# taz.de -- Obdachlosigkeit in New York: Eine moralische Verletzung | |
> Deutschland und Europa setzen auf „Housing First“, um Obdachlosigkeit zu | |
> bekämpfen. In New York hat sich das Modell nicht durchgesetzt. Was können | |
> wir daraus lernen? | |
Bild: Die Fifth Avenue in New York City zur Weihnachtszeit: Eine obdachlose Fra… | |
New York, Washington und Berlin taz | Auf dem Gehsteig liegt ein Mann. Oder | |
eine Frau? Ein Mensch jedenfalls. Körper und Gesicht in einem grauen | |
Schlafsack verborgen. Dieser Mensch fällt auf. Selbst denen, die sich in | |
New York gewöhnt haben an die vielen, die in Schlafsäcke oder Decken | |
gehüllt auf den Wegen liegen. Denn er liegt quer zu den Fußgänger*innen, | |
die halb an ihm vorbei und halb über ihn hasten. Es sind sehr viele | |
Fußgänger*innen, das hier ist Lower Manhattan an einem Vormittag, nahe der | |
Wall Street. Sie alle müssen irgendwohin, irgendwo sein. Und dieser Mensch | |
liegt ihnen quer. | |
Es fällt mir schwer, einfach weiterzugehen. Hier in New York und auch in | |
Berlin, wo ich seit einigen Jahren lebe. Wie fühlt es sich an, zu den Füßen | |
der anderen zu liegen? Wie hält ein Mensch das aus, ohne vor Angst zu | |
vergehen? „Nur mit Drogen“, sagt ein Bekannter, der selbst obdachlos war. | |
„Mit viel Alkohol und anderem, was dich betäubt.“ | |
Obdachlosigkeit gehört zum Bild von New York City. Am einen Ende Karrieren, | |
Bankkonten, Lebensstile und Häuser, die am Himmel kratzen. Und am anderen | |
Ende Menschen, die, als solche kaum mehr erkannt, am Boden leben; von dem, | |
was ihnen als Almosen zugebilligt wird. Vielleicht sind sich die Extreme | |
nirgends so nah wie in Manhattan. Als ob sich das obere und das untere Ende | |
des American Dream hier berühren. | |
An diesem Ort wurde Anfang der Neunziger ein Konzept geboren, das die | |
Obdachlosenhilfe auf den Kopf – oder besser gesagt zurück auf die Füße – | |
stellt. Housing First: Zuerst ein Zuhause. Ein revolutionäres Konzept, das | |
die Bedürfnisse und Möglichkeiten obdachloser, psychisch erkrankter und | |
drogensüchtiger Menschen in den Fokus stellt. | |
## Eine chronische Krankheit der Metropolen | |
Doch ausgerechnet in New York, wo Housing First herkommt, gibt es das | |
Projekt jetzt nicht mehr. In Lower Manhattan und anderswo lässt es sich | |
kaum einen Block gehen, ohne einem Menschen zu begegnen, der ganz | |
offensichtlich kein Zuhause hat. Nahe dem Empire State Building liegen sie | |
in den frühen Morgenstunden zu Dutzenden auf den Gehwegen. „Unsheltered“ | |
nennen das die Amerikaner*innen. Oder „rough sleeping“ – raues Schlafen. | |
Obdachlosigkeit ist die chronische Krankheit dieser und fast aller | |
Metropolen. Als Redakteurin für Soziales habe ich schon einiges darüber | |
geschrieben, vor allem über die Zustände in Berlin. Auch weil es mir | |
schwerfällt, vorbeizugehen. | |
In Berlin, in Deutschland, in halb Europa gilt Housing First inzwischen als | |
zentral, um Obdachlosigkeit zu überwinden. Dies bis 2030 in aller | |
Ernsthaftigkeit zu versuchen, haben die Länder der Europäischen Union | |
einander 2021 in der Lissabonner Erklärung versprochen. Vielleicht, so | |
dachte ich, lässt sich am Ort des Beginns und des Scheiterns und mit den | |
Leuten, mit denen alles anfing, ergründen, wie Housing First wirklich | |
gelingen kann und ob es der Schlüssel zur Genesung ist. | |
Sam Tsemberis ist der erste, mit dem ich spreche. Vor einigen Monaten hat | |
das Time Magazine den griechisch-kanadischen Psychologen zu einem der 100 | |
einflussreichsten Menschen der Welt gekürt. Sam Tsemberis ist der Erfinder | |
von Housing First. | |
„Es geht nicht nur um die Obdachlosen, es geht um uns.“ Das ist einer der | |
ersten Sätze, die Tsemberis zu mir sagt. In den Achtzigern arbeitete er in | |
der Psychiatrie des New Yorker Bellevue Hospitals, einem der größten | |
Krankenhäuser der USA, mit Menschen, die als schwer krank gelten. Er wohnte | |
nur ein paar Blöcke von der Klinik in Midtown Manhattan entfernt; auf dem | |
