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# taz.de -- Kurdischer Kanton Afrin in Nordsyrien: Eine Bande durch die andere …
> In Syrien kontrolliert nun die militante islamistische HTS-Miliz den
> Kanton Afrin, dank türkischer Mitwirkung. Das könnte Assad in die Karten
> spielen.
Bild: Ein Kämpfer der Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) in einer Ruine bei Ale…
„Seit Tagen sind viele Menschen zu Hause. Sie dürfen ihre Wohnung nicht
verlassen. Die Leute können nicht auf den Feldern arbeiten, dabei ist
gerade Erntezeit von Oliven. Das ist ihre Haupteinnahmequelle.“ So
beschreibt [1][Kamal Sido] die Situation in Afrin, in Nordwestsyrien. Sido
ist Nahostreferent bei der Gesellschaft für Bedrohte Völker und in einem
Dorf rund 10 Kilometer von der Stadt Afrin entfernt geboren worden. Am
Donnerstag hat das extremistische Bündnis Ha’iat Tahrir al-Scham („Komitee
zur Befreiung der Levante, HTS) die Kontrolle über den kurdischen Kanton
Afrin, nördlich von Aleppo, übernommen.
„In dem Ort aus dem ich stamme, Kursehel, ist eine 75-jährige Frau getötet
worden, ein Geschoss hat ihr Haus getroffen. Eine Nachbarin starb
ebenfalls. Ein Kind ist verletzt. Und das sind nur die Informationen aus
einem Dorf; Informationen, die ich auch überprüfen kann.“ [2][Zurzeit]
greifen die Kämpfer die Stadt Kafr Janneh an, auf dem Weg ins weiter
nordöstlich gelegene Azaz.
HTS ist eine dschihadistische Gruppe, die den Großteil der nordwestlichen
Provinz Idlib kontrolliert. Die Vorläuferin von HTS, die al-Nusra-Front,
wurde 2011 gegründet, als Verbündete von al-Qaida innerhalb der Opposition
gegen das Assad-Regime. Ihr Anführer, Abu Mohammad al-Jolani, konnte
schnell eine leistungsfähige Organisation aufbauen, unterstützt durch Geld
aus dem Persischen Golf. Heute behauptet die HTS, sie sei völlig
unabhängig. Doch die US-amerikanische Regierung stuft HTS weiter als
„Vehikel“ von Al-Qaida in Syrien ein.
2018 übernahm die Türkei völkerrechtswidrig die Kontrolle über den
[3][kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrin], mithilfe der Syrischen
Nationalen Armee (SNA), einer von ihr gestützten Rebellengruppe. Bei der
„Operation Olivenzweig“ nutzte das türkische Militär unter anderem
[4][Leopard-2 Panzer aus Deutschland]. In ganz Nordsyrien sind seit der
türkischen Militäroffensive „Operation Friedensfrühling“ im Oktober 2019
Bombardements und Drohnenangriffe Teil des Alltags der Menschen.
Vertriebenen Kurd*innen wurde die Rückkehr in ihre Heimat und die
Rückgabe von Grundstücken untersagt, die von der SNA beschlagnahmt worden
waren.
Die HTS konnte nun die Kontrolle über den Kanton Afrin erlangen, weil ihr
eine Spaltung innerhalb der SNA nach der Ermordung des Medienaktivisten
[5][Muhammad Abdul Latif] und seiner schwangeren Ehefrau zu Gute kam. Sie
nutzte Gefechte zwischen den zerstrittenen SNA-Fraktionen aus, um ihren
Einfluss auszuweiten. Teile der SNA halfen der HTS sogar, indem sie Straßen
sperrten und Gebiete an sie übergaben. Am Donnerstag fielen schließlich die
Stadt Afrin und mindestens 26 weitere Städte und Dörfer im Südwesten des
Kantons in die Hände der HTS.
## HTS leistet kaum etwas für die Bevölkerung
Am Freitag zogen ihre Mitglieder durch mehrere Dörfer und Lager von
Binnenvertriebenen in Afrin, um ihre Macht zivil zu festigen. PR-Bilder
zeigten die Dschihadisten, wie sie mit Anwohner*innen redeten und Brot
verteilten. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation „Adopt a
Revolution“ beansprucht die dschihadistische Miliz zwar die Kontrolle über
die zivile Verwaltung, doch leistet sie kaum etwas für die Bevölkerung.
