| # taz.de -- Die soziale Rentenkluft: Rentenreform trifft vor allem die Armen | |
| > Die Ärmeren arbeiten härter und sterben früher. Sie schaffen es schon | |
| > jetzt kaum bis zum offiziellen Renteneintrittsalter. Eine Anhebung träfe | |
| > sie doppelt. | |
| Bild: Wer besser lebt, lebt länger, weniger Privilegierte sterben früher | |
| Man muss kein Volkswirt sein, um die Schieflage zu erkennen, die entsteht, | |
| wenn Menschen länger leben und gleichzeitig weniger Kinder bekommen. Immer | |
| weniger Arbeitnehmer zahlen die Rente für immer mehr Rentner. Bei mehr als | |
| 115 Milliarden Euro Zuschuss für die Rentenkasse – immerhin ein Viertel des | |
| Bundeshaushalts – müssen Reformen der Rente als mögliche Sparmaßnahme zur | |
| Bekämpfung der immer weiter klaffenden Haushaltslöcher mitdiskutiert | |
| werden. | |
| Die naheliegende Lösung: eine [1][Anpassung des Renteneintrittsalters]. Ist | |
| es angesichts des finanziellen Drucks nicht einleuchtend – vielleicht sogar | |
| fair – wenn der „Arbeitsanteil am Leben“ konstant gehalten wird? Auch die | |
| Junge Union sieht mit ihrer aktuellen Revolte hier eine Chance, die Rente | |
| im Sinne der Generationengerechtigkeit zu retten. | |
| Wagt man jedoch den Exkurs in die Statistik, drängt sich der Eindruck auf, | |
| dass dieser Vorschlag Generationengerechtigkeit auf Kosten sozialer | |
| Gerechtigkeit erkauft. Denn die Forderung nach einer Anpassung des | |
| Renteneintrittsalters blendet entscheidende Details aus: Wir altern nicht | |
| alle gleich und werden auch nicht alle gleichermaßen älter. Langlebigkeit | |
| ist in Deutschland ungleich verteilt – entlang von Bildung, Einkommen, | |
| Beruf und Wohnort. | |
| Wer besser lebt, lebt länger, weniger Privilegierte sterben früher. So | |
| können sich die sozial Stärksten bei einem Renteneintritt mit 70 über | |
| durchschnittlich 18 Jahre Ruhestand freuen. Die sozial Schwächsten hingegen | |
| können nur mit etwa 10 Jahren rechnen. | |
| ## Überproportional viele Arme erreichen das Rentenalter nicht | |
| Gleichzeitig stagniert die Lebenserwartung der Ärmsten nicht nur, sie ist | |
| in den vergangenen Jahren sogar gefallen. Entsprechend weitet sich die | |
| soziale Kluft des Alterns immer mehr aus: Lag 2003 der Unterschied in der | |
| Lebenserwartung bei Männern zwischen den Privilegiertesten und den am | |
| wenigsten Privilegierten noch bei 5,7 Jahren, waren es 2020 schon 7,2 | |
| Jahre. Dieser Trend wird sich mit der zunehmend weiter | |
| auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich und privatisierten | |
| Gesundheitstrends wie dem Longevity-Hype in den nächsten Jahren vermutlich | |
| nur verschlimmern. | |
| Zu allem Übel kommt hinzu: Selbst die mittlere Lebenserwartung der | |
| Subgruppen vereinfacht noch zu stark und spiegelt nicht das ganze Ausmaß | |
| der Ungerechtigkeit wider. Denn die Lebenserwartung sozial besser | |
| gestellter Menschen weicht in der Regel nicht weit vom Durchschnitt ihrer | |
| Gruppe ab. Statistiker sprechen von einer „geringen Standardabweichung“. | |
| Dagegen kommt es unter weniger gut situierten Bürgern häufig vor, dass sie | |
| deutlich jünger sterben, als es ihre Lebenserwartung vorhergesagt hätte | |
| (große Standardabweichung). So ist die Unsicherheit, wann man verstirbt, | |
| unter weniger Privilegierten deutlich höher und die Rentenzeit damit | |
| weniger planbar als bei privilegierteren Bürgern. | |
| Diese mathematischen Übungen wirken abstrakt. In der Realität bedeuten sie | |
| aber, dass unter der niedrigsten Einkommensgruppe [2][jetzt schon fast | |
| doppelt so viele Menschen verfrüht versterben (also vor dem 65. | |
