# taz.de -- Politologe über Parteien in Deutschland: „Der soziale Kitt ist a… | |
> Das Parteiensystem ist in der Krise. Gut überstehen werden diese nur die | |
> Grünen, die AfD, eventuell auch das BSW, behauptet der Politologe Jan | |
> Gerber. | |
Bild: Gelingt es noch, Führung aktiv zu gestalten? Mitglieder des Bundestags b… | |
taz: Herr Gerber, liest man Ihren Essay zu Ende, stellt man sich die Frage: | |
Gehört die Zukunft in Deutschland zwei Parteien? | |
Jan Gerber: Wenn Sie die AfD und [1][die Grünen] meinen, dann haben Sie | |
sicher recht. Beide Parteien werden die Krise der Gegenwart, die auch eine | |
Krise des Parteiensystems ist, wohl gut überstehen. Das Bündnis Sahra | |
Wagenknecht hat auch gute Chancen darauf, allerdings befindet es sich noch | |
in der Konsolidierungsphase. Da ist noch vieles offen. Gemeinsam ist ihnen | |
aber, dass sie die alltagsweltlichen Erfahrungen der meisten Menschen | |
deutlich besser bedienen als die SPD, die Linke oder die CDU. | |
Trotz der immensen programmatischen Unterschiede, die es gerade zwischen | |
AfD und Grünen gibt, setzen alle drei Parteien auf Emotionalisierung, | |
Polarisierung, Reflex und Beschleunigung. Das entspricht ganz dem | |
populistischen Zeitgeist. Populismus ist weniger Programm als Politikstil. | |
taz: Sie schreiben, populistische Parteien seien unter anderem | |
gekennzeichnet durch flache Hierarchien, programmatische Unverbindlichkeit, | |
Zwang zur Unverwechselbarkeit, einen saloppen Gestus und permanente | |
Neuerfindung. Wie kann man all diese Schlagworte zusammenfassen? | |
Gerber: Unser Bild politischer Parteien ist vom Kalten Krieg und von der | |
fordistischen Industriegesellschaft geprägt. Sie war durch große Betriebe | |
gekennzeichnet, halbwegs homogene Milieus, vereinheitlichte Produktion und | |
Konsumtion. Die Parteien, die diese Zeit geprägt haben – hierzulande vor | |
allem CDU und SPD –, waren die parteipolitischen Entsprechungen des | |
Fordismus. Ähnlich kollektiv wie in die Fabriken strömten die Leute in die | |
Parteien. Ihr schwerfälliger Apparat, die langwierigen | |
Entscheidungsprozesse und klaren Hierarchien entsprachen den Erfahrungen | |
des damaligen Arbeits- und Alltagslebens. | |
Allerdings verwandelte sich die Industriegesellschaft schon in den 70ern in | |
eine Dienstleistungsgesellschaft. An die Stelle der Imperative der | |
Industriegesellschaft traten neue, vor allem in den letzten 30 Jahren: | |
Flexibilität, permanente Erreichbarkeit, Einzigartigkeit, stetige | |
Neuerfindung. Mit dieser Veränderung von Produktion und Alltagsleben | |
erodierten auch die sozioökonomischen Grundlagen des alten Parteiensystems. | |
Die klassischen Parteien kamen den alltäglichen Erfahrungen immer seltener | |
entgegen. | |
taz: Hier kommen die populistischen Parteien ins Spiel. | |
Gerber: Sie entsprechen den Erfahrungen der inzwischen flexibilisierten | |
Dienstleistungsgesellschaft wesentlich stärker als die Parteien des | |
Industriezweitalters. | |
taz: Das Ende des Kalten Kriegs hatte langfristige Folgen für unser | |
Sozialsystem, schreiben Sie, für Sie einer der Katalysatoren für den | |
Aufstieg des jüngeren Populismus. | |
Gerber: Wie viele andere westliche Staaten basierte die alte Bundesrepublik | |
auf einem Sozialkompromiss. Dafür gab es viele Gründe, einer davon war | |
antikommunistisch. Man wollte sich im Vergleich mit dem Ostblock auch | |
sozialpolitisch als besseres System darstellen. Zumindest das war ab | |
1989/90 nicht mehr nötig. Deshalb begannen viele Länder, ihre Sozialsysteme | |
zu schleifen. | |
taz: In Deutschland wurde 2004 Hartz IV eingeführt. | |
Gerber: Genau. [2][Deutschland hatte sich zusätzlich mit der | |
Wiedervereinigung verhoben]. In Sachen Wirtschaftswachstum war es Ende der | |
90er das Schlusslicht der gesamten Eurozone. Man sprach vom „kranken Mann | |
Europas“. Auch vor diesem Hintergrund wurde das bisherige Sozialsystem | |
reformiert, im Grunde aber geschreddert. Bis dahin wurde signalisiert, dass | |
niemand zurückgelassen wird, zumindest nicht allzu weit. Seit Hartz IV gilt | |
das Gegenteil, das Piratenmotto aus „Fluch der Karibik“: „Wer zurückblei… | |
wird zurückgelassen.“ Damit wurde der soziale Kitt der alten Bundesrepublik | |
aufgelöst, eine enorme Panik vor dem eigenen Abstieg wurde freigesetzt. | |
taz: Ihre These ist, der AfD sei es gelungen, diese „diffuse Panik“ zu | |
bündeln. Ist das nicht etwas gewagt? Immerhin spricht die AfD nie von Hartz | |
IV. | |
