# taz.de -- Strukturelle Benachteiligung von Roma: Leben in der Sackgasse | |
> Loloč Selimovič ist Rom und mittlerweile seit fast 30 Jahren in | |
> Deutschland. Er lebt im Flüchtlingsheim, genauso lang, seit fast 30 | |
> Jahren. | |
Bild: Loloč Selimovič vor seiner Unterkunft | |
KÖLN taz | Das Flüchtlingsheim, in dem Loloč Selimovič seit 29 Jahren lebt, | |
liegt im Niemandsland. Zwar braucht man von der Kölner Innenstadt nur 20 | |
Minuten mit der Straßenbahn Linie 7 bis zur Haltestelle Baumschulenweg. | |
Aber von dort geht es noch 10 Fußminuten weiter, an adretten Reihenhäusern | |
vorbei, durch die Bahnunterführung, an Wiesen entlang bis zum Rand eines | |
Industriegebiets. Der Eingang ist direkt neben einer Annahmestelle für | |
Bauschutt und andere Abfälle. | |
Das Heim besteht aus vier Reihen mit eingeschossigen Fertigbaracken, die in | |
Wohnungen mit kleinen Vorgärtchen unterteilt sind. Das Gelände ist umzäunt, | |
der Sicherheitsdienst passt auf, dass kein Unbefugter reinkommt – und | |
Besuch abends wieder geht. | |
„Es ist einsam wie im Wald, alles ist weit weg“, sagt Selimovič. Schon | |
lange will er hier weg, Hunderte Bewerbungen hat er geschrieben, sich die | |
Finger wund telefoniert. Alles umsonst. | |
1995 kamen die Selimovičs nach Köln, Loloč, genannt Lolo, war elf Jahre | |
alt. Die Roma-Familie war Armut und Diskriminierung in ihrer Heimat | |
Montenegro da schon sechs Jahre entflohen, doch auch die erste Station | |
Italien hatte ihnen kein Glück gebracht. | |
In Köln wurden sie in das Heim am Poller Holzweg eingewiesen. „Damals war | |
es noch eine große Baracke mit einem langen Gang, wo die Zimmer abgehen“, | |
erinnert sich Lolo Selimovič. Küchen und Sanitärbereich hätten sich alle | |
teilen müssen. „Das ist heute besser, wo jede Familie eine Wohnung mit | |
Küche und Bad hat.“ | |
Die Wohnküche der Selimovičs ist akkurat aufgeräumt, nichts Überflüssiges | |
liegt herum. Lolos ältere Schwester Sladjana hat Getränke bereitgestellt, | |
Lolo macht eine einladende Geste in Richtung der beiden schwarzen Couches. | |
Der 39-Jährige lebt mit drei erwachsenen Geschwistern in zwei Wohnungen mit | |
zusammen 90 Quadratmetern. Die Mutter starb vor langer Zeit, der Vater vor | |
zwei Jahren. Lolo schläft in der Einzimmerwohnung, die anderen in der | |
„großen“ Wohnung mit Wohnküche, Schlafzimmer, einer Abstellkammer, einem | |
Bad. Das Schlafzimmer teilt sich Sladjana mit den Brüdern Elvis und Damian, | |
beide sind von Geburt an schwer krank und pflegebedürftig. | |
Bis vor Kurzem wohnte auch die zweite Schwester Dragana hier, erst vor drei | |
Wochen hat sie geheiratet und ist ausgezogen. „Das wird schwer für uns“, | |
sagt Lolo Selimovič, weil die Pflege der Brüder jetzt auf ihm und Sladjana | |
alleine lastet und die Miete der Heimwohnung auf weniger Personen umgelegt | |
wird. 1.660 Euro warm verlangt die Stadt Köln seit Jahresanfang, Lolo | |
Selimovič holt zum Beweis einen Brief, der die Erhöhung mitteilt. Weil er | |
arbeitet, muss er seinen Anteil selbst zahlen, 280 Euro sind es bisher, | |
nach Draganas Auszug wird es wohl mehr werden. Für die Geschwister zahlt | |
das Jobcenter. | |
## Die Sehnsucht nach Arbeit | |
Dass Lolo Selimovič Arbeit hat, sogar eine Festanstellung, macht ihn stolz. | |
Er ist Maschinenführer und Gabelstaplerfahrer, seit sieben Jahren für | |
dieselbe Firma, die Plastikgranulat sortiert. Diese Karriere war nicht | |
abzusehen, als ihn die Reporterin v[1][or 19 Jahren das erste Mal im Poller | |
Holzweg besuchte.] Damals hatte er – wie viele Roma-Flüchtlinge – nur eine | |
Duldung ohne Arbeitserlaubnis. Das Leben des jungen Mannes bestand aus | |
Langeweile, spazieren gehen und Sperrmüll absuchen – er wünschte sich | |
nichts sehnlicher, als zu arbeiten. | |
Allerdings hatte er keine Ausbildung, Lesen und Schreiben konnte er nur | |
