# taz.de -- Ortskräfte in Afghanistan: Fluchthelfer in Uniform | |
> Die Taliban erobern Afghanistan. Was wird aus den Helfern der | |
> Bundeswehr? Wie ein Offizier versucht, seinen Übersetzer nach Deutschland | |
> zu holen. | |
Bild: Die Taliban stehen schon in Kundus, die Ortshelfer der Bundeswehr sind in… | |
Die erste Nachricht kam im April, per Messenger. Ob es schon Pläne für die | |
Zeit nach dem Abzug der deutschen Truppen gäbe, wollte Abdullah Nazram* | |
wissen. Er würde in Deutschland jede Arbeit annehmen, schrieb er, die | |
Situation in der Heimat sei einfach zu gefährlich. Ob er, Michael von | |
Frankenberg, Näheres wisse? | |
Von Frankenberg kannte Nazram aus Afghanistan. Zwei Jahre war der | |
Bundeswehrsoldat dort stationiert, im Großraum Masar-i-Scharif. Als | |
Ausbilder hatte er die Pionierschule der afghanischen Armee mit aufgebaut | |
und den afghanischen Soldat:innen gezeigt, wie man Minen räumt und mit | |
schweren Maschinen Straßen und Brücken baut. | |
Nazram, heute 34, war sein Übersetzer. Nachdem sie sich 2017 das letzte Mal | |
gesehen hatten, hielten sie Kontakt, wünschten sich „Happy Ramadan“ und | |
„Frohe Weihnachten“. „Ich war in Afghanistan voll und ganz auf Nazram | |
angewiesen“, sagt von Frankenberg, „Daraus erwächst eine gewisse | |
Verantwortung.“ | |
Er begann zu recherchieren, suchte Informationen und | |
Ansprechpartner:innen. Dabei stieß er auf das [1][Patenschaftsnetzwerk | |
afghanische Ortskräfte], ein Zusammenschluss von Bundeswehrsoldat:innen, | |
die sich um die in Afghanistan verbliebene Ortskräfte kümmern, Menschen wie | |
Nazram. Von Frankenberg schloss sich dem Netzwerk an. | |
## Die Bedrohung wächst | |
Ende Juni zogen die letzten deutschen Truppen aus Afghanistan ab. [2][Die | |
Taliban sind auf dem Vormarsch], kontrollieren über die Hälfte der rund 400 | |
Bezirke im Land. 15 Provinzhauptstädte haben sie bereits eingenommen, | |
darunter Kundus, bis 2019 Stützpunkt der Bundeswehr. Die Bedrohung für die | |
Bevölkerung wächst, vor allem für Menschen wie Nazram, die als | |
Übersetzer:innen, Fahrer:innen oder Handwerker:innen für die | |
Ausländer gearbeitet haben – und in den Augen der Taliban damit | |
Verräter:innen sind. | |
Das Schutzprogramm für die sogenannten Ortskräfte lief im Juni an. Hatten | |
vorher nur diejenigen Anspruch auf eine Ausreise nach Deutschland, die in | |
den letzten zwei Jahren für die Bundeswehr tätig waren, fiel diese | |
Beschränkung. Nun können alle Menschen, die seit 2013 für die Bundeswehr | |
oder die Polizei in Afghanistan gearbeitet haben, einen Antrag stellen. | |
Kritiker:innen geht das nicht weit genug. Die Hürden seien zu hoch, die | |
Prozesse zu langsam und längst nicht alle Menschen Teil des Programms. Hier | |
kommt das Netzwerk ins Spiel. | |
Michael von Frankenberg, 49, sieht aus, wie man sich einen Soldaten in | |
Zivil vorstellt: das Haar an den Seiten abrasiert, durchtrainiert, er trägt | |
ein kurzärmeliges Hemd und Shorts. Spricht in kurzen, schnörkellosen | |
Sätzen. | |
Von Frankenberg hat einen Biergarten in Strausberg als Treffpunkt | |
vorgeschlagen. In der Kaserne wollte er sich nicht treffen. Er „wolle keine | |
schlafenden Hunde wecken“, sagt er. Das Patenschaftsnetzwerk sei zwar vor | |
allem ein Zusammenschluss von Soldat:innen, dennoch handelt es sich um | |
einen gemeinnützigen Verein, offiziell hat er nichts mit der Bundeswehr zu | |