Kamal Silo bestätigt das: „Diesen Leuten darf man nicht vertrauen. Wir
wissen, was die in Idlib getan haben. Und die Menschen in Afrin kennen
Ha’iat Tahrir al-Scham noch als sie al-Nusra-Front hießen. Als sie auf den
Straßen, die von Afrin nach Aleppo führten, Kurden wegen ihrer ethnischen
Zugehörigkeit entführt haben. Kurdische Aleviten oder Jesiden wurden immer
wieder gekidnappt.“
Eine Quelle innerhalb der syrischen Opposition, die nicht namentlich
genannt werden möchte, [6][sagte der Deutschen Presse-Agentur,] dass sich
Mitglieder einiger SNA-Fraktionen aus der Stadt Afrin zurückgezogen hätten,
wobei die lokale Polizei und das Militär kampflos in ihren Hauptquartieren
blieben. Die Quelle fügte hinzu, dass die Übergabe gemäß eines Abkommens
erfolgte, das am Mittwoch während eines militärischen Sicherheitstreffens
in der Stadt Azaz geschlossen wurde. Offiziere des türkischen
Geheimdienstes und der Armee sowie Führer der Fraktionen, die Nordsyrien
kontrollieren, sollen daran teilgenommen und beschlossen haben, dass die
verschiedenen SNA-Fraktionen Afrin und sein Umland verlassen sollten.
Sido meint, dass die HTS kein wirklicher Gegner der Türkei sei. Die
Rivalität zwischen beiden Kräften sei vorgegaukelt. „Sowohl die Syrische
Nationale Armee als auch Ha’iat Tahrir al-Scham [7][werden von Ankara
unterstützt]. Die Türkei ist überall, der Luftraum in Nordsyrien wird von
ihr überwacht, es gibt türkische Basen dort. Ohne die Zustimmung der Türkei
hätte Ha’iat Tahrir al-Scham Afrin gar nicht angegriffen. Im Dorf meiner
Tante existiert eine türkische Militärbasis, da ist Ha’iat Tahir al-Schams
einfach vorbeimarschiert, das Militär hat keinen Widerstand geleistet.“ Für
die Menschen vor Ort mache die Übernahme keinen positiven Unterschied. „Es
sind alles Islamisten, eine Bande wird durch eine andere Bande ersetzt.“
Unterdessen reiste eine türkische Militärdelegation, darunter der
stellvertretende Innenminister Ismail Catakli, der Gouverneur von Gaziantep
und Offiziere des türkischen Militärgeheimdienstes, am Mittwoch in die
Städte Azaz und Al-Rai und traf sich dort mit Anführern der von der Türkei
unterstützten Rebellenfraktionen des östlichen Teil des Gouvernements von
Aleppo. Die Quelle aus der Opposition warnte, dass die HTS das nördliche
Umland Aleppos unter Kontrolle bekommen könnte.
„Weil Ha’iat Tahrir al-Scham aber offiziell als Terrorgruppe eingestuft
ist, könnten Assad und Putin die Gruppe unter dem Vorwand der
Terrorbekämpfung angreifen. Damit hätte Assad wieder die Hoheit über die
kurdischen Gebiete, unter indirekter Mitwirkung von Erdoğan“, spekuliert
Sido.
Dies hätte wiederum weitreichende Folgen für die Hilfslieferungen in den
Norden Syriens. Im Januar 2023 läuft das Mandat der Vereinten Nationen für
Lieferungen über Bab el-Hawa, den noch einzigen offenen Übergang an der
türkisch-syrischen Grenze, aus. Immer wieder versucht Russland als
Verbündeter von Machthaber Assad, [8][die Hilfslieferungen zu beenden] und
damit das syrische Regime zu festigen.
„Putin könnte sagen, dass das Gebiet in der Hand von Terroristen sei und
mit dieser Begründung Hilfslieferungen stoppen“, so Sido. Die Türkei, fügt
Sido hinzu, arbeite auch in der Afrin-Frage sehr eng mit Russland zusammen.
„Und die Türkei bekommt Rückendeckung von der Nato. Es gibt keine einzige
Verurteilung der Nato von den Drohnen-Morden der Türkei in Nordsyrien“,
kritisiert der Afrin-Experte.
15 Oct 2022
## LINKS
[1] https://twitter.com/SidoKamal?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7Ctwgr…
[2] https://www.mei.edu/blog/pragmatic-jihadist-or-opportunistic-warlord-htss-j…
[3] /Kurdisch-verwaltete-Region-in-Syrien/!5827362
[4] https://dip.bundestag.de/vorgang/einsatz-von-leopard-2-kampfpanzern-der-t%C…
[5] https://syriadirect.org/accountability-or-fall-syrian-national-armys-hamza-…
[6] https://www.middleeastmonitor.com/20221014-syrian-opposition-hayat-tahrir-a…
[7] https://www.mei.edu/publications/economics-hayat-tahrir-al-sham
[8] /Streit-um-UN-Hilfsgueter-fuer-Syrien/!5783758
## AUTOREN
Julia Neumann
## TAGS
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