| # taz.de -- Politologin über soziale Ungleichheit: „Ich habe die Extreme ken… | |
| > Ungleiche Verteilung von Vermögen kennt Martyna Linartas aus ihrer | |
| > Familie. Ein Gespräch über Erben und Gerechtigkeit, Wahnsinn, Neid und | |
| > die AfD. | |
| Bild: „Ich spreche lieber von Rückverteilung, nicht von Umverteilung“, sag… | |
| ## taz: Frau Linartas, Sie haben die Wirtschaftselite in Deutschland und | |
| Mexiko befragt und ein Buch über Ungleichheit geschrieben. Wissen Sie | |
| jetzt, wie die Mächtigen ticken? | |
| Martyna Linartas: Die Wirtschaftselite ist keine homogene Gruppe. Die | |
| Mächtigen ticken unterschiedlich. | |
| taz: Was eint sie? | |
| Linartas: Niemand von ihnen [1][will die Vermögenssteuer]. | |
| taz: Das war zu erwarten. Gab es auch Ergebnisse, die Sie überrascht haben? | |
| Linartas: Ja, 80 Prozent der Akteure, mit denen ich gesprochen habe, | |
| glauben, dass die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen zu groß ist und | |
| den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet. Manche glauben, dass es die | |
| Demokratie aushöhlt, andere, dass es dem Leistungsprinzip widerspricht. | |
| Gegen die Vermögenssteuer sind alle, [2][bei der Erbschaftssteuer] ist das | |
| Bild aber anders. Ein Drittel der Befragten in Deutschland und Mexiko ist | |
| für eine progressive höhere Erbschaftssteuer. | |
| taz: Reiche scheuen oft die Öffentlichkeit. Warum haben die überhaupt mit | |
| Ihnen geredet? | |
| Linartas: Gute Frage. Ich hatte Glück. Und Privilegien. Ich habe 2018 als | |
| Studentische Hilfskraft im Bundestag für Annalena Baerbock gearbeitet. Joe | |
| Kaeser, damals CEO bei Siemens, hatte einen Termin bei den Grünen im | |
| Bundestag. Auch ein DAX-Chef darf nicht alleine im Bundestag rumlaufen. Ich | |
| habe ihn abgeholt und hatte eine Minute, um ihn auf dem Weg zum Büro zu | |
| überzeugen. | |
| Kaeser hatte in einem Interview die gesellschaftliche Spaltung kritisiert. | |
| Ich habe gesagt, dass ich dazu promoviere und Stimmen aus der | |
| Wirtschaftselite in die Wissenschaft tragen will. Er hat mir ein Interview | |
| zugesagt. Das war der Türöffner. Als Mitarbeiterin im Bundestag und nach | |
| dem Interview mit Kaeser, damals einer der wichtigsten Wirtschaftsbosse in | |
| Deutschland, ging es leicht. | |
| taz: Und warum haben die Mächtigen Mexikos mit Ihnen geredet? | |
| Linartas: Das war für mich noch einfacher. Mein Onkel war stellvertretender | |
| Finanzminister von Mexiko gewesen. Er hat mir Kontakte zur Wirtschaftselite | |
| verschafft. Ich habe zu Beginn meiner Promotionszeit als Doktorandin viele | |
| Anfragen geschrieben. Und keine einzige Antwort bekommen. Erst als mein | |
| Onkel mir half, hat es geklappt. Dann gab es wie in Deutschland einen | |
| Schneeballeffekt. Ich habe alle Interviewpartner immer um weitere zwei, | |
| drei Kontakte gebeten. Hat wunderbar funktioniert, war aber nicht mein | |
| Verdienst. | |
| taz: Wie kommen Sie zu einem mächtigen Onkel in Mexiko? | |
| Linartas: Meine Familie kommt aus Polen. Die Schwester meines Opas war in | |
| einer polnischen Musikgruppe, die nach dem Zweiten Weltkrieg international | |
