# taz.de -- Behördenumgang mit Roma: Stabiles Stigma | |
> Sich gegen mögliche Diskriminierung auf dem Amt zu wehren, ist nicht | |
> immer leicht, beklagt der Sozialarbeiter Timur Beygo. | |
Bild: Die Bundesagentur für Arbeit hat offensichtlich ein Problem mit Antiziga… | |
BERLIN taz | Roma und Sozialbetrug ist eines der Lieblingsthemen der | |
Boulevardmedien. Bei Verdachtsfällen wird, wie im vergangenen August [1][in | |
Duisburg-Friemersheim], genüsslich über „Mega-Razzien“ gegen „Clans“ … | |
„Luxus-Autos in der Tiefgarage“ berichtet und Politiker:innen für | |
„Knallhart-Ansagen“ das Mikro hingehalten. Konkrete Zahlen gibt es keine, | |
aber das so immer weiter befeuerte Stigma [2][ist überaus stabil] – und hat | |
Folgen. | |
Im Sommer 2020 etwa verschickte die Bundesagentur für Arbeit (BA) an ihre | |
Beschäftigten eine interne Handreichung zur „Bekämpfung von bandenmäßigem | |
Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“. | |
Auf 20 Seiten werden darin Praktiken beschrieben, mit denen | |
EU-Ausländer:innen sich rechtswidrig deutsche Sozialleistungen erschleichen | |
– etwa vorgetäuschte Arbeits- oder Mietverhältnisse oder falsche Angaben | |
zum Lohn. | |
Das Wort „Roma“ kam darin nicht vor, in der Ursprungsfassung war allerdings | |
von den Herkunftsländern Bulgarien und Rumänien die Rede. Nach Protesten | |
wurden die Länder entfernt. Doch es blieb klar, um wen es geht. | |
Die BA verwies zwar darauf, dass die Antragsteller:innen „in vielen | |
Fällen selbst Opfer (sind), sie werden von Banden ausgenutzt, die sich die | |
materielle Not vieler Betroffener in ihren Herkunftsländern zunutze machen | |
und sie vielfach mit falschen Versprechungen nach Deutschland locken.“ Und | |
so weise die BA ihre Sachbearbeiter:innen „ausdrücklich darauf hin“, | |
dass „EU-Bürger nicht unter Generalverdacht stehen, Leistungsmissbrauch zu | |
begehen“, und die überwiegende Mehrheit einen rechtmäßigen Anspruch“ hab… | |
Doch die Handreichung hatte gleichwohl Wirkung. | |
Die [3][Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege] (BAGFW) | |
befragte Ende 2020 rund 400 Beratungsstellen, fast die Hälfte berichtete | |
von Fällen, in denen EU-Bürger:innen „bereits in der Eingangszone von | |
Jobcentern abgewiesen worden sind und somit keinen Antrag auf ‚Hartz IV‘“ | |
stellen konnten. Über 40 Prozent der befragten Beratungsstellen hätten | |
angegeben, dass die Jobcenter „rechtswidrig aufgrund fehlender | |
Sprachkenntnisse die Entgegennahme von Anträgen abgelehnt haben“. | |
Die Erkenntnisse seien „alarmierend“, sagte damals der BAGFW-Vize Jens | |
Schubert. „Es darf nicht sein, dass Bürgerinnen und Bürger der EU daran | |
gehindert werden, ihnen nach dem Gesetz und dem EU-Recht zustehende | |
Leistungen zu beantragen.“ | |
## Abweisende und diskriminierende Praxis | |
Man nehme „eine stark zunehmende restriktive und abweisende, z. T. auch | |
diskriminierende Praxis der Jobcenter gegenüber Unionsbürger*innen | |
wahr“, hieß es [4][in einem Protestbrief] von elf Beratungsstellen an das | |
Bundessozialministerium vom November 2020. Und auf eine Rundmail an die | |
Paritätischen Beratungsstellen in diesem Frühjahr bekam die taz in diese | |
Richtung weisende Zuschriften. | |
Ein Leistungsanspruch entsteht, wenn EU-Bürger:innen in Deutschland eine | |
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen. Reicht der Lohn | |
daraus nicht zum Leben, können sie aufstockende Leistungen („Hartz IV“) | |
beantragen. | |
Doch diesen durchzusetzen und sich gegen mögliche Diskriminierung auf dem | |
Amt zu wehren, ist nicht immer leicht. „Die Behörden sagen ja nicht ‚Du | |
bist Roma und kriegst nichts‘“, sagt der Sozialarbeiter Timur Beygo, Leiter | |
der Sozialen Beratungsstelle des [5][Förderverein Roma e.V.] in Frankfurt | |
