn in der ukrainischen Armee ist. Khmils Angebot | |
kommt offenbar an. Im Foyer warten einzelne Frauen und Männer sowie Paare | |
auf bequemen Sofas, ein paar davon in Uniform. Einige füllen Formulare aus. | |
Gesprochen wird wenig. Es duftet nach Kaffee, den man sich frisch aus einem | |
Automaten holen kann. Die Mitarbeiterin am Empfang bietet drei Sorten | |
Schokolade an. | |
„Wir müssen mehr neue Ukrainer machen“, sagt Khmil. Das Land hatte auch | |
schon vor der großangelegten russischen Invasion im Februar 2022 eine der | |
niedrigsten Geburtenraten in Europa. Doch seitdem ging es weiter abwärts. | |
Im Durchschnitt brachten 2023 Frauen in der Ukraine zwischen 0,7 und 0,9 | |
Kinder zur Welt. Genauere Daten gibt es nicht, weil wegen der | |
millionenfachen Flucht selbst die Bevölkerungszahl nicht ganz klar ist. | |
Um die Bevölkerungszahl stabil zu halten, ist eine Rate von knapp 2,2 | |
nötig. Liegt sie niedriger, sind die älteren Generationen größer als die | |
jüngeren, das Durchschnittsalter steigt, irgendwann fehlen dann die | |
Arbeitskräfte und die Konsumenten. „Im vergangenen Jahr sind nur 186.000 | |
Kinder in der Ukraine zur Welt gekommen“, sagt Khmil. „Das ist der | |
niedrigste Wert in unserer Geschichte.“ | |
Wirtschaftlich starke und attraktive Länder können den demografischen | |
Schwund durch Einwanderung kompensieren. Die Ukraine hatte da im Vergleich | |
mit anderen Migrationszielen nicht viel zu bieten. [1][Vor der russischen | |
Invasion] gab es zwar Wirtschaftswachstum, doch von niedrigen Niveau aus. | |
Das Bruttosozialprodukt pro Kopf lag 2021 laut Daten der Weltbank bei 4.827 | |
US-Dollar. In Deutschland waren es im selben Jahr 51.426 US-Dollar. | |
## Dem Bevölkerungsrückgang etwas entgegensetzen | |
Khmil will der Schrumpfung etwas entgegensetzen, sagt er. „Unsere Land kann | |
sich nicht leisten, dass ein Kinderwunsch nicht erfüllt wird, wenn er | |
möglich ist.“ Und durch den Krieg habe sich die Situation verschärft. | |
Genaue Zahlen zu den gefallenen Soldaten gibt die ukrainische Regierung | |
nicht bekannt, um dem Gegner keine Rückschlüsse auf die eigene Stärke oder | |
Schwäche zu erlauben. Aber es müssen Zehntausende sein. Viele davon in dem | |
Alter, in dem sie sonst vielleicht eine Familie gegründet hätten. Auch | |
unter Khmils Belegschaft gab es schon Gefallene: Ein Ultraschallarzt und | |
eine Krankenschwester hatten sich zur Armee gemeldet. | |
Soldatinnen und Soldaten sowie ihre PartnerInnen werden von Khmil | |
kostenfrei behandelt. „Sie geben so viel für unser Land. Da kann ich auch | |
etwas zurückgeben.“ Das koste pro Paar zwischen 2.000 und 3.000 Dollar. | |
„Die Kosten trägt die Klinik im Moment selbst“, sagt er. „Aber auf Dauer | |
ist das keine Lösung.“ Deshalb suche er nach finanzieller Unterstützung, | |
auch international. Es gab schon ein paar Gespräche, aber bisher noch | |
nichts Konkretes. | |
## Wünsche nicht aufgeben oder aufschieben | |
Eine der Patientinnen an diesem Tag ist Anastasia, die es wie die anderen | |
Patientinnen auch beim Vornamen belassen will. Die 28-jährige | |
Psychotherapeutin aus dem 220 Kilometer entfernten Riwne ist zu einer | |
vorbereitenden Behandlung in der Klinik. „Mein Mann und ich versuchen schon | |
seit zwei Jahren, ein Kind zu bekommen“, erzählt sie. Sie sei sehr dankbar | |
für die Möglichkeit der kostenfreien Behandlung, sonst hätten sie sich das | |
wohl nicht leisten können. „Aber auf natürlichem Wege schwanger zu werden | |