| auftreten durfte. Meine Großtante hat den Enkel des ersten demokratisch | |
| gewählten Präsidenten Mexikos geheiratet und ist vor mehr als 60 Jahren | |
| nach Mexiko ausgewandert. Meine Familie ist ein Grund, warum mich | |
| Ungleichheit interessiert. | |
| taz: Inwiefern? | |
| Linartas: Ich habe die Extreme kennengelernt. Meine Eltern sind 1992 von | |
| Polen nach Deutschland ausgewandert. Meine Mutter war Physikerin, mein | |
| Vater studierte Philosophie, sie mussten aber in Deutschland bei null | |
| anfangen. Wir waren arm. Das erste Jahr haben wir im Obdachlosenheim | |
| gelebt. Ich erinnere mich nicht an die Zeit im Obdachlosenheim, aber daran, | |
| dass wir immer extrem gespart haben. Meine Großtante hat uns dann nach | |
| Mexiko eingeladen. | |
| Es war eine andere Welt. Ein riesiges Anwesen mit Salon, Kamin, meterhohen | |
| Räumen, Kunst an den Wänden. Ich habe mich als Achtjährige gefühlt wie eine | |
| Prinzessin in ihrem Schloss. Und ich habe die Armut auf den Straßen gesehen | |
| und mich als Kind und Jugendliche gefragt: Warum sind die einen so reich, | |
| die anderen so arm? Deshalb habe ich Politikwissenschaften studiert. Ich | |
| wollte Ungleichheit verstehen. | |
| taz: Wissen Sie jetzt, was Reichtum ist? | |
| Linartas: Schwierig zu sagen. Armut [3][ist in Deutschland definiert]. Wer | |
| weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens hat, ist arm. | |
| taz: Das Medianeinkommen teilt die Einkommen in zwei gleich große Hälften | |
| und liegt in der Mitte davon. Wer als Single weniger als 1.380 Euro netto | |
| im Monat zur Verfügung hat, gilt als arm. | |
| Linartas: Genau. Es gibt also eine eindeutige Definition von Armut, aber | |
| keine von Reichtum. Deshalb ist es schwierig, Reichtum zu untersuchen, | |
| geschweige denn zu problematisieren. Außerdem sind die Zahlen über Reichtum | |
| in Deutschland Schätzungen. Seit die Vermögenssteuer 1997 ausgesetzt wurde, | |
| fehlen Daten. Manche Wissenschaftler:innen wünschen sich eine | |
| Vermögenssteuer von null Prozent, einfach damit wir endlich brauchbare | |
| Daten haben. Wir wissen viel über Armut und wenig über Reichtum. [4][Die | |
| Überreichen] sind im Dunkeln. | |
| taz: Was heißt denn überreich? | |
| Linartas: Das ist das Pendant zu superreich. Ich verwende dieses Wort | |
| nicht, weil exzessiver Reichtum nicht super ist. Superreiche assoziiert man | |
| mit Superhelden. Das Wort Überreiche erfasst besser die problematischen | |
| Seiten der extremen Ungleichheit. Papst Pius XI. hat es schon 1931 | |
| verwendet. | |
| taz: Und ab wann ist man überreich? | |
| Linartas: Die Grenze zu Überreichtum ist nicht klar gezogen. Manche setzten | |
| sie bei einem Vermögen von 30 Millionen an, andere bei 50 oder 100 | |
| Millionen Euro. Es gibt in Deutschland knapp 4.000 Personen, die über mehr | |
| als 100 Millionen verfügen. Die reichsten Familien in Deutschland sind | |
| Boehringer und von Baumbach, die Besitzer des Pharma-Konzerns Boehringer | |
| Ingelheim. Ihre Namen sind weniger bekannt als die anderer Überreicher, | |
