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# taz.de -- Memoiren von Léon Poliakov: Der Pionier der Holocaustforschung
> Von Léon Poliakov stammt der erste systematische Versuch, die Shoah zu
> dokumentieren. Nun liegen die Memoiren des Historikers auf Deutsch vor.
Bild: Poliakovs Geschichte des Antisemitismus ist eine Geschichte ohne Gesellsc…
Wer war Léon Poliakov? Seine Bücher haben komplizierte
Editionsgeschichten, sie wurden zu unterschiedlichen Zeiten sehr
unterschiedlich in Frankreich und Deutschland rezipiert. Poliakov hat mit
dem bekannten Bonmot kokettiert, man schreibe eigentlich immer nur ein
Buch. Aber dieses eine Buch ist er immer wieder unterschiedlich angegangen.
In seinen jetzt auf Deutsch erschienen Erinnerungen sortiert Poliakov sein
Leben und Werk.
Lesenswertes Kernstück dieses Bandes bildet der Text „L’auberge des
musiciens“, den er 1946 verfasste; aber für den er keinen Verleger mehr
fand. Poliakov ließ ihn liegen, bis er 1980, als neues Interesse am Leben
der Widerstandskämpfer erwachte, von Laure Adler aufgefordert wurde, noch
ergänzende Abschnitte seines Lebens vor und nach dem Krieg hinzuzufügen.
Die unterschiedlichen Tonlagen der Texte von 1946 und 1981 fallen auf, wenn
man sie 2019 in die Hand bekommt.
Die „Musikantenwirtschaft“ berichtet in fast pikareskem Stil über seine
Erfahrungen in Krieg und Résistance von 1940 bis 1944. Poliakov beklagt,
kein Balzac zu sein, um die atemberaubende Abenteuerlichkeit des Geschehens
festhalten zu können. Ohne Pathos führt er das bürokratische Chaos von
Krieg und Besatzung vor. Poliakovs Hauptbeschäftigung war, Juden mit
gefälschten Papieren zu retten. Besonders berührend liest sich der Bericht
vom Verstecken verfolgter Juden in hugenottischen Dörfern auf einem
Hochplateau in den Cevennen.
Poliakov bekennt immer wieder, aus einem assimilierten jüdischen Haus zu
stammen. Sein Vater hatte sich im Zarenreich so weit emporgearbeitet, dass
die Familie sich in Petersburg niederlassen durfte. Neben seinen
kaufmännischen Erfolgen leistete der Vater sich auch die Herausgabe von
Zeitungen. Politisch stand er den Kadetten um Miljukow nahe; nach der
Oktoberrevolution zog man sich nach Odessa zurück, erlebte Invasion,
Konterrevolution und Pogrome in der Ukraine.
Die Poliakovs gehörten zur „weißen Emigration“, die nach Westen zog. In
Berlin ging Léon von 1921 bis 1923 aufs Gymnasium; dem Schüler gefiel es
gut bei den nationalistischen Teutonen des Goethegymnasiums, die in seinen
Augen keineswegs alle Antisemiten waren.
## Misstrauen gegen politische Gruppierungen
Nach Ende der deutschen Hyperinflation zogen die Poliakovs aus eher
ökonomischen Gründen nach Paris, die neue Hauptstadt der russischen
Emigration. Léon blieb russisch identifiziert; er knüpfte eine Freundschaft
zu Alexandre Kojéve, der als russischer Emigrant Hegel nach Paris brachte.
Den berühmten Zionisten Wladimir Jabotinsky, der bei seinem Vater zu Gast
war, boykottierte Léon. Nach 1933 kam Poliakov mit der deutschen Emigration
in Berührung, weil sein Vater das legendäre Pariser Tagblatt finanzierte.
1936 wurde sein Vater durch eine bösartige Intrige aus der Zeitung
gedrängt. Léon kam gegen die hinterhältigen Machenschaften in der
antifaschistischen Migration nicht an.
Misstrauen gegen politische Gruppierungen schien Poliakovs Lehre aus der
Zwischenkriegszeit zu sein. Auch im späteren Untergrund legt er sich nicht
fest – auch nicht auf den jüdischen Maquis. In den Cevennen hatte Poliakov
Jacob Gordin kennengelernt, einen jüdischen Philosophen aus Petersburg.
Poliakov nennt ihn einen „universellen Geist“, dem er seine „jüdische
Bekehrung“ verdankt. Mit dem jüdischen Leben praktizierender Juden war
Poliakov bei Rabbi Schneerson bekannt geworden, der den wendigen jungen
Mann im Untergrund beschäftigte.
Schneerson war so weitsichtig gewesen, schon unter italienischer Besatzung
in Südfrankreich Dokumente der Verfolgung zu sammeln. Sie waren der
Grundstock für Poliakovs erste bedeutende Arbeit: „Brevier de la Haine“
(1951). Diese Geschichte aus Dokumenten ist eine Pionierstudie zur
Massenvernichtung der europäischen Juden.
## Geschichte ohne Gesellschaft
Poliakov besaß keine historische Ausbildung; er bezeichnete sich ironisch
als „Halbintellektuellen“ und blieb ein akademischer Außenseiter. Ganz auf
sich gestellt begann er mit seinem Großprojekt, der „Geschichte des
Antisemitismus“. Doch sein Unternehmen leidet an zwei Mängeln: Seine
Geschichte des Antisemitismus ist eine Geschichte ohne Gesellschaft. So
wird sein achtbändiges Werk zu einer gigantischen Zitatensammlung,
Poliakovs intellektuelles Rüstzeug von Karl Popper und Raymond Aron reicht
nicht aus, um eine Dialektik der Aufklärung zu entwickeln.
Poliakov erkennt die destruktive Tendenz der Aufklärung, ohne sie zugleich
als das Medium zu begreifen, in dem er agiert. Trotz seiner Aufnahme ins
renommierte Pariser Centre national de la recherche scientifique begann er
an seinen aufklärerischen Möglichkeiten zu zweifeln. Er wird zum Polemiker;
am bemerkenswertesten in seiner Anklage eines Antisemitismus, der sich im
nach 1967 modisch gewordenen Antizionismus verbirgt.
24 Jun 2019
## AUTOREN
Detlev Claussen
## TAGS
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