schlecht, da er in Deutschland nie zur Schule gegangen war und vorher in | |
Italien nur drei Jahre. Die Schulpflicht für Flüchtlingskinder gibt es in | |
Nordrhein-Westfalen erst seit 2005, bis dahin haben sich die Behörden nicht | |
wirklich gekümmert, dass Flüchtlinge ihre Kinder in Schulen anmelden. | |
„Meine Eltern waren damals völlig überfordert“, sagt Selimovič. | |
Die Bleiberechtsregelung 2007 brachte die Gelegenheit, auf die er so lange | |
gewartet hatte. Er bekam eine zweijährige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis | |
und damit Zeit zu beweisen, dass er sich selbst ernähren kann. „Die Chance | |
habe ich gleich ergriffen“, erzählt er. Zuerst arbeitete er zwei Jahre als | |
Reinigungskraft. Dann ging er zu einer Zeitarbeitsfirma und kam so zu | |
seinem heutigen Arbeitgeber, der ihn nach vier Jahren fest übernahm und ihm | |
den Gabelstaplerschein finanzierte. | |
Mit dem festen Job, erzählt Selimovič weiter, habe er sich endlich um eine | |
Niederlassungserlaubnis bewerben können. „Ganz leicht haben sie es mir aber | |
nicht gemacht, auch einen Sprachkurs auf B1-Niveau musste ich abschließen.“ | |
Stressig sei es gewesen, abends neben der Arbeit sechs Monate lang Kurse zu | |
besuchen, aber es habe auch Spaß gemacht – Schule war für ihn ja eine neue | |
Erfahrung. „Ich konnte besser Deutsch sprechen als viele. Das war schön, | |
dass ich anderen etwas zeigen konnte.“ | |
Nur mit der eigenen Wohnung will es nicht klappen. Seit sechs Jahren | |
bemühen sie sich, erzählt Selimovič. Bei der GAG sind sie vorstellig | |
geworden, Kölns städtischer Wohnungsgesellschaft, ebenso bei Vonovia, dem | |
größten Privatvermieter der Stadt. Sie waren beim „Auszugsmanagement“ der | |
Stadt, das in private Wohnungen vermitteln soll, haben sich einen | |
Wohnberechtigungsschein für Sozialwohnungen besorgt, schauen regelmäßig bei | |
Immoscout und anderen Vermittlungsbörsen. „Aber es gibt einfach keine | |
Wohnungen“, sagt Selimovič – und wie viele glaubt auch er, dass es etwas | |
mit den „vielen Flüchtlingen“ zu tun hat. „Erst kamen die Syrer, dann die | |
Ukrainer, alle Häuser sind voll.“ | |
## Besonders schwierig bei Sozialwohnungen | |
Bei der [2][Roma-Selbstorganisation Rom e. V.] haben sie eine andere | |
Erklärung. Der Verein residiert auf einem weitläufigen Gelände nahe des | |
Fernsehturms in der Innenstadt, es gibt mehrere Gebäude für Beratungs- und | |
Bildungsangebote, Spiel- und Sportmöglichkeiten, einen Jugendtreff. | |
Vorstandsmitglied Ruźdija Sejdovic nimmt kein Blatt vor den Mund. „Fast | |
kein Vermieter will Roma als Mieter“, sagt er, das wisse er aus eigener | |
Erfahrung und aus der Beratungsarbeit. Besonders schwierig sei es bei den | |
Sozialwohnungen, von denen es ohnehin viel zu wenig gebe: „Die Stadt hat | |
Belegwohnungen bei GAG und Vonovia, aber sie hat nur ein Vorschlagsrecht – | |
und beide Vermieter lehnen Roma sehr oft ab.“ | |
Vorstandskollege Ossi Helling sieht das genauso: „Selbst Roma mit festem | |
Aufenthaltsstatus haben kaum Chancen auf dem Wohnungsmarkt, eher vermietet | |
man an syrische oder iranische Geflüchtete.“ Der Kölner Wohnungsmarkt sei | |
sowieso sehr angespannt. „Für die Roma ist gute Integration in den Heimen | |
fast aussichtslos“, sagt Helling. | |
Als die Rede auf den Poller Holzweg kommt, wird Sejdovic sarkastisch. | |
„Viele Roma dort fühlen sich wie in einem Getto abgetrennt.“ Fast alle | |
Bewohner seien Angehörige der Minderheit – und in dieser Abgeschiedenheit | |
Menschen unterzubringen, „ist nach so vielen Jahren sehr inhuman“. | |
## Struktureller Rassismus | |
Auch Helling spricht von „strukturellem Rassismus gegenüber den Bewohnern | |
dieses Heims“, das auch kein ausreichendes WLAN hat. Seit drei Jahren gebe | |
es darum Diskussionen, erzählt Helling, denn die Stadt habe sich | |
