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# taz.de -- Bericht zu antiziganistischen Vorfällen: „Nur die Spitze des Eis…
> Die Zahl gemeldeter Fälle von Antiziganismus hat sich seit dem Vorjahr
> verdoppelt. Doch das Dunkelfeld ist weiterhin sehr groß, sagt die
> Meldestelle.
Bild: Mehmet Daimagüler, Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus…
Berlin taz | „Wo bleibt der gesellschaftliche Aufschrei?“, fragt Mehmet
Daimagüler am Montagmorgen im Haus der Bundespressekonferenz. Der
Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung sitzt mit auf dem Podium, als
die Melde- und Informationsstelle Mia den [1][Jahresbericht zu
antiziganistischen Vorfällen im Jahr 2023] vorstellt. Die Zahlen haben sich
[2][im Vergleich zum Vorjahr von 621] auf 1.233 Fälle beinahe verdoppelt.
Und das sei nur die Spitze des Eisbergs, betont Silas Kropf,
Vorstandsvorsitzender von Mia. „Es gilt, das Dunkelfeld weiter zu
erhellen.“
Es geht um 2023, doch Daimagüler blickt erst mal in die Gegenwart und zählt
Vorfälle der vergangenen Wochen auf: Gerade erst sei [3][in Flensburg ein
Mahnmal zum Gedenken an im Nationalsozialismus deportierte Sinti und Roma
beschädigt] worden. Ein Denkmal in Neumünster sei wiederholt vermüllt und
das [4][Wahlplakat eines Sinto in Koblenz mit rechtsextremen
Gewaltfantasien beschmiert] worden. In Trier seien Hakenkreuze auf das Haus
eines Holocaust-Überlebenden gemalt worden.
Aber die Betroffenen würden alleingelassen. In diesem Jahr werde er mit
einer Delegation zum 80. Jahrestag der Räumung des sogenannten Z-Lagers in
Auschwitz-Birkenau Kränze niederlegen, so Daimagüler. „Ich empfinde das
teils als verlogen. Wir achten die Toten und verachten die Lebenden.“
Die aktuellen Fälle passen zu dem, was die noch junge Meldestelle in ihrem
erst zweiten Jahresbericht auflistet. Sie erfasst gegen die Minderheit der
Sinti und Roma gerichtete Vorfälle oberhalb wie unterhalb der
Strafbarkeitsschwelle. Der Bericht umfasst unter anderem 46 Bedrohungen, 40
Angriffe, 27 Sachbeschädigungen und zehn Fälle extremer Gewalt.
## Viele Fälle in Bildungseinrichtungen
Rund die Hälfte der Taten machen mit 600 Vorfällen „verbale
Stereotypisierungen“ aus, danach kommen 502 Fälle von Diskriminierung. Die
Verdopplung der Gesamtzahl lasse nicht auf eine entsprechende Zunahme von
Antiziganismus schließen. Vielmehr werde Mia bekannter und es seien
Meldestellen in zwei weiteren Bundesländern hinzugekommen.
Antiziganistische Erlebnisse wirken sich „ausnahmslos in verheerender Weise
auf die Betroffenen aus“, heißt es in dem Bericht. Menschen würden von
ihren Nachbarn systematisch beleidigt und teils physisch bedroht. Kinder
würden von Mitschülern wie auch von Lehrern „in übelster Form beleidigt und
gemobbt“.
Antiziganismus trete [5][in nahezu allen Lebensbereichen auf], betont
Kropf. Fast ein Fünftel der Fälle erfolgte in Bildungseinrichtungen. So
habe etwa eine Lehrerin ihre Schülerin, eine Romni, bei der Anmeldung fürs
Abitur gefragt, warum sie sich überhaupt die Mühe mache: „Sie werde ja
sowieso nicht lange bleiben und wahrscheinlich in einem Monat heiraten.“
Einen besonderen Schwerpunkt legt der Bericht für das Jahr 2023 auf das
Thema Polizei. Für etwa ein Viertel der Diskriminierungsfälle seien
Behörden verantwortlich, so Kropf. Zentral seien Ausländerbehörden und
Jobcenter. In vielen Fällen seien aber auch Polizeibeamte beteiligt,
darunter sogar drei Fälle extremer Gewalt.
## Schwerpunkt: Polizei
Bei einem Polizeieinsatz wegen Beschwerden über Lärm in einer Unterkunft
für Geflüchtete etwa hätten Polizeibeamte einen Familienvater aus für die
Anwesenden nicht ersichtlichen Gründen zu Boden geworfen und fixiert. Dann
sei ein Polizeihund auf ihn losgegangen und habe mehrfach zugebissen. Der
Betroffene musste im Krankenhaus behandelt werden und trug physische wie
psychische Spuren davon.
Kropf berichtet von zahlreichen Fällen, in denen die Polizei
unverhältnismäßig gehandelt habe. Viele Sinti und Roma gerieten „sehr
häufig in Polizeikontrollen, in denen sofort ihre Habseligkeiten ohne
konkreten Verdacht durchsucht oder sie wegen ihres Nachnamens nach ihren
Verwandtschaften befragt werden“, sagt er.
Betroffene würden oft in ihrer Opferrolle nicht ernst genommen, stattdessen
werde ihnen selbst mit Misstrauen begegnet. Das habe Folgen, betont
Daimagüler: Immer wieder berichteten ihm Mitglieder der Minderheit, dass
sie antiziganistische Vorfälle gar nicht anzeigten. „Menschen aus der
Community haben ein geringes Vertrauen in die Behörden.“
Der Bericht mache dringenden Handlungsbedarf deutlich, so Kropf. So brauche
es etwa „tiefgreifende Maßnahmen“, um Antiziganismus bei der Polizei
entgegenzutreten. Und die Arbeit von Mia müsse auch nach Ende der ersten
Förderperiode, die Ende des Jahres ausläuft, abgesichert werden.
## Aufruf zum Handeln
Von einer „besorgniserregenden Entwicklung“ spricht mit Blick auf den
Bericht, aber auch den zuletzt bei den Europawahlen deutlich gewordenen
Rechtsruck, der Vorsitzende des Zentralrats deutscher Sinti und Roma.
„Wenn Menschen [6][in den Medien immer noch sortiert werden], wenn ihre
Abstammung von Behörden erfasst wird, dann ist das ein Zeichen für nicht
vorhandenes demokratisches Handeln“, so Romani Rose. „Angesichts der
historischen Verantwortung Deutschlands ist die Politik aufgerufen, diesen
Bericht nicht nur zur Kenntnis zu nehmen – sondern sie muss alle Bereiche
der Handlungsmöglichkeit ausschöpfen, um Antiziganismus zu bekämpfen.“
17 Jun 2024
## LINKS
[1] https://www.antiziganismus-melden.de/2024/06/17/melde-und-informationsstell…
[2] /Sintizze-und-Romnja-in-Deutschland/!5960763
[3] /Denkmal-fuer-Sinti-und-Roma-zerstoert/!6013883
[4] /Antiziganistische-Gewalt/!6014216
[5] /Antiziganismus/!6000386
[6] /Journalistin-ueber-Sinti-und-Roma/!6000345
## AUTOREN
Dinah Riese
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