tun. | |
Gegründet wurde das Netzwerk 2015 von Marcus Grotian, einem Hauptmann aus | |
Eberswalde, der 2011 in Kundus stationiert war. Nach einer Hirnblutung | |
wollte er seinem Leben eine neue Richtung geben, sich auf die wichtigen | |
Dinge konzentrieren. Und begann, sich für die Ortskräfte zu engagieren. | |
Über 210 Paten hat das Netzwerk heute, verteilt in ganz Deutschland. | |
Persönlich getroffen hätten sich die wenigsten, sagt Michael von | |
Frankenberg, „das würde sinnvolle Arbeitszeit kosten“. | |
Messenger, Whatsapp, SMS – die Anfragen kommen rund um die Uhr: Wo kann ich | |
meinen Visa-Antrag stellen? Wie komme ich nach Kabul? Kann meine Frau in | |
Deutschland einen Sprachkurs machen? Von Frankenberg prüft, ob derjenige | |
wirklich eine Ortskraft ist, fragt seine afghanischen Kontakte, ob sie ihn | |
kennen. Wenn ja, versucht er zu helfen: recherchiert Telefonnummern, sucht | |
Flug- und Zugverbindungen, gibt Tipps für den Alltag in Deutschland. Nazram | |
half er mit Kontakten für den Visa-Prozess in Afghanistan. | |
Der Arbeitsaufwand variiere, sagt von Frankenberg, zwischen zwei und 30 | |
Anfragen gebe es pro Tag. Der Job läuft neben seinem regulären Arbeitstag | |
als Oberstleutnant; manchmal bis spät nachts. „Uns rennt die Zeit davon“, | |
sagt von Frankenberg. „Die Taliban breiten sich immer weiter aus. Die | |
meisten Flüge ab Kabul sind ausgebucht. Und es ist unklar, wie lange noch | |
Flieger gehen.“ | |
Als Dolmetscher Abdullah Nazram im Juni weitere Detailfragen an Frankenberg | |
schrieb, hätten die Taliban bereits vor Masar-i-Scharif gestanden, erzählt | |
Nazram am Telefon. Ihm war klar: Als ehemaliger Bundeswehr-Mitarbeiter war | |
er in höchster Gefahr. Das Fernsehen berichtete täglich über Menschen, die | |
von „unbekannten bewaffneten Kräften“ ermordet wurden. Eine Chiffre, von | |
der Einheimische wüssten: Gemeint sind die Taliban. | |
Mindestens 333 ehemalige Ortskräfte sind laut | |
Bundesverteidigungsministerium bisher über das Programm nach Deutschland | |
gekommen, zusammen mit ihren Partnerinnen und minderjährigen Kindern sind | |
das 1.675 Menschen. Von Frankenberg schätzt, dass weitere 1.000 Menschen | |
bereits ein Visum haben und zusehen müssten, wie sie nach Deutschland | |
kommen. Schwierig, sagt er. Das weitaus größere Problem aber seien die, die | |
noch gar keine Papiere haben. | |
Bereits im April hatte die Bundesregierung zugesagt, ein Büro in Kabul und | |
eines in Masar-i-Scharif zu eröffnen, in denen Ortskräfte ihre Anträge | |
stellen können sollten. Beide blieben aber aus Sicherheitsgründen dicht. | |
Stattdessen mussten die Ortskräfte ihre Anträge im Büro der | |
[3][International Organization for Migration] (IOM) in Kabul abgeben. „Aber | |
wie“, sagt von Frankenberg, „sollten sie da hinkommen?“ Rund 400 Kilometer | |
trennen Masar-i-Scharif von der Hauptstadt. Viele Flüge wurden gestrichen, | |
der Landweg sei gefährlich, viele Städte von den Taliban umzingelt. | |
Seit zwei Monaten sei kein neuer Visa-Prozess angelaufen, sagt von | |
Frankenberg. Er schätzt, dass weitere 2.000 Menschen antragsberechtigt | |
wären, ihr Prozess habe noch nicht einmal begonnen. „Wo genau das Problem | |
liegt, lässt sich schwer sagen“, sagt er. Eigentlich sei die | |
Visa-Bearbeitung Sache der staatlichen Organisationen und nicht der IOM. | |
Diesen Donnerstag nun gab Außenminister Heiko Maas bekannt, künftig würden | |