Gerber: Das stimmt. [3][Die AfD] ist im Wortsinn eine asoziale Partei. | |
Denken Sie nur an die weitere Deregulierung des Arbeitsmarktes, die sie | |
fordert. Trotzdem konnte sie sich das Image einer Partei der | |
Besitzstandswahrung zulegen, das die CDU verloren hat. Image und Realität | |
fallen nicht nur bei Popstars auseinander. Allerdings hat die AfD das Image | |
der Besitzstandswahrung nicht direkt erworben, sondern in verschobener | |
Form, über den Umweg der Migrationspolitik. | |
taz: Sie spielen auf die sogenannte Migrationskrise an? | |
Gerber: Die Politik der AfD ist hochgradig projektiv. Sie tut so, als gäbe | |
es ohne Migration Friede, Freude, Eierkuchen. Das ist demagogisch. Trotzdem | |
hat die Kritik der Zuwanderung rationale Anteile, das macht die Debatte so | |
kompliziert. Was die Leute heutzutage emotional an die Nation bindet, ist | |
das Sozialsystem: Rente, Sozialversicherung, Bildung. Dieses System wurde | |
schon durch Hartz IV zerschossen, mit der Flüchtlingskrise kamen neue | |
Herausforderungen dazu. Am Ende verhalten sich die Gegner verstärkter | |
Zuwanderung kaum anders als der Deutsche Bauernverband, der Schutzzölle für | |
Rindfleisch aus Argentinien fordert. Es geht um Besitzstandwahrung und | |
Ausschaltung lästiger Konkurrenz. | |
taz: Vom Faschismusvorwurf gegenüber dem rechten Populismus nehmen Sie | |
Abstand. Warum? | |
Gerber: Ich halte ihn für falsch. Auch wenn der Populismus sicher anziehend | |
für Freunde autoritärer Lösungen ist, gibt es strukturelle und | |
programmatische Unterschiede. Strukturell: Der historische Faschismus und | |
der Nationalsozialismus waren Massenbewegungen und beruhten auf einem | |
Bündnis mit den alten Eliten. Im Unterschied dazu hat der Populismus weder | |
eine schlagkräftige Massenbasis noch setzen die alten Eliten in Wirtschaft, | |
Politik und Gesellschaft auf ein Bündnis mit ihm, zittern sogar vor ihm. | |
taz: Und programmatisch? | |
Gerber: Der permanente Kampf, der Krieg und die revolutionäre Umwertung | |
aller Werte, auf denen der Faschismus basierte, sind für die meisten | |
Populisten Horrorvorstellungen. Statt des jugendbewegten Selbstopfers, das | |
für Mussolini und Co. wichtig war, sehe ich eher betagten Selbsterhalt. Das | |
heißt nicht, dass der Aufstieg des Populismus keine Katastrophe ist. Man | |
kann ihr allerdings nicht wirkungsvoll begegnen, wenn man falsche | |
historische Analogien bemüht. | |
taz: Die Grünen haben in den 70ern und 80ern durch ihre Problematisierung | |
der negativen Symptome der Industriegesellschaft den Wandel zur | |
Dienstleistungsgesellschaft vorangetrieben. Die AfD ist nun so etwas wie | |
eine Antwort darauf, die in der Form des Neuen das Alte bewahren möchte. | |
Wie lässt sich diese Gemengelage auf den Punkt bringen? | |
Gerber: Der Kalte Krieg war ein weltanschaulicher Konflikt zwischen | |
Freiheit und Gleichheit. Im Westen vor allem ökonomisch bedingte Freiheit, | |
im Osten repressive Gleichheit. Dieser Gegensatz ist im Kalten Krieg | |
tendenziell mit dem Widerspruch von links und rechts verschmolzen. Die | |
neueren Parteien liegen oft quer dazu. Noch ist nicht klar, ob es einen | |
neuen großen Wertekonflikt geben wird und wie er aussehen wird. Gerade | |
scheint es aber so, als würde der Gegensatz zwischen materiellen und | |
postmateriellen Werten bestimmend werden. Das schlägt sich hierzulande auch | |
im Gegenüber von AfD und Grünen nieder. | |
taz: Nun befinden sich die traditionellen Parteien in einer fundamentalen | |
Krise. Zum einen ist ihre Glaubwürdigkeit verloren: Die SPD führte Hartz IV | |
ein, die CDU öffnete die Grenzen. Zum anderen scheint man – siehe Scholz | |
und Merkel – keine richtige Lust mehr zu haben, Führung aktiv zu gestalten. | |
Wie können diese Probleme behoben werden? | |
Gerber: Es gibt ein noch größeres Problem als den Verlust von | |
Glaubwürdigkeit. Union und SPD sind Parteien älteren Typs, so wie ich das | |
ausgeführt habe. Sie passen in ihrer bisherigen Form nicht ins Zeitalter | |
des Populismus, in dem wir leben. Wenn sie nicht untergehen wollen, müssten | |
sie sich dem Populismus stilistisch annähern. Das versuchen sie tendenziell | |
auch schon. Sollte es ihnen gelingen, dann wäre das aber kein wirklicher | |
Erfolg. Denn durch Emotionalisierung, Polarisierung, Reflex und | |
Beschleunigung wird nichts besser, im Gegenteil. Ich bin in dieser Hinsicht | |
also wenig optimistisch. | |
8 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jens Winter | |
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