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# taz.de -- WM im Flüchtlingslager: Spielen für den Traum
> Hunderttausende Kinder leben in Vertriebenenlagern im Nordwesten Syriens.
> Eine Hilfsorganisation lässt sie in 32 Teams gegeneinander kicken.
Bild: Vorbereitung auf den Turniereinsatz: Team Niederlande beim „Cup der Cam…
Idlib-Stadt taz | Die Stimmung ist ausgelassen, als die Kinder [1][das
offizielle WM-Lied „Arhbo“] anstimmen. Wie ein Echo hallt es aus dem
Publikum im Stadion von Idlib-Stadt wider: „Hallo, hallo, hallo, los
geht’s!“ Luftballons und Feuerwerkskörper steigen in die Luft, um den
Beginn des Turniers zu feiern und die Kindermannschaften willkommen zu
heißen.
Parallel zur echten Fußball-WM messen sich noch bis zum Tag des Finales in
Katar mehr als 250 Kinder in Idlib im Nordwesten Syriens bei einem „Cup der
Camps“. [2][Die Hilfsorganisation Violet] hat die 10- bis 14-Jährigen
zusammengebracht, allesamt entweder [3][aus den Flüchtlingslagern der
Region] oder Kinderarbeiter*innen aus Industriezonen in Idlib, die in
ihrem Alltag normalerweise Autos und Motorräder reparieren oder Schreiner-
oder Schmiedearbeiten erledigen.
„Ich habe vor drei Jahren die Schule verlassen und angefangen, in einer
Autowerkstatt zu arbeiten, um meiner Familie bei den Haushaltskosten zu
helfen“, erzählt der 13-jährige Orwa al-Rihani im Gespräch mit der taz.
Orwa arbeitet in der Industriezone von Sarmin, einer kleinen Stadt östlich
von Idlib-Stadt. Nun aber steht er stolz im Fußballstadion von Idlib-Stadt
auf dem Rasen. Mit seinem Team habe er drei Tore geschossen. „Wir haben
gewonnen“, sagt er.
Die Kinder kommen aus 25 verschiedenen Lagern und sieben Industriezonen. 32
Teams treten in Idlib gegeneinander an. Die Parallel-WM soll ein Licht
werfen auf die Situation von Kindern in Idlib. Gleichzeitig solle das
Turnier die physische und geistige Gesundheit der Kinder fördern und ihr
Selbstbewusstsein stärken, sagt Ko-Organisator Abdullah Kashkash, Mitglied
von Violet und seines Zeichens Fußballtrainer.
Der Nordwesten Syriens ist eine der Regionen des Bürgerkriegslandes, die
weiterhin nicht unter der Kontrolle des Assad-Regimes stehen. In Idlib
regiert eine Gegenregierung unter dem Namen „Salvation Government“, die als
politischer Arm der Gruppe Hai’at Tahrir al-Scham gilt, die in den USA wie
auch in der Türkei als Terrororganisation eingestuft ist.
## Stadion wiedereröffnet
Kurz vor der Eröffnung der WM hatte die Regierung das Stadion in
Idlib-Stadt nach jahrelanger Schließung wiedereröffnet. Militäraktionen des
syrischen Regimes und seiner Verbündeten, [4][insbesondere Russlands] und
Irans, haben im Laufe der syrischen Revolution zur Vertreibung von
Millionen Syrer*innen auch innerhalb des Landes geführt. [5][Fast zwei
Millionen Binnenvertriebene] leben heute in Lagern in Nordwestsyrien.
„Violet hat uns eingeladen, beim Cup der Camps mitzumachen“, erzählt Orwa,
„wir haben vor sechs Monaten angefangen, wöchentlich zu trainieren.“ Nun
ist er Teil des Teams Niederlande, das die Kinder aus der Industriezone
repräsentiert, in der Orwa arbeitet. Alle Mannschaften in Idlib spielen
unter dem Namen einer Nationalmannschaft, die auch in Katar vertreten ist.
Nur das Team Iran fehlt; stattdessen tritt eine Mannschaft „Freies Syrien“
an. Denn seit 2011 der Krieg ausbrach, stand Iran fest an der Seite des
Assad-Regimes, das bei vielen Syrer*innen – besonders bei den
Aufständischen und Vertriebenen in Idlib – verhasst ist. Teheran
unterstützte das Regime mit Waffen und Truppen, um die Revolution
niederzuschlagen, iranischen Streitkräfte bombardierten Zivilist*innen
und verübten zahlreiche Massaker.
„Ich wurde mit meiner Familie vor vier Jahren wegen der schweren
Bombardierung unseres Dorfes vertrieben“, erzählt der 15-jährige Abdullah
al-Fares, dessen Familie ursprünglich aus dem südlichen Umland von Aleppo
kommt und der nun im Team Senegal spielt. „Ich blieb anderthalb Jahre lang
im Lager, ohne eine Ausbildung zu erhalten. Dann öffnete die Schule. Aber
das Leben im Lager ist schwierig. Wir haben keinen Platz zum Spielen und es
mangelt an Essen.“
Für Kashkash, den Mitorganisator des Cups der Camps, ist eines der
Hauptziele des Turniers, die Kinder zu bestärken, ihre Träume zu
verwirklichen. Auch will er ihren Teamgeist wecken. Die Kinder sollen sich
besser in die Gesellschaft einfügen und die Gelegenheit bekommen, zumindest
für eine Zeit lang dem Vertriebenendasein und den Sorgen des Lagerlebens zu
entfliehen.
Die Spiele in Idlib sollen noch bis zum letzten Tag der echten
Weltmeisterschaft fortgesetzt werden. Wenn in Katar am 18. Dezember die
Finalisten gegeneinander antreten, werden auch in Idlib nur noch die beiden
besten Kindermannschaften übrig sein. Das Finale soll nicht im Stadion von
Idlib-Stadt ausgetragen werden, sondern direkt vor Ort in einem der
Flüchtlingslager, um die Situation der Lagerkinder in den Mittelpunkt zu
rücken.
13 Dec 2022
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=e8laLiWolGg
[2] https://violetsyria.org/
[3] /Vertrieben-in-Syrien/!5759119
[4] /Putins-Armee-probte-in-Syrien/!5836793
[5] https://reports.unocha.org/en/country/syria/
## AUTOREN
Moawia Atrash
## TAGS
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Syrien Bürgerkrieg
Lesestück Recherche und Reportage
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Trost.
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