| weil sie erfolgreich dagegen geklagt haben, in der [5][Reichenliste des | |
| <i>Manager Magazins</i>] erwähnt zu werden. | |
| taz: Warum müssen wir wissen, wie Deutschlands reichste Familie heißt? | |
| Linartas: Nur wenn wir ihren Reichtum kennen, wissen wir, ob sie angemessen | |
| Steuern zahlen. Steuern sind ein zentrales Instrument der Demokratie. Ohne | |
| Steuern gibt es keine gute Infrastruktur, keine gute Bildung, kein | |
| vernünftiges Gesundheitssystem. Das aber sind Voraussetzungen für eine | |
| starke Wirtschaft. Die größten Nutznießer:innen des Systems sind nicht | |
| Menschen in Armut, es sind die Reichsten unseres Landes. | |
| taz: Die Steuerbelastung für Unternehmen ist in Deutschland höher als im | |
| OECD-Durchschnitt. Unternehmen und Reiche zahlen doch Steuern. | |
| Linartas: Tun sie, aber immer weniger. Überreiche haben nicht nur Geld auf | |
| dem Bankkonto, ihr Vermögen bilden vor allem die Betriebe. Diese | |
| Betriebsvermögen sind nur möglich durch einen starken Steuerstaat und viele | |
| Menschen in den Betrieben. Gigantische Vermögen sind also nie das Ergebnis | |
| einer Individualleistung, es sind gesamtgesellschaftliche Ergebnisse. | |
| Die meisten Millionäre und Milliardäre gibt es im Globalen Norden in | |
| Staaten, die hohe Steuern erheben – und in Infrastruktur, Bildung und | |
| Gesundheitssysteme investieren. Das Problem ist: Eigentlich sollen bei | |
| Steuern stärkere Schultern mehr stemmen. Das ist in Vergessenheit geraten. | |
| taz: Unternehmen zahlen Körperschaftssteuer und Ertragssteuer. So viel, | |
| dass Schwarz-Rot die Körperschaftssteuer jetzt senkt. | |
| Linartas: Die Steuerquote für Überreiche wurde in den letzten 30 Jahren | |
| mehr als halbiert, weil die Steuern auf Vermögen gesenkt wurden. Sprich, | |
| die Steuern auf ihr sogenanntes passives Einkommen gingen runter. Das | |
| Netzwerk Steuergerechtigkeit [6][hat gezeigt], dass Susanne Klatten, die | |
| reichste Frau Deutschlands, früher eine Steuerquote von 60 Prozent hatte. | |
| Jetzt sind es weniger als 30 Prozent. Sie zahlt gemessen an ihrem Einkommen | |
| prozentual weniger als eine Mittelschichtsfamilie. Wir hatten mal ein | |
| progressives Steuersystem. Dann kam der Neoliberalismus, der suggerierte, | |
| man müsse Reiche und große Konzerne immer weniger besteuern. | |
| taz: Viele Unternehmen klagen über zu hohe Steuern. Soll man das | |
| ignorieren? | |
| Linartas: Ja, das sollten wir. Senkt man die Steuern für Reiche und | |
| Großkonzerne, wächst nicht die Wirtschaft, sondern die Ungleichheit. Die | |
| Unternehmen investieren das Geld ja nicht automatisch, das sie nicht mehr | |
| als Steuer abführen. Wie neuere Studien zeigen, sind vielmehr | |
| Dividendenausschüttungen und die Sparquoten von großen Familienunternehmen | |
| gestiegen. | |
| Die Nachfrage schwächelt, die Spaltung zwischen Arm und Reich wächst. Wir | |
| senken seit Jahrzehnten Steuern für Vermögende. Die Trickle-down-Idee, also | |
| dass Steuersenkungen an der Spitze nicht nur den Reichen und Konzernen, | |
| sondern der gesamten Bevölkerung nutzt, ist gescheitert. Wir aber machen | |
