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# taz.de -- Winter in Syrien: Selbst Nussschalen werden teurer
> Im Nordwesten Syriens leben Millionen Vertriebene in provisorischen
> Unterkünften. Viele können sich in diesem Winter das Heizen nicht
> leisten.
Bild: Nass und kalt: Jassim al-Hamud (l.) in seinem Flüchtlingslager in Idlib
Idlib taz | Gerade hat es wieder stark geregnet. Zwischen den Zelten hat
sich das Wasser gesammelt. Doch trotz der nassen Kälte spielen einige
Kinder zwischen den Pfützen. Immer lauter werden ihre Stimmen, die Stimmung
ist ausgelassen, obwohl nichts in diesem Lager sie warmhält.
„Unser Zelt ist sehr kalt, also gehen wir raus und laufen, um uns
aufzuwärmen“, erzählt Khaled al-Hamud. Wenn es stark regnet, hätten er und
seine Geschwister Angst, weil Wasser in ihr Zelt eindringt. Auch fürchten
sie, dass der Wind das Zelt fortreißen könnte. Khaled ist zwölf Jahre alt
und lebt seit vier Jahren in dem Vertriebenenlager in der Nähe der Stadt
Kafr Aruk im Nordwesten Syriens.
Weite Teile der Region Idlib stehen weiter nicht unter der Kontrolle des
syrischen Regimes in Damaskus, sondern werden von türkisch unterstützten
syrischen Oppositionsgruppen kontrolliert. Regimekräfte und ihr Verbündeter
Russland haben den Einfluss der syrischen Opposition auf Idlib und dessen
Umland beschränkt. Die Militäraktionen im Rahmen der Rückeroberung haben im
Laufe der Jahre der syrischen Revolution zur Vertreibung von Millionen
Syrer*innen aus ihren Städten und Häusern geführt.
Etwa zwei Millionen Vertriebene sammelten sich in Lagern nördlich von
Idlib-Stadt und Aleppo, wo sie den Bombenangriffen sowie dem Leben unter
der Herrschaft des syrischen Regimes entkamen. In Idlib regiert nun schon
seit Jahren eine Gegenregierung, die als politischer Arm der Gruppe Hai’at
Tahrir al-Scham gilt, die in den USA wie auch in der Türkei als
Terrororganisation eingestuft ist.
„Meine Familie und ich wurden 2019 wegen der schweren Bombardierung unseres
Dorfes im Süden von Aleppo vertrieben“, erzählt Khaleds Vater Jassim
al-Hamud. Damals hätten die Regimetruppen und Russland das Dorf so lange
„barbarisch bombardiert, bis wir gezwungen waren zu fliehen“. Jedes Jahr im
Winter macht der Familie nun die Kälte zu schaffen. Aktuell liegt die
Temperatur nachts knapp über dem Gefrierpunkt. „Wir schaffen es nicht,
ausreichend Heizmittel zu beschaffen“, sagt al-Hamud, „die Preise sind hoch
und wir haben nicht genug Geld, weil Arbeit fehlt.“
Die Preise für Feuerholz und anderes Heizmaterial seien seit vergangenem
Winter drastisch gestiegen. „Wir sparen manchmal an Lebensmitteln, um
Heizmaterial kaufen zu können“, sagt al-Hamud. Der Preis für eine Tonne
Brennholz liege mittlerweile bei 180 US-Dollar. Auch der Preis für ein
Barrel Diesel, mit dem viele Familien ihre Zelte beheizen, ist auf 160
Dollar gestiegen.
Eine Familie braucht im Winter rund zwei Tonnen Brennholz oder drei Barrel
Diesel. Mehrere hundert Dollar Heizkosten pro Winter sind enorm viel für
die vertriebenen Familien in Nordwest-Syrien, wo die meisten Familien ein
Einkommen von maximal 50 Dollar pro Monat haben.
## Abfälle und Plastik zum Heizen
Mit dem Problem ist Familie al-Hamud nicht allein. Mehr als 92 Prozent der
Familien in der Region könnten sich nicht genügend Heizmaterial für den
Winter sichern, [1][warnte] die Initiative Syria Response Coordinators
bereits im September. Letztes Jahr hatte die Zahl der Familien, die ihre
Unterkunft in den Lagern nicht heizen konnten, bei 78 Prozent gelegen.
Auch andere Zahlen, die die Initiative nennt, sind erschreckend: 61 Prozent
der Familien haben demnach bereits im Herbst versucht, Abstriche bei
Grundbedürfnissen zu machen, insbesondere bei Lebensmitteln. Die Preise für
die unterschiedlichen Heizmaterialien seien im Schnitt um 250 Prozent im
Vergleich zum Vorjahr gestiegen.
Einen enormen Preisanstieg beobachtet auch der Händler Ahmed al-Hamwi, der
in Idlib mit An- und Verkauf von Heizmaterialien sein Geld verdient. Er
berichtet von einer Verdopplung der Preise; sie würden sogar noch
ansteigen, schildert er der taz. Er habe beobachtet, dass die Menschen
zunehmend von Feuerholz auf günstigere Materialien auswichen – wohl
wissend, dass dies die Gesundheit gefährde. Al-Hamwi nennt Papier und
Pappe, Abfälle, Plastik und andere schädliche Stoffe.
Auch würden Schalen von Pistazien, Haselnüssen und Kerne von Aprikosen zum
Heizen verwendet, berichtet al-Hamwi. Allerdings hätten diese sich in den
letzten Jahren von Sekundärheizstoffen zu Hauptheizstoffen entwickelt. Die
gestiegene Nachfrage treibe nun auch deren Preise in die Höhe. Eine Tonne
Pistazienschalen, erzählt er, koste jetzt 320 Dollar. Im vergangenen Winter
lag der Preis noch bei 190 Dollar.
10 Jan 2023
## LINKS
[1] https://www.facebook.com/1967928126585232/posts/pfbid02Ck1EEaWCxY36q4zbFX5K…
## AUTOREN
Moawia Atrash
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