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# taz.de -- Protest gegen Klimawandel: Kontrabass statt Kartoffelbrei
> Carlotta Sarina nutzt ihre Stimme und ihren Kontrabass, um auf den
> Straßen und den Bühnen Europas Menschen auf den Klimawandel hinzuweisen.
Bild: Carlotta Sarina singt über Fast Fashion, Konsumsucht und Klimawandel
Bologna taz | Lotta Sarina betritt die Bühne des Tanzstudios in einem
himmelblauen Zweiteiler mit weißen Punkten. Sie geht direkt aufs Publikum
zu und bleibt ganz vorne stehen, in der ersten Reihe bräuchte man nur die
Hand auszustrecken, um ihren langen Rock anzufassen. Vor ihr sitzen etwa
fünfzig Personen auf Holzstühlen und blicken auf die 21-Jährige mit den
langen, dunklen Locken.
Lotta Sarina zieht eine Blockflöte aus ihrer Tasche hervor. Sie wird doch
wohl nicht …? Das Publikum erstarrt. Manche weichen ein paar Zentimeter
zurück. Ungerührt pustet Lotta in das Instrument, schrille Töne erklingen.
Sie hält inne. „Nein, Lotta“, sagt sie, „das hat mein Musiklehrer auch
gesagt.“ Das Publikum atmet auf. „Er hat mir gesagt, ich soll lieber
singen.“ Und dann setzt Lotta zu „Bella ciao“ an, dem Widerstandslied aus
dem Zweiten Weltkrieg, das auch auf Klimademonstration gesungen wird.
Lotta Sarinas Stimme füllt den Raum bis an die weiß gestrichene Holzdecke.
Während sie singt, verwandelt sie sich mal in die talentierte Schülerin,
die der Musiklehrer von Volksfest zu Volksfest schleppt, mal in eine
Patriotin, die mit Pathos eine politische Hymne anstimmt, mal in eine
angehende Opernsängerin, die ihre Stimmbänder schwingen lässt.
Denn Lotta, eigentlich Carlotta, Sarina, ehemalige Studentin der
Musikhochschule in Mailand, will sich nicht auf eine einzige Sache
beschränken. An diesem Abend singt sie, spielt Kontrabass, erzählt und
schauspielert, vereint Kunst und [1][Klimaaktivismus].
## Musikerin aus Leidenschaft und Aktivistin aus Berufung
„Ich bezeichne mich als Musikerin aus Leidenschaft und Aktivistin aus
Berufung“, sagt sie nach der Aufführung. Sie sitzt im Schneidersitz auf dem
weißen Parkettboden, auf dem sie eine halbe Stunde zuvor ihre
„Detonazione“, ihre Explosion, dargeboten hat. Eine Musikerin, die mit
ihren Mitteln auf die Erderhitzung aufmerksam macht und dafür weite
Strecken durch Europa reist. Eine andere Protestform als die, sich auf
Straßen festzukleben.
Alles beginnt am 6. Juli 2022 in einem Kanu auf dem Rhein vor dem
Europaparlament in Straßburg. Lotta Sarina demonstriert zusammen mit
Fridays for Future und anderen NGOs gegen die Anerkennung von Erdgas und
Atomkraft als nachhaltig. Doch die Polizeiboote sind in kürzester Zeit da
und schleppen die Aktivist:innen in den Kanus ab.
„Aber es ist nicht wie im Film, wo sie dich in der einen Szene erwischen
und in der nächsten bist du schon im Gefängnis. Nein, dazwischen mussten
wir zwanzig Minuten ans Ufer paddeln. Es kam mir endlos vor.“ Die Polizei
ist von den Protesten der Aktivist:innen verärgert, erzähltsie, aber
Lotta Sarina will zeigen, dass sie mit ganzem Herzen dabei ist.
## Angst davor, auf der Straße zu singen
Also beginnt sie „Bella ciao“ zu singen, und zu ihrem Erstaunen stimmt der
Polizist im Polizeiboot vor ihr in ihren Gesang ein. Als sie am Ufer
ankommen, lobt er ihre Stimme und lässt sie gehen. „Das war meine
detonazione, mein Urknall.“
Kaum ist sie aus Straßburg zurück in ihrem Heimatort Salsomaggiore Terme in
der Nähe von Parma, beginnt sie, ihr Stück zu schreiben. Doch es gibt ein
Problem: „Ich hatte Angst davor, auf der Straße zu singen“, sagt Lotta
Sarina. Es seine eine Sache, mit dem Orchester auf der Bühne zu performen,
in einer Gruppe mit Dutzenden Musiker:innen und vor einem Publikum, das
sich bewusst für einen Konzertabend entschieden hatte.