die Visa in Deutschland ausgestellt, nicht mehr in Afghanistan. | |
Ein anderes Problem aber bleibt: Das Ortskräfteverfahren gilt für Menschen, | |
die für Bundeswehr, Polizei oder die Gesellschaft für internationale | |
Zusammenarbeit (GIZ) tätig sind oder waren. Aus Sicht von Frankenberg | |
greift das zu kurz. Was, sagt er, sei mit denen, die nicht direkt bei | |
diesen Institutionen, sondern bei Subunternehmern der Deutschen angestellt | |
waren? Menschen, die unter anderem Kleidung an die Soldaten verkauft haben. | |
Hinzu kämen die Mitarbeiter:innen der GIZ und des Auswärtigen Amts, | |
deren Arbeitsverhältnis länger als zwei Jahre zurückliegt. Anders als bei | |
Bundeswehrhelfer:innen gilt die Zweijahresfrist für sie noch immer. | |
Von Frankenberg schätzt die Zahl all dieser Menschen auf 4.000. „Die kommen | |
jetzt nicht in den Genuss, einreisen zu können“, sagt er. „Dabei verdienen | |
sie den selben Schutz.“ | |
## Spenden für Flüge | |
Beim Bundesverteidigungsministerium sieht man das anders. Eine Öffnung des | |
Programms für diejenigen, die für Subunternehmer tätig waren, sei nicht | |
geplant, sagt ein Sprecher gegenüber der taz. | |
Und dann ist da noch die Sache mit der Anreise. Geht es nach dem | |
Ministerium, sind die ehemaligen Ortskräfte selbst dafür verantwortlich. In | |
einigen Fällen komme die Bundeswehr allerdings für Flugtickets auf. | |
Das Netzwerk hat deshalb Spenden gesammelt. Für die Flüge. Aber auch für | |
Orte, an denen die Menschen in Sicherheit warten können, während ihr | |
Visa-Prozess läuft. Zwei dieser sogenannten Safe Houses, ehemalige | |
Diplomatenhäuser, haben sie mit Unterstützung des Zentrums für politische | |
Schönheit in Kabul hergerichtet, sie bieten Platz für 200 Menschen. | |
Die Situation der Ortskräfte ist inzwischen täglich Thema. Vizekanzler Olaf | |
Scholz erklärte kürzlich, man bemühe sich, die Menschen schneller | |
auszufliegen – sagte aber zugleich, Details müsse man mit der afghanischen | |
Regierung klären. Bundeskanzlerin Merkel stellte schon vor einigen Wochen | |
Charterflüge in Aussicht. Und Bundesinnenminister Horst Seehofer betonte | |
angesichts der sich zuspitzenden Lage am Freitag: „Am Innenministerium wird | |
die zügige Ausreise der Ortskräfte und ihrer Familien nicht scheitern. Für | |
Bürokratie ist keine Zeit, wir müssen handeln.“ | |
Von Frankenberg ist skeptisch. „Nichts von dem, was versprochen wurde, | |
wurde bisher umgesetzt“, sagt er. Das Patenschaftsnetzwerk ist ein | |
Graswurzelprojekt engagierter Menschen. Von Frankenberg erzählt von | |
hilfsbereiten Mitarbeiter:innen in Ämtern und Behörden. Die Ebene | |
darüber aber, die der Entscheider:innen? „Freundliches Desinteresse“, sagt | |
er. | |
Der Weg von Abdullah Nazram verlief vergleichsweise gut. Mitte Juli kam er | |
in Deutschland an. Inzwischen lebt er mit seiner Familie in einer | |
50.000-Einwohner-Stadt in Niedersachsen. Er will sein Deutsch verbessern, | |
erzählt er, seinen Uniabschluss in Wirtschaft anerkennen lassen. Bald will | |
er sich auch mit von Frankenberg treffen. Zum ersten Mal seit vier Jahren. | |
* Name auf Wunsch des Protagonisten geändert | |
13 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.patenschaftsnetzwerk.de/ | |
[2] /Sieg-der-Taliban-in-Nord-Afghanistan/!5788483 | |
[3] https://germany.iom.int/ | |
## AUTOREN | |
Sascha Lübbe | |
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