# taz.de -- Mineralkurort San Pellegrino: Der Charme vergangener Grandezza | |
> Als Mineralwasser ist San Pellegrino weltbekannt. Doch kaum jemand kennt | |
> den Ort und sein pompöses Grandhotel in den italienischen Alpen. | |
Bild: Reserviert für die Einheimischen – Brunnen im norditalienischen San Pe… | |
Das Erstaunlichste an den Menschen in San Pellegrino, den Sanpellegrinesi, | |
ist ihre Reaktion auf Tourist:innen. Wenn man mit der Verkäuferin im | |
Lebensmittelgeschäft, der Spaziergängerin in den Bergen oder dem Rentner | |
auf der Brücke ins Gespräch kommt, fragen sie alle: „Was bringt euch | |
hierher?“, und sind ehrlich überrascht, wenn man erklärt, dass man dort | |
Urlaub machen will. Ihr Erstaunen ist noch größer, wenn man verneint, wegen | |
der luxuriösen, modernen Therme im Ort angereist zu sein. Oder auch wegen | |
des berühmten Mineralwassers, dessen elegante grüne Flaschen in Restaurants | |
auf der ganzen Welt auf dem Tisch stehen. | |
Die Spaziergängerin, die auf den grünen Wiesen über dem ehemaligen | |
Grandhotel Vergissmeinnicht sammelt, überlegt einen Augenblick und schaut | |
auf die gegenüberliegende Bergkette, hinter der soeben die Sonne versunken | |
ist, und hinab ins [1][Brembo-Tal], aus dem man den Fluss rauschen hört. | |
„Recht habt ihr“, sagt sie, „wir sind hier aufgewachsen, wir sind uns gar | |
nicht bewusst, wie schön wir es haben.“ | |
Dabei war San Pellegrino Terme, unweit vom [2][norditalienischen Bergamo] | |
in einem Alpental gelegen, einst Treffpunkt der eleganten Gesellschaft aus | |
Mailand und darüber hinaus. Die Königinnen Margarethe von Italien und Elena | |
von Montenegro erholten sich hier, ebenso Nobelpreisträger:innen und | |
berühmte Regisseure. Für die noblen Gäste wurde ein majestätisches | |
Grandhotel direkt am Flussufer erbaut. Die Dimensionen des 1904 eröffneten | |
Hotels wirken unproportional für einen Ort mit nicht mal 5.000 | |
Einwohner:innen, der imposante Bau lässt das Tal plötzlich eng wirken. | |
Man kann nicht anders, als vor dem Gebäude stehen zu bleiben und die | |
Details des Dekors in sich aufzusaugen: Verschnörkelte Metalldekorationen, | |
steinerne Figuren, die die Balkone stützen, eine gigantische, metallisch | |
glänzende Kuppel im Zentrum des symmetrischen Daches. Dunkelrote Blumen auf | |
goldenem Grund sind auf die orange Fassade aufgemalt. Doch die ebenso | |
dunkelroten Fensterläden sind allesamt verschlossen. | |
## Weltläufigkeit vergangener Tage | |
Heute steht das Grandhotel leer. Das goldene Zeitalter der Kurstadt ist | |
vorbei, die Jugendstilbauten, die im ganzen Ort verteilt sind, versprühen | |
einen teils maroden, teils nostalgischen Charme. Dennoch scheint es, als | |
lebte die Weltläufigkeit vergangener Tage noch in den Genen der | |
Sanpellegrinesi weiter. Anders als in so manchem kleinen Ort in den Bergen | |
hat man hier nicht das Gefühl, als Fremde:r von misstrauischen Blicken | |
verfolgt zu werden. | |
Die Einheimischen sind offen für Gespräche, zum Beispiel Silvia aus dem | |
kleinen Lebensmittelladen neben dem Grandhotel, die mit leuchtenden Augen | |
von dem großen Jugendstilsaal mit Parkettboden im Erdgeschoss des Hotels | |
erzählt, während sie frischen Almkäse und Salami in Papier einschlägt. | |
„Wenn ich nur daran denke, kriege ich immer noch Gänsehaut“, sagt sie. | |
„Dabei sah es vor ein paar Jahren noch aus wie das Haus der Addams Family.“ | |
Tatsächlich wurden das Erdgeschoss und die Fassade in den letzten Jahren | |
einer Schönheitskur unterzogen, die Gemeinde hat sich der Renovierung | |
angenommen, um eine:n Investor:in für den Palast am Brembo anzulocken. | |
Seitdem wird das Erdgeschoss unregelmäßig für geführte Besichtigungen | |
geöffnet, wer als Besucher:in Glück hat, kann sich spontan anschließen. | |
Wer das Grandhotel in Zukunft weiterführen und was damit passieren soll, | |
steht in den Sternen. | |
## Eine weitere Lokalspezialität – Biscotto Bigio | |
Wer das Hotel verschlossen vorfindet und keine 50 Euro für einen Tag im | |