ist schwierig, seit [2][die Einheit meines Mannes in die Ostukraine verlegt | |
worden ist].“ | |
Dass viele andere Menschen ihre Kinderwünsche mitten im Krieg aufschieben, | |
hält sie nicht ab. „Auch ohne Krieg würden wir die Zukunft nicht kennen“, | |
sagt Anastasia „Wir können unser Leben nicht unterbrechen oder | |
verschieben.“ Es sei kaum noch etwas, wie es vorher war. Da wolle sie ihre | |
wichtigsten Wünsche erst recht nicht aufgeben. „Wenn wir im Osten der | |
Ukraine leben würden, hätten wir es mit ganz anderen Gefahren zu tun als | |
hier.“ Aber sie sei zuversichtlich. „Unser Land kann mit großen | |
Herausforderungen umgehen, sonst wären wir gar nicht mehr hier.“ | |
Neben der künstlichen Befruchtung bietet Khmil den Paaren seit Beginn der | |
russischen Invasion auch an, ihre Samen- und Eizellen kostenfrei | |
einzufrieren. Nach seinen Angaben haben das bisher 900 Soldaten und mehr | |
als 400 Soldatinnen oder Partnerinnen von Soldaten gemacht. „Viele Soldaten | |
machen sich Sorgen, dass sie im Krieg so schwer verletzt werden, dass sie | |
später keine Kinder mehr zeugen können. Diese Sorge wollen wir ihnen | |
nehmen.“ Und das Angebot gilt über den Tod hinaus. „Wir benutzten auch das | |
Sperma von Gefallenen, wenn sie vorher zugestimmt haben.“ Das gelte auch | |
für die Soldatinnen. In der Ukraine ist [3][Leihmutterschaft] legal. | |
## Zeugung trotz räumlicher Trennung | |
Zu einer Eizellenentnahme ist Viktoria an diesem Tag in der Klinik. Die | |
34-Jährige ist aus Dubno angereist, eine Kleinstadt rund 170 Kilometern | |
nordöstlich von Lwiw. Andere nehmen noch weitere Wege in Kauf, erzählt | |
Khmil, zum Beispiel aus Polen oder Italien. Viktoria wirkt ruhig und | |
abgeklärt. Als Hebamme ist sie sozusagen vom Fach. | |
Nach Beginn von Russlands großangelegter Invasion 2022 hat sie sich | |
allerdings freiwillig zur Armee gemeldet und ist nun Feldsanitäterin. An | |
der Front habe sie auch ihren Ehemann kennengelernt, er ist ebenfalls | |
Soldat. Ihre Einheit sei gerade zur Auffrischung in der Region. [4][„Wir | |
hatten viele Verletzte“], sagt sie. Die Gelegenheit wollte sie nutzen: „Wir | |
wollen Kinder nach dem Krieg.“ Sie wollte das schon lange, mit ihrem | |
ersten, 2018 verstorbenen Ehemann. Aber es habe nie geklappt. | |
Am anderen Ende des Flures schiebt die Laborassistentin eine neue Probe | |
unters Mikroskop. Auf ihrem Monitor sieht man ein Wimmelbild aus | |
Samenzellen. „Das ist gutes Material“, sagt sie. „Quantitativ und | |
qualitativ.“ Das kostbarere Material seien aber die Eizellen. Davon stellt | |
die Natur nur eine begrenzte Zahl bereit. Damit sie nicht verschwendet | |
werden, soll auch die Spermienprobe gut sein. | |
Eine von den Proben aus dem Labor soll an diesem Tag Yulias Wunsch | |
erfüllen. Ihr sollen die befruchteten Eizellen eingesetzt werden. Deshalb | |
will sie nur kurz reden. „Mir geht so viel durch den Kopf.“ Ihr Mann und | |
sie hätten schon länger versucht, ein Kind zu bekommen, erzählt die | |
43-Jährige. „Nun versuchen wir es auf diese Weise.“ Es soll ihr erstes Kind | |
werden. Ihr Mann ist in der Armee, er hat sich freiwillig gemeldet. Trotz | |
der räumlichen Trennung wollen sie ihren Kinderwunsch nicht aufgeben. | |
„Russland bringt so viele Menschen um, also brauchen wir neue.“ | |
22 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Marco Zschieck | |
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