verpflichtet, „entsprechend den EU-Normen“ Internetzugang zu schaffen, aber | |
das sei wegen der Abgeschiedenheit sehr teuer. Anfang Januar erklärte die | |
Verwaltung auf eine schriftliche Anfrage des Integrationsrates, weil man | |
das Heim noch mindestens 10 bis 15 Jahre nutzen werde, lohne sich die | |
Investition von 150 bis 180.000 Euro für „optimiertes Internet“ | |
tatsächlich. In einem Jahr könnte es so weit sein. | |
Lolo Selimovič hat sich mit dem schlechten WLAN arrangiert, er hat einen | |
Handyvertrag – mit seinem Job kann er sich den leisten. Dass er als Rom bei | |
der Wohnungssuche diskriminiert wird, kann er sich eigentlich nicht | |
vorstellen. „Ich sage ja niemandem, dass wir Roma sind, ich sage, wir sind | |
aus Montenegro“, erwidert er. Warum er das macht, weiß er ganz genau. „Wenn | |
ich sagen würde, wir sind Roma, wäre die Wohnung ja gleich weg. Viele | |
Menschen denken schlecht über uns.“ | |
Und so wie sich Lolo Selimovič angewöhnt hat, sein Roma-Sein gegenüber den | |
Gadje – Nicht-Roma – zu verstecken, so hat er sich im Laufe der Jahre an | |
die Schikanen gewöhnt, die ein Leben im Flüchtlingsheim mit sich bringt. An | |
die Polizeieinsätze, wenn jemand abgeschoben werden soll, an die Razzien | |
bei Nacht, wenn Beamte die Wohnungen stürmen und alles durchsuchen. Wonach | |
sie suchen, weiß Selimovič nicht. | |
Normal ist es für ihn auch, dass die Sicherheitsleute des Heims einfach in | |
die Wohnung kommen, etwa um zu sagen, dass ein Besuch gehen müsse, weil ab | |
22 Uhr Nachtruhe sei. Dass das in der eigenen Wohnung anders ist, kann er | |
kaum glauben. „Man muss den Vermieter nicht fragen, wenn ein Freund bei | |
einem übernachten will?“ | |
Woher soll man das wissen, wenn man sein Leben lang im Heim lebt. | |
8 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Zum-Nichtstun-verdammt/!352642/ | |
[2] https://www.romev.de/ | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Stadtland | |
wochentaz | |
Schwerpunkt Internationaler Tag der Roma | |
Diskriminierung | |
Wohnungsnot | |
Unterkunft | |
IG | |
Antiziganismus | |
Schwerpunkt Internationaler Tag der Roma | |
Schwerpunkt Internationaler Tag der Roma | |
Schwerpunkt Internationaler Tag der Roma | |
Minderheitenpolitik | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Rom*nja-Aktivist über Antiziganismus: „Traumatisierende Erfahrungen“ | |
In Berlin kommen Rom*nja zum Bundes-Roma-Kongress zusammen. Mitorganisator | |
Kenan Emini über das Bleiberecht, Diskriminierung und den Kampf gegen | |
rechts. | |
Behördenumgang mit Roma: Stabiles Stigma | |
Sich gegen mögliche Diskriminierung auf dem Amt zu wehren, ist nicht immer | |
leicht, beklagt der Sozialarbeiter Timur Beygo. | |
Romanì in Italien: „Man sieht es ihnen ja nicht an“ | |
Aus Angst vor Diskriminierung verleugnen viele Romanì in Italien ihre | |
Herkunft. Denn in der Bevölkerung halten sich hartnäckig gefährliche | |
Vorurteile. | |
Roma in der EU und europäischen Politik: Viele Stimmen, wenig Gehör | |
Die Betroffenheit durch Diskriminierung eint alle Roma in Europa. Sie haben | |
kaum eine politische Lobby. Wie könnte sich die Situation verbessern? | |
Institut für Minderheitenfragen: Kooperation statt Konfrontation | |
Das Europäische Zentrum für Minderheitenfragen hat seinen Sitz in | |
Flensburg. Es befasst sich mit nationalen und ethnischen Minoritäten in | |
Deutschland. | |
Kelly Laubinger über Diskriminierung: „Genug Rassismus für alle da“ | |
Die Sinteza und Aktivistin Kelly Laubinger sah als Kind, wie die Polizei | |
ihre Puppen durchsuchte. Ein Gespräch über das Leben unter Generalverdacht. | |
Grabstätten von Roma und Sinti: Endlich ist Ruhe | |
Gräber von Sinti und Roma fallen auf: Groß, kitschig, raumgreifend. Doch | |
eine spezifische Bestattungskultur gibt es nicht – dafür viele Klischees. |