| immer wieder das Gleiche und erwarten andere Ergebnisse. So hat Albert | |
| Einstein Wahnsinn definiert. | |
| taz: „Überreich“ betont das Negative. Sind Überreiche unmoralisch? | |
| Linartas: Die Frage der Moral ist eine für Philosophen. Als | |
| Politikwissenschaftlerin betone ich, dass zu viel Ungleichheit | |
| demokratiegefährdend ist. | |
| taz: In Deutschland gibt es eine extreme Ungleichheit bei Vermögen, aber | |
| gleichzeitig eine im Vergleich zu anderen Ländern stabile Demokratie. Ist | |
| es da nicht vorschnell zu behaupten, dass Vermögensungleichheit die | |
| Demokratie ruiniert? | |
| Linartas: Die Umfrageergebnisse der AfD sind leider real. | |
| taz: Die Leute wählen AfD nicht wegen Vermögensungleichheit, sondern wegen | |
| Migration. | |
| Linartas: Ja und nein. Es gibt internationale Studien, die zeigen, dass | |
| relative Abstiegsängste mit Furcht vor Migration zusammenhängen. Also: Mir | |
| geht es schlecht, aber für Geflüchtete ist Geld da. Untersuchungen zeigen, | |
| dass Sparpolitik, der Verlust von Vertrauen in etablierte Parteien, | |
| Abstiegsängste und das Erstarken von rechtsextremistischen Parteien | |
| zusammenhängen. Vermögensungleichheit ist natürlich nicht der einzige Grund | |
| für den Erfolg der AfD, [7][aber es ist ein wichtiger Faktor]. Außerdem | |
| beeinflussen Reiche maßgeblich politische Entscheidungen. Das ist auch | |
| gefährlich für die Demokratie. | |
| taz: In den USA sind mehr als die Hälfte der Abgeordneten im Kongress | |
| Millionäre. Geld ist im Wahlkampf wichtig. Bei uns ist das nicht so extrem. | |
| Kann man in Deutschland wirklich von einer Herrschaft des Geldes sprechen? | |
| Linartas: Wir sind eine Erbengesellschaft. Reichtum wird nicht in erster | |
| Linie erarbeitet, sondern in steigendem Maße vererbt. In einer Demokratie | |
| sollte es auf den Beitrag zur Gesellschaft ankommen – [8][in der | |
| Erbengesellschaft gilt die Spermalotterie]. Entscheidend ist nicht, was die | |
| Einzelnen leisten, sondern in welcher Familie sie groß werden. Genauer, | |
| welchen Vater man hat. Denn meist kommen große Erbschaften und Schenkungen | |
| von dieser Seite. Das ist ein feudales, monarchisches Prinzip. Es höhlt die | |
| Demokratie aus. Unsere Gesellschaft ähnelt wieder dem Kaiserreich. | |
| taz: Sie vergleichen ernsthaft die Bundesrepublik mit dem Kaiserreich? | |
| Linartas: Ja, denn in dieser Hinsicht sind wir genau da, wo wir vor über | |
| 100 Jahren schon mal waren. Die Erbschaftssteuer ist ein entscheidendes | |
| Mittel, um die Demokratie zu ermöglichen. Es war kein Zufall, dass der | |
| Reichsfinanzminister 1919 als Allererstes die Erbschaftssteuer erhöhte. Es | |
| sollte in der Demokratie nicht mehr entscheidend sein, in welche Familie | |
| man geboren wird. Jetzt sind wir wieder in einer Situation, in der die | |
| Lobby des großen Geldes immer mächtiger wird. | |
| Die Finanzlobby beeinflusst effektiv Steuerpolitik. Die Stiftung | |
| Familienunternehmen, die eigentlich Stiftung der deutschen Dynastien heißen | |
| müsste, [9][hat erfolgreich die letzten Steuerreformen mitgestaltet]. Die | |
| Privilegierung von Unternehmenserben geht auf ihren Einfluss zurück. Oder | |
