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# taz.de -- Pionierwerk der Holocaustforschung: Das Unverstehbare rekonstruieren
> Léon Poliakovs „Vom Hass zum Genozid“ gilt als erste systematische
> Darstellung des Holocaust. Nun ist das Buch auf Deutsch erschienen.
Bild: Léon Poliakov lehrte an der Sorbonne und war Forschungsleiter am CNRS in…
Dieses Buch ist ein historisches Meisterwerk.“ So beginnt Ahlrich Meyers
Nachwort zur deutschen Erstausgabe von Léon Poliakovs „Vom Hass zum
Genozid“. Auch wenn überschwänglichem Lob zu misstrauen ist, hat der
Politikwissenschaftler Meyer recht. Poliakovs Buch, das von ihm übersetzt
und herausgegeben wurde, ist die erste große Studie über die Vernichtung
der europäischen Juden. Es setzte zugleich Maßstäbe für die spätere
Holocaustforschung.
Der Band wurde 1951 unter dem nur schwer ins Deutsche zu übertragenden
Titel „Bréviaire de la haine“ (sinngemäß: „Liturgie des Hasses“) in …
veröffentlicht. Das war zwei Jahre vor Gerald Reitlingers „The Final
Solution“ und zehn Jahre vor Raul Hilbergs Standardwerk „The Destruction of
the European Jews“.
Poliakov, der 1910 in Sankt Petersburg als Sohn jüdischer Eltern geboren
wurde, trieb die Frage an, warum ihn die Deutschen ermorden wollten: „Es
war sozusagen eine persönliche Angelegenheit“, erklärte er später.
Und so verweist Poliakov auf irrationale Traditionen der deutschen
Geistesgeschichte, die Bedeutung des Antisemitismus für die Konstitution
der Volksgemeinschaft und die apokalyptische Vorstellung eines jüdischen
„Gegenvolks“. In ihr ist die Idee der Vernichtung bereits angelegt.
## „Niemandsland des Verstehens“
Dennoch bleibt ein blinder Fleck. Poliakov war sich bewusst, dass er auf
die Frage nach den Gründen des Massenmords keine zufriedenstellende Antwort
finden kann. Es gibt diese Antwort nicht. Der Holocaust ist, wie [1][der
Historiker Dan Diner] einmal schrieb, ein „Niemandsland des Verstehens, ein
schwarzer Kasten des Erklärens“.
Im Zentrum des Buchs steht darum auch, wie [2][Hannah Arendt 1952 in einer
begeisterten Rezension] schrieb, weniger das „Warum“ als das „Wie“.
Poliakov rekonstruiert detailgetreu Abläufe, Befehlsketten und
Eigendynamiken des Mordprozesses. Sie waren bis dahin nur teilweise
bekannt.
Zugleich spricht er über Kompetenzstreitigkeiten zwischen den verschiedenen
Ämtern, die Kollaboration und die „wilde Vernichtung“, wie er es nennt.
Bevor der fabrikmäßige Massenmord in den Lagern begann, wurden Juden
systematisch in Wäldern und Schluchten erschossen.
Darüber hinaus verweist Poliakov auf den engen Zusammenhang zwischen dem
Holocaust und der sogenannten „Euthanasie“. Bei dieser systematischen
Ermordung behinderter Menschen 1940/41 wurde zum ersten Mal mit Gaskammern
experimentiert. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion war das Personal
federführend am Aufbau der Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka
beteiligt.
## Angesichts des existenziellen Erschreckens
Mit seiner Rekonstruktion des Vernichtungsprozesses trägt Poliakov all das
zusammen, was auch einige nachgeborene Historiker gern mit den Ursachen des
Holocaust verwechseln. Da ihnen das existenzielle Erschrecken abgeht, das
Poliakovs Buchs durchzieht, genügen ihnen kumulative
Radikalisierungsprozesse, kriegsbedingte Verrohung oder Habgier als
Erklärung.
Zugleich nimmt Poliakov Fragen vorweg, die erst später wieder für die
Forschung interessant wurden. Über die Verbindungen zwischen dem Holocaust
und der Ermordung behinderter Menschen ist trotz einiger hervorragender
Studien immer noch zu wenig bekannt. Dafür weiß man inzwischen, dass fast
die Hälfte der ermordeten Juden der „wilden Vernichtung“ zum Opfer fiel –
dem „Holocaust durch Gewehrkugeln“, wie es mittlerweile heißt.
Ebenso wie den meisten anderen frühen Holocaustforschern ging es jedoch
auch Poliakov nicht allein um die Dokumentation. Die Erforschung der Tat
war vielmehr eng mit der Verfolgung der Täter verbunden.
Poliakov hatte sich nach dem Fall von Paris der Résistance angeschlossen.
Bald gehörte er zu den Mitarbeitern des Centre de documentation juive
contemporaine, das schon 1943 in der Illegalität gegründet worden war. In
dieser Funktion sicherte er nach dem Abzug der Deutschen die von ihnen
zurückgelassenen Akten. Sie wurden der französischen Anklagevertretung bei
den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zur Verfügung gestellt. Dort
arbeitete Poliakov ab 1946 als Sachverständiger.
## Nürnberger Prozesse
Diesen Prozessen kommt eine bedeutende Rolle für die frühe
Holocaustforschung zu. Denn obwohl die Vernichtung in Nürnberg nicht direkt
verhandelt wurde, war sie deutlich präsent. Das ging auch auf die vielen
jüdischen Sachverständigen zurück, die sich wie Poliakov fragten, warum sie
ermordet werden sollten. Franz Neumann, der Rechtsexperte der Frankfurter
Schule, war ebenso an der Planung der Prozesse beteiligt wie Raphael
Lemkin, der Erfinder des Begriffs Genozid.
Dass der Holocaust in Nürnberg allgegenwärtig war, lag jedoch auch an
seiner Bedeutung für das Naziregime: Es gab, wie Poliakov schreibt, „keine
deutsche Behörde und kein Dossier, in denen sich nicht irgendwelche
Hinweise dazu finden ließen“. Deshalb gehören die Prozessunterlagen auch zu
den zentralen Quellen der frühen Holocaustforschung.
Dennoch hat Poliakov keine Tätergeschichte geschrieben. Im Unterschied zu
anderen Forschern erlag er nicht der Sogkraft der deutschen Akten. Er nahm
an keiner Stelle die Perspektive der Mörder ein. Stattdessen gelang ihm das
Kunststück, mit den Dokumenten der Täter an die Opfer zu erinnern, wie sein
Freund, der Philosoph Alexandre Kojève, einmal sagte. Auch das dürfte dazu
beigetragen haben, dass Poliakovs Buch erst so spät ins Deutsche übertragen
wurde.
21 Feb 2022
## LINKS
[1] /75-Geburtstag-des-Historikers-Dan-Diner/!5767952
[2] https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/plus233441724/Hannah-Arendt-ueb…
## AUTOREN
Jan Gerber
## TAGS
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