am Main. | |
Beygo berät vor allem Roma aus Rumänien, die in Deutschland häufig im | |
Reinigungs- und Baugewerbe arbeiten. Ein Teil sei nicht alphabetisiert – | |
was viel mit der Ausgrenzung im Herkunftsland zu tun habe. „Da ist der | |
Zugang zur Schule oft äußerst schwierig“, sagt Beygo. Hierzulande würden | |
sie von Arbeitgebern teils ausgenutzt. Arbeitsbedingungen seien oft prekär, | |
Gehälter häufig so niedrig, dass Anspruch auf ergänzende Leistungen | |
bestehe. | |
Doch dazu forderten Jobcenter bisweilen Dokumente, die Arbeitgeber den | |
Antragsteller:innen vorenthielten. „Wenn die das mit mir machen | |
würden, würde ich einfach zur Personalabteilung gehen“, sagt Beygo. „Wenn | |
man aber kein Deutsch kann, kann man sich da viel schlechter durchsetzen.“ | |
So vergehe oft viel Zeit, bis Geld fließe. Ersparnisse, um diese Zeit zu | |
überbrücken, gebe es oft nicht, Verschuldung sei teils die Folge. „Eine | |
vorläufige Bewilligung wie bei deutschen Familien – das wird bei Roma nur | |
sehr selten gemacht, es muss meist alles komplett vorliegen“, sagt Beygo. | |
Unabhängig von der Einkommenshöhe haben EU-Arbeitnehmer:innen einen | |
Anspruch auf Kindergeld. Doch welche Dokumente Ausländer:innen dazu | |
vorlegen müssen, werde teils sehr unterschiedlich gehandhabt. „Die Ämter | |
können nach Ermessen zusätzliche Dokumente fordern, etwa eine | |
Schulbescheinigung, die für Roma in Rumänien nur sehr schwer zu beschaffen | |
ist.“ Teils müssten diese dafür Bestechungsgelder zahlen. | |
## Schwierige Wohnsituation | |
Wer seine Arbeit verliert oder kündigt, verliert sechs Monate später auch | |
seinen Anspruch auf deutsche Sozialleistungen. Das ändert sich erst nach | |
fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland. Doch diesen könnten Roma teils nicht | |
nachweisen – und landeten in der Obdachlosigkeit. „Von dort ist es dann | |
sehr schwer, wieder eine Beschäftigung zu finden – auch, weil das Leben auf | |
der Straße stark an der Gesundheit zehrt“, sagt Beygo. | |
Überhaupt sei die Wohnsituation ein großes Problem. In Hessen etwa | |
verpflichtet das Sicherheits- und Ordnungsgesetz die Kommunen, obdachlosen | |
Roma eine Unterkunft zuzuweisen, sofern ein Sozialleistungsanspruch | |
besteht. Viele würden mit Asylsuchenden in Sammelunterkünften untergebracht | |
– und dort lange bleiben. | |
Zwar können sie nach einem Jahr einen Antrag auf eine Sozialwohnung | |
stellen. „Aber es gibt kaum große Wohnungen in Frankfurt“, sagt Beygo. „… | |
7-köpfige Familie hast Du fast keine Chance, da rauszukommen.“ So würden | |
seine Klient:innen im Schnitt fünf bis sechs Jahre in den | |
Sammelunterkünften bleiben. „Dort kriegen Familien dann drei Zimmer | |
zugewiesen, ohne private Duschen oder Kochgelegenheiten, das kann sehr | |
belastend sein.“ | |
Die Ämter seien nur selten bereit, für Integrationsmaßnahmen, etwa | |
Alphabetisierungskurse zu zahlen, klagt Beygo. Eine Ausnahme sei das BAMF, | |
das auf Antrag die Teilnahme an Integrationskursen bewillige. „Aber da | |
fehlt es oft an Plätzen.“ Zu anderen Kursen sagten die | |
Sachbearbeiter:innen oft: „Das lohnt sich nicht, die sind ja eh bald | |
wieder weg“ oder „Die haben doch 'nen Job, das reicht doch“. So lasse man | |
das Potential der Menschen brach liegen. „Man investiert nicht in ihre | |
Entwicklung und Chancen.“ | |
8 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/razzia-duisburg-verdacht-sozialb… | |
[2] /Angeblicher-Betrug-mit-Kindergeld/!5531293 | |
[3] https://www.bagfw.de/ | |
[4] https://www.grundrechtekomitee.de/details/offener-brief-an-bmas-und-ba-zum-… | |
[5] http://www.foerdervereinroma.de/ | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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