| wie es der Leiter der Steuerabteilung der Stiftung nannte: Es war eine | |
| „Sternstunde der Politikberatung“. | |
| taz: Die Reichen werden immer mächtiger? Öffnen solche Sätze nicht die Tür | |
| zu Verschwörungsideologien, in denen Eliten im Geheimen alles manipulieren? | |
| Linartas: Nicht, wenn man präzise mit Fakten argumentiert. Nötig ist dafür | |
| wissenschaftliche Elitenforschung. Die ist in vielen Ländern, etwa Mexiko | |
| und den USA, etabliert, in Deutschland nicht. [10][Der Soziologe Michael | |
| Hartmann] hatte den einzigen Lehrstuhl zu der Thematik, an der Uni | |
| Darmstadt. Seit er emeritiert ist, gibt es hierzulande keinen Lehrstuhl | |
| mehr zur Elitenforschung. | |
| taz: Glauben Sie, dass Reiche in Deutschland Gesetze kaufen? | |
| Linartas: Die Familie von Baumbach aus Ingelheim schreibt natürlich keine | |
| Gesetze. Es läuft anders. Viele Politiker berücksichtigen die Interessen | |
| der Reichen, die via Lobbygruppen über gute Drähte in die Politik verfügen. | |
| taz: Manche halten die Debatte über Reichtum für neidgetrieben. Jene, die | |
| nichts haben, beneiden die, die viel haben und fordern mehr Umverteilung. | |
| Linartas: Das ist ein rhetorischer Kniff, um Menschen, die | |
| Steuergerechtigkeit fordern, in eine charakterlich verwerfliche Ecke zu | |
| stellen. Ich selbst bin auch privilegiert. Ich werde erben und habe auch | |
| ein gutes Einkommen. Ich beneide Überreiche nicht. Wenn man auf der Ebene | |
| von Moral reden will – okay, dann lasst uns gerne über Gier sprechen. | |
| taz: Sie haben für Ihr Buch 38 Akteure der Wirtschaftselite interviewt. Wie | |
| leben die – mit Helikopterlandeplatz und Gerhard Richter an der Wand oder | |
| unauffällig? | |
| Linartas: Die Gespräche in Mexiko fanden in beeindruckenden Büros, auf | |
| Golfplätzen, in feinen Restaurants oder in prunkvollen Villen statt. Da | |
| hängt dann auch mal ein Rafael Coronel. Coronel ist der mexikanische | |
| Gerhard Richter. Eine Welt der Superlative. Für Deutschland kann ich es | |
| nicht sagen, die allermeisten Interviews führte ich während Corona online. | |
| taz: In Deutschland werden pro Jahr bis zu 400 Milliarden Euro vererbt. Das | |
| Steueraufkommen aus der Erbschaftssteuer beträgt aber nur rund 10 | |
| Milliarden. Warum ist es in der Bundesrepublik so schwer, Erbschaften höher | |
| zu besteuern? | |
| Linartas: Die Erbschaftssteuer hat ein schlechtes Image, etwa weil sich der | |
| Staat beim Tod von Verwandten in Angelegenheiten der Familie einmische. Die | |
| Erbschaftssteuer ist deshalb für viele negativ konnotiert. Der Familiensinn | |
| ist in Deutschland sehr ausgeprägt. | |
| taz: Mit welcher Erzählung könnte man die Erbschaftssteuer populär machen? | |
| Linartas: Mit dem Blick aufs Ganze. Menschen, die für ihr Einkommen | |
| arbeiten müssen, zahlen in Deutschland hohe Steuern. Jemand, der erbt und | |
| damit ohne eigene Arbeit zu Vermögen kommt, zahlt hingegen niedrige bis | |
| keine Steuern. Es ist leicht zu verstehen, dass das nicht gerecht ist. | |
| taz: Wenn die Steuern für Reiche steigen, so das Gegenargument, dann | |
