# taz.de -- Soziologe über Wahlen im Osten: „Bei den Jungen habe ich Hoffnun… | |
> Viele Ostdeutsche wissen genau, wie man der rechten Unterwanderung | |
> begegnet, sagt der Soziologe Daniel Kubiak. Ihnen müsse man zuhören. | |
Bild: The kids are alright: Drei junge Leute beim CSD in Bautzen | |
taz: Herr Kubiak, vor den Wahlen in Sachsen und Thüringen haben Sie | |
getwittert: „Ich hoffe, dass die Demokratie diese Wahlen übersteht“. Hat | |
sie sie überstanden? | |
Daniel Kubiak: Kurzfristig: Es hat eine demokratische Wahl ohne größere | |
Störungen stattgefunden. Langfristig können wir es heute noch nicht | |
beantworten. Entscheidend wird zum einen sein, ob es in beiden Ländern | |
gelingt, eine stabile Regierung zu bilden. Zum Anderen kommt es darauf an, | |
was die Wahl für die Zivilgesellschaft bedeutet – bekommen Projekte | |
weiterhin Förderung, steigt die Bedrohungslage für Menschen, die sich | |
engagieren, trauen sie sich weiter, sich öffentlich gegen Rechts zu | |
positionieren – und sind es noch genug, die das tun? Ich war im Sommer auf | |
dem CSD in Angermünde, dort waren gerade einmal 48 Leute. | |
taz: Aber sind nicht gerade die [1][CSD]s ein gutes Beispiel dafür, wie | |
sich auch der Osten in Teilen wandelt hin zu einer freien, pluralen | |
Gesellschaft? Vor fünf Jahren gab es noch keine CSDs in Angermünde, Bernau, | |
Plauen oder Bautzen. | |
Kubiak: Ja, wobei ein CSD in der ostdeutschen Provinz anders funktioniert | |
als in Berlin. In Berlin feiert ein CSD das Thema sexuelle Vielfalt, in | |
vielen Orten in Ostdeutschland tun CSDs das auch, aber sie sind außerdem | |
als Zeichen gegen Rechtsextremismus entstanden, oft aus einer prekären | |
Situation heraus. Mehrere gesellschaftliche Organisationen mit | |
unterschiedlichen Zielen schließen sich zusammen und treten als die | |
progressive Zivilgesellschaft auf, weil sie einzeln nicht durchdringen. | |
taz: In Thüringen haben 38 Prozent der 18- bis 24-Jährigen AfD gewählt. Wie | |
erklären Sie sich das? | |
Kubiak: Junge Leute sind eher bereit, nicht die etablierten Parteien zu | |
wählen, und sie wechseln auch häufiger zwischen den Parteien. Bei den | |
letzten Bundestagswahlen haben junge Leute vor allem die Grünen und die FDP | |
gewählt, jetzt steht die AfD für das Anti-Establishment. Das liegt unter | |
anderem daran, dass jüngere Menschen stärker dafür empfänglich sind, welche | |
Themen gesellschaftlich und medial verhandelt werden. Das war bei dieser | |
Wahl ganz klar das Thema Migration. Und dann kommt dazu, dass wir eine | |
tradierte Identifizierung der jungen Generation mit dem eigenen | |
Ostdeutschsein beobachten. | |
taz: Woher kommt diese junge Ostidentität? | |
Kubiak: Daher, wie über den Osten gesprochen wird. Der Osten gilt häufig | |
als der abgehängte Teil Deutschlands. Es geht um Abwertungserfahrung, um | |
die Veränderungen im Osten, es werden Witze darüber gemacht. | |
Es gibt eine Opfererzählung aus und über Ostdeutschland, die gar nicht der | |
Realität entspricht. Den meisten Leuten im Osten geht es heute materiell | |
viel besser als vor 30 Jahren. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, die Löhne | |
sind gestiegen. Und trotzdem gibt es Abwertungsnarrative auch bei jungen | |
Ostdeutschen, die die Umbrüche der 90er Jahre nicht selbst erlebt haben – | |
auch, weil es eine Partei gibt, die dieses Narrativ für sich missbraucht: | |
die AfD. | |
taz: Spielt der Rechtsextremismus der AfD keine Rolle dafür, dass junge | |
Menschen die AfD wählen? | |
Kubiak: Sicher, der Ostaspekt ist sowieso immer nur ein Puzzleteil für die | |
Erklärung von Wahlverhalten. Wir sehen ja in letzter Zeit ein Erstarken | |
rechter Jugendkultur, vor allem im Internet, etwa bei Tiktok. Aber man muss | |
auch beachten, dass die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen im Osten sehr klein | |
ist. Die sind nicht die, die den großen Erfolg der AfD erklären. Dafür ist | |
eher die Gruppe der 40- bis 60-Jährigen verantwortlich, und die wissen | |
genau, wen sie wählen und sind teilweise selbst aus der rechten | |
Jugendkultur der 1990er – den Baseballschlägerjahren – entsprungen. | |
taz: Die ostdeutsche Opfererzählung hält sich schon seit Jahren, trifft sie | |
doch einen wahren Kern – Ostdeutsche sind weniger repräsentiert, verdienen | |
im Schnitt weniger. Wie kommen wir da aber raus? | |