| Lebensjahr)] wie unter denjenigen mit den höchsten Einkommen ([3][bei | |
| Männern 27 Prozent gegenüber 14 Prozent, bei Frauen 13 Prozent gegenüber 8 | |
| Prozent]). | |
| ## Je weniger Einkommen, desto seltener private Vorsorge | |
| Eine Anhebung des Renteneintrittsalters würde die sozial Schwächsten | |
| entsprechend deutlich härter treffen als die sozial Stärksten der | |
| Gesellschaft. Überproportional viele Menschen dieser Gruppe werden die | |
| Rente nie erreichen oder einen unverhältnismäßig großen Teil ihrer | |
| potenziellen Rentenzeit verlieren. | |
| Hinzu kommt, dass die Abhängigkeit von der Rente entlang des gleichen | |
| Gefälles verteilt ist: Knapp 55 Prozent der weniger Privilegierten sind | |
| voll auf die Rente angewiesen und haben keine andere Altersvorsorge. | |
| Dagegen haben mehr als 80 Prozent der sozial Stärkeren noch eine | |
| zusätzliche Altersvorsorge. | |
| Eine Anhebung des Renteneinstiegsalters wirkt regressiv, sie belastet die | |
| Armen mehr als die Reichen. Durch eine Anhebung des Renteneintrittsalters | |
| würde zudem eine Gruppe besonders hart getroffen, die unter den sozial | |
| Schwächeren überproportional vertreten ist: Menschen, die körperlich | |
| schwere Arbeit leisten. Wer Jahrzehnte in der Pflege, auf dem Bau oder in | |
| anderen körperlich belastenden Berufen gearbeitet hat, kann irgendwann | |
| schlicht nicht mehr – und entscheidet sich oft trotz des hohen Risikos von | |
| Altersarmut für die Frührente. | |
| Diese Besonderheit könnte Ursache eines paradox wirkenden Trends sein: | |
| [4][Unter den ärmeren Bevölkerungsgruppen ist der Anteil derjenigen, die | |
| vorzeitig in den Ruhestand gehen, deutlich höher.] Andererseits ist diese | |
| Realität vielleicht auch ein Spiegel der bitteren Realität der | |
| Altersungerechtigkeit. Da wir zunehmend in unserer Bubble verkehren, | |
| erleben ärmere Menschen häufiger, wie Verwandte und Bekannte verfrüht | |
| sterben und dass ein ausgedehnter Ruhestand selten ist. Die Vorstellung, | |
| bis 67 oder gar 70 zu arbeiten, wirkt folglich nicht wie ein langfristiger | |
| Plan, sondern wie ein riskantes Glücksspiel. | |
| ## De facto droht eine deutliche Rentenkürzung für Ärmere | |
| Wer über die Reform der Rente diskutiert, sollte diese Unterschiede deshalb | |
| mitdenken. Das Anheben des Renteneintrittsalters kann eine ungewollte | |
| Umverteilung von Arm auf Reich zur Folge haben. Denn all jene, die einen | |
| gut bezahlten Bürojob haben und bis zum Schluss arbeiten können, bekommen | |
| eine 100-Prozent-Rente für einen höchstwahrscheinlich ausgedehnten | |
| Ruhestand. | |
| Wer jedoch seit seinem 16. Lebensjahr beispielsweise in der Altenpflege, im | |
| Handwerk oder in der Produktion arbeitet, schafft es in sehr vielen Fällen | |
| nicht ohne Abschläge in die Rente, kann sie weniger Jahre genießen oder | |
| erlebt den Ruhestand vielleicht nie. | |
| Was auf dem Papier als reiner Inflationsausgleich des Älterwerdens | |
| erscheint, bedeutet in der Lebenswirklichkeit für viele Menschen eine | |
| faktische Kürzung ihrer ohnehin knappen finanziellen Mittel und ihrer | |
| Lebenszeit im Ruhestand. | |
| 28 Nov 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Rentensystem/!6129973 | |
| [2] https://www.rki.de/DE/Themen/Gesundheit-und-Gesellschaft/Sozialer-Status/so… | |
| [3] https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/sozialbericht-2024/553331/m… | |
| [4] https://www.boeckler.de/de/magazin-mitbestimmung-2744-alt-werden-eine-frage… | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Portz | |
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