| wandern die Reichen aus und nehmen Unternehmen und Jobs mit. Ist da was | |
| dran? | |
| Linartas: Man kann niemand zwingen, in Deutschland zu bleiben. Aber diese | |
| Gefahr wird übertrieben, damit sich nichts ändert. Auch Milliardäre sind | |
| Menschen. Sie haben hier ihre Familie, ihre Netzwerke. Sie profitieren vom | |
| Rechtsstaat und der Infrastruktur. Ich glaube nicht, dass sie wegen ein | |
| paar Prozent mehr Steuern alles ins Ausland verlagern. Und es existiert | |
| seit 1972 in Deutschland eine starke Wegzugsteuer. Wenn Susanne Klatten, | |
| die reichste Frau Deutschlands, von jetzt auf gleich Deutschland verlassen | |
| möchte, müsste sie auf einen Schlag mehr als 6,5 Milliarden Euro auf den | |
| Tisch legen. Die Wirtschaftsministerin … | |
| taz: … Katherina Reiche … | |
| Linartas: … ein witziger Name in diesem Zusammenhang, hat der Stiftung | |
| Familienunternehmen deshalb empfohlen, gegen die Wegzugsteuer zu | |
| lobbyieren. Die Ministerin gibt Lobbyisten Tipps, wie sie ihre Arbeit | |
| machen sollten. | |
| taz: Die ärmere Hälfte der Gesellschaft erbt gar nichts, die oberen 10 | |
| Prozent erben den Löwenanteil. Der damalige Ostbeauftragte Carsten | |
| Schneider (SPD) hat mal vorgeschlagen, dass alle jungen Erwachsenen 20.000 | |
| Euro bekommen sollen, finanziert aus der Erbschaftssteuer. Was halten Sie | |
| von der Idee eines Grunderbes? | |
| Linartas: Die Idee ist viel älter. Sie stammt aus der französischen | |
| Revolution. Der Gedanke ist richtig. Ungleichheit würde ein Grunderbe | |
| merklich verringern, wenn es mindestens 20.000 Euro betragen würde. Manche | |
| Ökonom:innen sprechen sogar von 190.000 Euro. | |
| taz: Welches Instrument ist besser für Umverteilung geeignet – die | |
| Erbschaftssteuer oder die Vermögenssteuer? | |
| Linartas: Ich spreche lieber von Rückverteilung, nicht von Umverteilung. Es | |
| gibt da kein Entweder-oder. Steuergerechtigkeit bedeutet, die | |
| Erbschaftssteuer zu reformieren, die Vermögenssteuer wieder einzusetzen und | |
| die Mehrwertsteuer, die Ärmere überproportional belastet, zu senken. Gerade | |
| im progressiven Lager muss all das zusammengedacht werden. | |
| taz: Hoffen Sie da auf die SPD? | |
| Linartas: Auf die SPD, die Steuern für Unternehmen senkt und von | |
| [11][mafiösen Strukturen im Bürgergeld spricht], aber sich kaum darum | |
| kümmert, [12][hinterzogenes Geld aus Cum-Ex-Geschäften] zurückzuholen? | |
| Aktuell: nein. Und auch nicht auf Friedrich Merz, der mit einem geschätzten | |
| Vermögen von 12 Millionen Euro behauptet, zur oberen Mittelschicht zu | |
| gehören. | |
| taz: Und welche Akteure können dann Druck entfalten? | |
| Linartas: Vor zehn Jahren hat kaum jemand über Ungleichheit gesprochen. | |
| Mittlerweile gibt es viele renommierte Wissenschaftler:innen, die zu | |
| Ungleichheit forschen und auch politische Debatten anregen. Der Druck kommt | |
| von der internationalen Ebene und in Deutschland vor allem aus der | |
| Zivilgesellschaft. | |
| taz: Brauchen wir eine Revolution? | |
| Linartas: Ob Reform oder Revolution – darüber stritten sich schon vor über | |