Kubiak: Ich glaube, es gibt mindestens eine Generation, bei der eine so | |
große Anstrengung über die vergangenen 35 Jahre geherrscht hat, dass man | |
dagegen kaum ankommt. Sie haben es gewuppt, aber sie wissen genau, zu | |
welchen biografischen Konditionen. Bei den Jungen habe ich Hoffnung. Die | |
kriegt man mit den vielen berechtigten progressiven Erzählungen über den | |
Osten. | |
Es gibt auch im Osten selbst verwaltete, progressive Projekte auf dem Land, | |
die Leute zusammenbringen. Die Fusion, das Festival in | |
Mecklenburg-Vorpommern, ist ein ostdeutsches Projekt. Seit den 90er Jahren | |
gibt es Leute im Osten, die genau wissen, wie man den Rechten begegnet. Sie | |
wissen, wie man damit umgeht, wenn der Jugendklub oder das Stadtfest von | |
Rechten unterwandert ist. Denen müssen wir zuhören, von denen können wir | |
lernen. | |
taz: Aber wieso werden sie nicht gehört? | |
Kubiak: Provokant heruntergebrochen: Weil das völkische Denken immer noch | |
alles andere überlagert. Die Täter aus dem eigenen Kreis sind anscheinend | |
weniger problematisch als die, die mir fremd sind. Schuld wird | |
externalisiert auf Migranten zum Beispiel. Was zurzeit passiert, erinnert | |
mich stark an die 90er Jahre: Nach den rechten Gewaltanschlägen in Rostock | |
und Solingen reagierte die Politik mit Asylrechtsverschärfung. Man dachte, | |
man könnte Rechtsextremismus bekämpfen, indem man die Zugewanderten | |
bekämpft. | |
In die Köpfe zu investieren, in politische Bildung, in Demokratieförderung, | |
das ist eben viel anstrengender und langwieriger. Die Demokratisierung | |
einer Gesellschaft schafft man nicht in fünf Jahren – das ist eine | |
Daueraufgabe. | |
taz: Die Nachwahlanalysen zeigen, dass die AfD vor allem dort gewählt wird, | |
wo ein großer Teil der lokalen Bevölkerung keinen akademischen Abschluss | |
hat. Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? | |
Kubiak: Es kann jedenfalls nicht die Lösung sein, noch mehr Akademiker | |
auszubilden. Sonst müsste man auch darüber sprechen, wie wir das | |
finanzieren, damit sich wirklich alle Leute ein Studium leisten können. | |
Trotzdem ist Bildung natürlich ein Schlüssel, nur muss man dann auch über | |
Inhalte reden. Sachsen hat bei Pisa sehr gut abgeschnitten, aber Mathe- und | |
Deutschkenntnisse allein reichen für eine funktionierende Demokratie eben | |
nicht aus. | |
taz: Bildung ist der Schlüssel? | |
Kubiak: Einer, ja. Leider spielten landespolitische Themen in diesem | |
Wahlkampf kaum eine Rolle. Insgesamt geht es immer viel um Gefühle, auch | |
bei Politikern. Wir als Wissenschaftler dringen da mit Fakten zu wenig | |
durch. | |
Mein Lieblingsbeispiel: Es gibt diese Erzählung, dass Geflüchtete den | |
Sozialstaat nur etwas kosten. Und es stimmt ja: Es kostet erstmal Geld, | |
Geflüchtete aufzunehmen. Die Zahlen zeigen aber auch, dass syrische Männer | |
mittlerweile sehr gut in den Arbeitsmarkt integriert sind. Teilweise ist | |
die Beschäftigungsquote unter syrischen Männern höher als der | |
Bundesdurchschnitt. Die Integration in den Arbeitsmarkt gelingt also und | |
damit auch die gesellschaftliche Integration. Es wurde geschafft. Die | |
Erzählung ist aber eine andere. | |
taz: Sie beschäftigen sich mit der postmigrantischen Gesellschaft in | |
Ostdeutschland. Kann man als Mensch mit nicht-weißer Hautfarbe überhaupt | |
noch in Schleiz in Thüringen wohnen? | |
Kubiak: Das tun ja ganz viele Menschen und viele wollen und können auch | |
nicht weg. Sie wollen ihre Heimat mitgestalten. Aber die Entscheidung des | |
Gehens oder Bleibens ist auch hier, wie allgemein im Osten, eine relevante. | |
Das ist problematisch, weil die Leute sich nicht sicher fühlen und | |
gleichzeitig Talente den Raum verlassen, die man eigentlich dort braucht. | |
Das ist auch ein spezifisches Thema für den schrumpfenden ländlichen Raum. | |
Geflüchtete verlassen in Westdeutschland viel seltener den ländlichen Raum | |
als Menschen in Ostdeutschland – nur etwa 29 Prozent blieben im Landkreis | |
Bautzen, im niedersächsischen Landkreis Vechta blieben 77 Prozent. Aber: | |
Nicht alle können gehen. Und diejenigen, die bleiben, brauchen besonderen | |
Schutz. | |
3 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Anne Fromm | |
Katrin Gottschalk | |
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