Auf der Straße sei es ganz anders: „Jede Person, die weitergeht, ist ein
Schlag ins Gesicht. Mache ich etwas falsch? Singe ich nicht gut genug?“ Im
Umkehrschluss bedeutet das für sie: Weil sie Angst vor ihrem Heimatort
hatte, musste sie sich Größeres vornehmen. „Dann wäre danach alles
leichter.“ Sie plant eine Interrail-Europatournee, erster Stopp: Paris, vor
dem Eiffelturm. Dann Berlin, Prag und Wien.
## Fast Fashion, Konsumsucht und Klimawandel
Sie reist mit ihrem Kontrabass und einem Filmemacher, der das Abenteuer
dokumentiert, finanziert sich über Spenden. Wenn Lotta Sarina von ihrer
Reise spricht, kommt ein Wort immer wieder vor: „bello“. Die
Straßenmusikerin vor dem Berliner Dom, die für sie Platz machte, als sie
hörte, dass es ihr ums Klima ging? „Bello!“ Wie viele Leute für ihren
Kontrabass stehen blieben, obwohl es vor Straßenkünstler:innen nur so
wimmelte? „Bello!“ Die Vielzahl an veganen Optionen in Berliner Cafés?
„Bello, bello!“
Dabei ist ihr Anliegen ernst. „Detonazione“ erzählt von Klimawandel und
Fast Fashion, Umweltverschmutzung und Konsumsucht. Carlotta Sarina bricht
diese komplexen Themen auf einen inneren Konflikt in ihr herunter, zwischen
Carli und Lotta: Carli denkt an Aperitivi, Konzerte und Dates, während
Lotta Studien über den Klimawandel liest und vor der [2][1,5-Grad-Grenze]
warnt.
Carli möchte stets neue Outfits für ihren Instagram-Feed, Lotta erinnert an
die tausenden Todesopfer in den Textilfabriken in Bangladesch und Pakistan.
Sie untermalt ihre Erzählung mit Stücken am Kontrabass und Gesang. Lotta
Sarina singt „Million Reasons“ von Lady Gaga, „Libiamo ne’ lieti calici…
aus Verdis „La Traviata“ – und „Freedom“ von Beyoncé, während hinte…
eine Gruppe Tänzerinnen mit strengem Dutt und schwarzen Tops im Takt
marschiert.
## Die wahren Kriminellen sind die Staaten
Sie verlangt, die [3][Überschwemmungen in ihrer Heimatregion
Emilia-Romagna] eindeutig zu benennen: als Auswirkungen der Klimakrise.
„Worte prägen unser kollektives Bewusstsein, und wenn wir anfangen, von
Krise zu sprechen, fangen wir auch an, sie als solche zu behandeln.
Unwetter reicht nicht.“
Natürlich kennt sie die Vorwürfe, die Klimaaktivist:innen immer
wieder gemacht werden: zu laut, zu störend, zu destruktiv. Aber, sagt sie,
„welche Revolution hat jemals in Stille stattgefunden?“ Sie steht an der
Seite der Aktivist:innen der Letzten Generation, die für ihre Aktionen
als kriminell bezeichnet werden. Sie sagt: „Wir haben versucht, vor das
Europäische Parlament zu gehen, ich war dort! Aber es hat nichts gebracht,
niemand hat darüber gesprochen.“
Für sie sind die wahren Kriminellen die Staaten, die weiterhin in fossile
Brennstoffe investieren oder Kohlekraftwerke wiedereröffnen. „Und wenn die
einzige Möglichkeit, uns Gehör zu verschaffen, ist, Tomatensuppe auf ein
Gemälde zu werfen, dann werden wir das tun.“
Diese Aktionen sind umstritten, aber, sagt Lotta: „Seit [4][Letzte
Generation] und Extinction Rebellion mit zivilen Ungehorsam angefangen
haben, haben sich ihnen sehr viele Menschen angeschlossen. Es hat zu einer
starken Polarisierung geführt, aber es ist uns egal, ob wir geliebt oder
gehasst werden, wichtig ist, dass darüber gesprochen wird.“
Sie hat einen anderen Weg eingeschlagen. „Ich glaube, dass ich mit der
Musik mehr geben kann“, sagt sie. Der Titel „Detonazione“, Explosion, das
klingt nach Bomben, nach Millitanz. Dabei stehen am Ende des Abends nur
Menschen von Holzstühlen auf und gehen nach Hause. Aber sie wurden
durchgeschüttelt. Aufgerüttelt, vielleicht.
18 Jun 2023
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262
[2] /Neue-CO2-Uhr-auf-tazde/!vn5810221
[3] /Emilia-Romagna-nach-der-Flutkatastrophe/!5933264
[4] /Neue-Generation/!t5833405
## AUTOREN
Judith Eisinger
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