| einhundert Jahren Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein. Auf jeden Fall muss | |
| der Wahnsinn aufhören. Wir brauchen etwas Neues. | |
| 6 Dec 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Wiedereinfuehrung-der-Vermoegenssteuer/!6030903 | |
| [2] /Gutachten-zur-Erbschaftsteuer/!6127719 | |
| [3] /Forscherin-zum-Streit-ueber-Armutszahlen/!6107266 | |
| [4] /Riesige-CO2-Emissionen/!6124754 | |
| [5] https://www.manager-magazin.de/unternehmen/reichste-deutsche-2025-das-sind-… | |
| [6] https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/infothek/fallstudie1_klatten/ | |
| [7] /Oekonom-ueber-Steuersystem/!6074728 | |
| [8] /Vermoegen-gerecht-verteilen/!5918092 | |
| [9] https://www.ardmediathek.de/video/panorama/stiftung-familienunternehmen-lob… | |
| [10] /Elitenforscher-Michael-Hartmann/!5540990 | |
| [11] /Zahlen-der-Jobcenter/!6099378 | |
| [12] /Serie-Die-Affaere-Cum-Ex/!6075598 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
| Anna Lehmann | |
| ## TAGS | |
| soziale Ungleichheit | |
| Steuern | |
| Wirtschaft & AfD | |
| GNS | |
| Schwerpunkt Künstliche Intelligenz | |
| soziale Ungleichheit | |
| Alleinerziehende | |
| Schwerpunkt Armut | |
| soziale Ungleichheit | |
| Bürgerversicherung | |
| Mütterrente | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gründerin über „Broligarchie“: „Boykott ist wieder eine Option“ | |
| Aya Jaff über Ungleichheit, die Macht der Tech-Elite und wie sie sich | |
| bekämpfen lässt. Europa hat die Werkzeuge – es fehlt nur die | |
| Entschlossenheit. | |
| Bericht zu sozialer Ungleichheit: Mehr Vermögen für alle und besonders für d… | |
| Vom allgemeinen Zuwachs in den letzten 30 Jahren profitieren in erster | |
| Linie die Superreichen. Ungleichheit zeigt sich nicht nur direkt beim Geld. | |
| Familien und Geldmangel: Arme haben Angst, schlechte Eltern zu sein | |
| Alleinerziehende und kinderreiche Familien in Armut haben oft das Gefühl, | |
| ihren Kindern nicht gerecht werden zu können, so eine Studie. | |
| Studie zu Wohnarmut: Wohnen macht mehr als 5 Millionen Menschen arm | |
| Offiziell sind in Deutschland 13 Millionen Menschen armutsgefährdet. Der | |
| Paritätische rechnet vor: Mit Blick auf steigende Mieten sind es noch viel | |
| mehr. | |
| Miete und Lebensmittel: Ärmere Haushalte zahlen mehr | |
| Immer mehr Menschen droht Armut wegen steigender Preise. Bei Ärmeren geht | |
| der Großteil des Einkommens für Lebensmittel und Wohnen drauf. | |
| Ungleichheit wächst: Superreiche immer reicher | |
| Global und national wächst die wirtschaftliche Ungleichheit. In Deutschland | |
| sind Einkommensungleichheit und Armutsquote auf einem neuen Höchststand. | |
| Krankenkassen gegen Bundesrepublik: Eine Finanzierung über Steuern ist gerecht | |
| Die Krankenkassen klagen gegen den Staat. Sie wollen nicht mehr länger auf | |
| Kosten für Sozialausgaben sitzen bleiben, für die der Bund nicht aufkommt. | |
| Rentenpaket der Bundesregierung: Her mit der Reichensteuer | |
| Das Kabinett hat am Mittwoch ein Rentenpaket beschlossen, aber ohne echte | |
| Reformen. Dabei gibt es genug Ideen, die Rente langfristig abzusichern. |