modernen Spa nebenan ausgeben will, kann einfach die Brücke vor dem Hotel | |
überqueren und sich dem zweitbekanntesten Produkt aus San Pellegrino Terme | |
widmen: der lokalen Keksspezialität Biscotto Bigio. „Bekannt“ heißt in | |
diesem Fall: „Wir verkaufen in der gesamten Lombardei und in Südkorea.“ Das | |
sagt Tommaso, und er muss es wissen. | |
Er bäckt mit zwei Kolleg:innen täglich 800 Kilo der halbmondförmigen | |
Gebäcke. Die wichtigste Zutat ist dabei die Butter, die man schon riecht, | |
bevor man in den mürben Keks hineinbeißt. Er riecht ein wenig nach Karamell | |
und Vanille, doch weder die eine noch die andere Zutat sind im Teig | |
enthalten. Das Geheimnis steckt in der Butter, 99,8 Prozent Fett hat sie | |
und kommt nicht etwa von den umliegenden Almen, sondern aus Frankreich. | |
„Diese französische Butter riecht intensiv nach Vanille“, erklärt Tommaso. | |
Die Butter für die Kekse sucht er immer wieder neu aus, manchmal kommt sie | |
auch aus Norwegen; es kommt darauf an, welche ihn am meisten überzeugt. | |
Schließlich gilt es, eine Tradition zu bewahren. Den Bigio-Keks gibt es | |
seit 1932. Er wurde von Luigi Giacomo Milesi, dem Großvater der heutigen | |
Hotelleiter:innen, erfunden. „Bigio“ ist die Abkürzung für „Luigi“. | |
Heutzutage ist Tommaso für neue Rezepte zuständig. Seine neueste Kreation | |
sind Kekse mit Salzkaramell, er hat aber auch schon [3][vegane Kekse] mit | |
Karitébutter entwickelt. | |
Zurechtgemacht auf der Caféterrasse | |
Auf der Terrasse des Café Bigio hat man freien Blick auf den Brembo und das | |
Grandhotel. An einem sonnigen Samstagmorgen geht es hier geschäftig zu: Es | |
treffen sich Rennradfahrer, die „due caffè e quattro biscotti Bigio“ | |
bestellen, ein paar Mediziner:innen von dem Kongress, der nebenan | |
stattfindet, und eine Gruppe Wochenendausflügler:innen aus Mailand samt | |
Pudel. Wer nicht in Rennrad- oder Motorradkluft steckt, hat sich | |
zurechtgemacht, die Damen tragen dunkle Sonnenbrillen und goldene Ohrringe. | |
In den Cafés und Restaurants trinkt man natürlich San Pellegrino, aber auch | |
Acqua Bracca oder Stella Alpina, die anderen Wassermarken aus dem | |
Brembo-Tal. Denn San Pellegrino ist nicht die einzige Quelle in der | |
Region, aber im Gegensatz zu seinen Konkurrenten wandte sich das | |
Unternehmen schon in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts mit | |
ausgefeilten Werbekampagnen explizit an eine mondäne, internationale | |
Kundschaft und erlangte so weltweite Berühmtheit. | |
Nach dem Kaffee lohnen sich ein paar Schritte am Fluss entlang zum | |
historischen Sitz des Thermalbads. Es ist das vielleicht marodeste und | |
melancholischste Gebäude im Ort. Oberhalb einer überdachten Terrasse mit | |
weißen Säulen prangt in verrosteten Buchstaben der Schriftzug „Acqua S. | |
Pellegrino“ unter einem ebenso verrosteten dunkelroten Stern. Dieser Stern | |
ziert bis heute das Etikett der San Pellegrino-Wasserflaschen. | |
Die Holztür am ehemaligen Eingang der Therme ist halb von einem | |
Blumenkübel mit zwei mageren Büschen verdeckt, die Rollläden sind | |
heruntergelassen, der Putz bröckelt. Auf einem von der Sonne ausgebleichten | |
Schild sind die Sehenswürdigkeiten des Orts eingezeichnet, es wird auf eine | |
App verwiesen, von der es online keine Spuren mehr gibt. | |
Wo einst Damen in langen Röcken und Herren in Anzügen aus feinstem Tuch am | |
Thermalwasser nippten, steht heute ein moderner Brunnen aus schlichtem | |
Edelstahl. Aus dem silbernen Wasserhahn fließt ununterbrochen Quellwasser, | |
darüber trägt ein weißes Schild mit dem charakteristischen roten Stern den | |
folgenden Hinweis: „Reserviert für die Einwohner von San Pellegrino Terme“. | |
Vielleicht wollen die Sanpellegrinesi ihre Schätze einfach für sich | |
behalten. | |
21 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Judith Eisinger | |
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