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# taz.de -- Putins Armee probte in Syrien: Déjà-vu in der Ukraine
> Russlands Armee hat in Syrien die Waffen und Strategien für den
> Ukrainekrieg erprobt. Der Westen hat Putins Testlauf übersehen.
Bild: Die zerstörte syrische Stadt Aleppo im Januar 2017
Wer im syrischen Bürgerkrieg genauer hingesehen hat, dem kommt das Drehbuch
des russischen Militärs in der [1][Ukraine] verstörend bekannt vor. Auch
dort wurden Städte eingekesselt und mit überwältigender Feuerkraft
beschossen, bis der Widerstand, im Falle Syriens teilweise nach Monaten,
gebrochen war. Auch dort wurden humanitäre Korridore und lokale
Waffenstillstandszonen zäh ausgehandelt und deren Schutz immer wieder
verletzt. Die Zermürbung der Einwohner der Kriegszone war Strategie.
Der russische Militäreinsatz an der Seite des syrischen Diktators Baschar
Assad wirkt fast wie die Blaupause für den Ukrainekrieg. Wenngleich es
einen entscheidenden Unterschied gibt. In Syrien ging es Putin darum, den
Wechsel eines Regimes zu verhindern, in der Ukraine geht es um das
Gegenteil: Die amtierende Regierung Selenski soll militärisch zu Fall
gebracht werden. Doch der Weg, diese unterschiedlichen Ziele zu erreichen,
geht in beiden Fällen über die Kontrolle von Gebieten, die es militärisch
zu erlangen gilt. In Syrien verlief dieser Weg über die Vorstädte von
Damaskus, die aus den Händen der Rebellen zurückerobert wurden, und endete
in der verheerenden Belagerung und Zerstörung von Aleppo.
In der Ukraine verläuft er heute über Charkiw, Mariupol bis wahrscheinlich
in die Hauptstadt Kiew. In Syrien ging es darum, den Diktator Assad aus
seiner bedrängten Lage zu befreien. In der Ukraine geht es darum, die
Hauptstadt zu erreichen, um eine Putin-genehme Regierung zu installieren.
Syrien stand Modell für die humanitären Korridore, über die auch heute
völlig erschöpfte ukrainische Zivilisten sich nun in Sicherheit bringen
können. Das verheißt für die Menschen in der in der Ukraine nichts Gutes.
Die von den Rebellen kontrollierten Orte in Syrien wurden mit Hilfe der
russischen Luftwaffe systematisch bombardiert und über lange Zeiträume
belagert, zerstört und ausgehungert. Wer dann die Städte verlassen wollte,
dem wurden humanitäre Korridore angeboten.
## Das einzige Angebot auf dem russischen Tisch
Damals endeten diese zunächst oft in den Gebieten, die vom Regime in
Damaskus regiert wurden. Wer dort ankam und irgendwie nach Opposition roch,
wurde abgegriffen und auf Nimmerwiedersehen weggeführt. Ein Grund, warum
auch damals viele zögerten, diesen Weg zu nehmen, ähnlich wie heute viele
ukrainische Zivilisten, die nicht nach Russland oder Belarus transportiert
werden möchten. Und so wie deren sicherster Weg heute in Richtung Westen
verläuft, lag der einzige „sichere“ Ausweg für die Menschen von Aleppo in
der Evakuierung in die nordwest-syrische Provinz Idlib, die weiterhin von
den Rebellen kontrolliert wurde.
Jene, die damals über diese Korridore ankamen, bilden heute das Gros der
drei Millionen Flüchtlinge, die dort in überfüllten Lagern sitzen. Die
Auswahl für die Menschen in Aleppo war damals ebenso brutal wie heute für
die Menschen in Mariupol oder Charkiw: sein Heim und sein Hab und Gut
hinter sich zu lassen oder zu riskieren, mit der Familie unten den Trümmern
seines Hauses zu enden. Oder wie es der damalige und noch heutige
[2][russische Außenminister Sergei Lawrow] bei der Belagerung von Aleppo
unumwunden formulierte: „Jene, die sich weigern freiwillig zu gehen, werden
ausgelöscht.“
Es ist heute wie damals das einzige Angebot auf dem russischen Tisch. Die
syrischen und russischen Militärs erreichten mit diesen humanitären
Korridoren ihr Ziel. Nachdem die Evakuierung – viele Syrer nannten es auch
Vertreibung – abgeschlossen war, wurden die belagerten Orte endgültig zum
Freiwild der Artillerie und Luftwaffe. Denn wer jetzt noch dort war, war
nach russisch-syrischer PR selbst schuld. Es dauerte dann meist nicht mehr
lange, bis der letzte Widerstand weggebombt war.
Die humanitären Korridore sind ein Paradox. Denn hier wird die Vertreibung
von Menschen als die einzige Möglichkeit präsentiert, zivile Menschenleben
zu retten. [3][Ein Kriegsverbrechen] wird begangen, um ein anderes zu
vermeiden. Das war damals in Syrien so, das gilt heute für die Ukraine.
Zumindest von jenen, die damals Aleppo in Richtung Idlib den Rücken
kehrten, um ihr nacktes Leben zu retten, ist bis heute praktisch niemand
wieder in die Stadt zurückgekehrt.
## Der Westen hat weggeschaut
Vielleicht waren wir zu sehr in unserem Eurozentrismus verfangen und haben
deswegen nicht hingesehen, als das russische Militär viele seiner modernen
Waffenarsenale, die es heute in der Ukraine einsetzt, in Syrien bereits
getestet hat: von den Brandbomben, der Streumunition bis hin zu den
Vakuumbomben, die damals gnadenlos in zivilen Wohngebieten eingesetzt
wurden. Die Modernisierung der russischen Armee und Luftwaffe fand
praktisch in Syrien statt. Aleppo und Idlib waren das Testgelände für den
Krieg in der Ukraine.
Vielleicht hat man alles nicht sehen wollen, weil die Lage in Syrien zu
verwirrend war. Da waren der Diktator auf der einen Seite und auf der
anderen eine Vielzahl von Rebellengruppen, darunter einige, die sich mit
militanten Islamisten wie al-Qaida identifizierten, und dann war da noch
der sogenannte „Islamische Staat“. Russland vermarktete sein brutales
Agieren in Syrien als Antiterrorkampf. In Wirklichkeit gingen die
russischen Militärs aber nie gezielt gegen den IS vor, sondern
bombardierten wahllos Krankenhäuser und Schulen und terrorisierten die
Zivilbevölkerung.
Das war kein Antiterrorkampf, es ging um die Rettung ihres Verbündeten
Assad, der ihnen eine Luftwaffenbasis und einen Mittelmeerhafen im
syrischen Tartus sicherte. Den Freibrief, den Putin damals in Syrien
bekommen hat, den löst er heute in der Ukraine ein. In dem Jahr, in dem
Aleppo in Grund und Boden bombardiert wurde, war Europa beschäftigt, mit
dem Brexit, der Flüchtlingskrise und dem wachsenden Rechtspopulismus.
Syrien war weit weg. Wer ahnte schon damals, dass Putin sein Militär für
den Einsatz mitten in Europa üben ließ.
10 Mar 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Karim El-Gawhary
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