Weg traf er seine Patient*innen in zunehmender Verwahrlosung auf der | |
Straße wieder. „Sie trugen zum Teil noch ihren blauen Krankenhauspyjama, | |
absolut verstörend“, sagt Tsemberis. Er verließ das Krankenhaus, um mit | |
obdachlosen Menschen zu arbeiten. In einem Van besuchten er und zwei | |
Kollegen die Menschen auf der Straße. | |
## Was brauchen Menschen auf der Straße? | |
Viel anzubieten hatten sie nicht: Die Psychiatrie oder eine der | |
Massenunterkünfte für Obdachlose, mit hunderten von Betten. Kaum | |
auszuhalten für einen stabilen Menschen, unvorstellbar für jene mit | |
Ängsten, Panikattacken, Wahnvorstellungen. Ich muss an Berlin denken, als | |
Tsemberis das erzählt. Auch hier harren viele obdachlose Menschen noch in | |
der bittersten Kälte aus: Bloß nicht in die Notunterkunft. | |
Die bisherigen Ansätze seien einfach nicht gut gewesen, sagt Tsemberis. | |
Herumzulaufen, mit den Leuten zu reden und zu entscheiden, welche Hilfen | |
gut für sie sind. In einem Hilfesystem, in dem Obdachlose sich erst | |
beweisen mussten: Therapie machen, Medikamente regelmäßig nehmen, „clean | |
werden“, dann vielleicht irgendwann eine Wohnung. „Wir mussten anders | |
arbeiten, also haben wir die Leute einfach gefragt, was sie brauchen.“ | |
Das klingt so unerhört simpel. Ist es nicht das, was | |
Sozialarbeiter*innen immer tun? Und ist es nicht so, dass manche | |
Menschen, gerade die psychisch erkrankten, diese Frage nicht mehr | |
beantworten können? Tsemberis sagt: „Wenn man obdachlose Menschen ernsthaft | |
fragt, was sie brauchen, dann kommt eine Antwort fast immer zuerst“ – egal, | |
ob diese Menschen Stimmen hören, suchtkrank sind oder völlig verwahrlost | |
aussehen. „Eine Wohnung.“ Housing First. So simpel ist das. Dieses | |
Bedürfnis erfüllte nur niemand. | |
In einem Tagestreff in Midtown Manhattan, in dem obdachlose Menschen sich | |
aufwärmen, etwas essen, ihre Wäsche waschen konnten, begann 1992 die Arbeit | |
der Organisation Pathways to Housing, die Geburtsstunde von Housing First. | |
Die Menschen brauchten Wohnungen, und Sam Tsemberis und sein Team waren | |
gewillt, sie ihnen zu beschaffen. So wie zuvor eine Decke oder eine warme | |
Mahlzeit. | |
Nun glaube bitte keine*r, man drückt einem drogenabhängigen Menschen, der | |
seit Jahren auf der Straße lebt, einfach einen Schlüssel in die Hand. Diese | |
Mieter*innen sind zum Teil schwierig, unbeliebt bei Vermieter*innen. | |
Dass überhaupt so viele von ihnen auf der Straße gelandet sind, liegt | |
daran, dass im aufstrebenden New York der Siebziger und Achtziger die | |
lausigen, heruntergekommenen Appartements verschwanden, die für wenig Geld | |
jede*n aufnahmen. Die Vermieter*innen fanden schlicht lukrativere Wege | |
der Vermarktung – und das würde sich in den kommenden Jahrzehnten nie mehr | |
ändern, nur verschärfen. | |
## Eine einfache Rechnung | |
Parallel hatte die Reagan-Regierung in den Achtzigern dem Bau von | |
Sozialwohnungen eine radikale Absage erteilt und Bundesmittel gestrichen. | |
Und die Psychiatrien, die noch in den Sechziger Jahren Menschen mit | |
psychischen Erkrankungen dauerverwahrten, reformierten sich dank der | |
Antipsychiatriebewegung. Ohne Lebensort übrig blieben allerdings die, die | |
kein soziales Netz aus Familie und Freund*innen auffing. | |
‚Housing First‘ sei nicht ‚Housing Only‘, sagt Tsemberis. Die Menschen,… | |
mit Pathways to Housing eine Wohnung fanden, wurden auf unbestimmte Zeit | |
begleitet. Das Geld für die Miete und für die sozialpsychologische | |
Betreuung kam von der Stadt. Tsemberis macht eine einfache Rechnung auf, | |
die auch in Europa gern bemüht wird: Ein Platz in einer Psychiatrie kostet | |
rund 300.000 US-Dollar im Jahr und bringt meist keine nachhaltige | |
Veränderung. „Für das gleiche Geld können zehn Menschen mit Unterstützung | |
in ihrer eigenen Wohnung leben“, sagt Tsemberis. Das ließ sich von der | |
kommunalen bis zur nationalen Ebene sowohl demokratischen als auch | |
republikanischen Politiker*innen verkaufen. | |
New York, diese Stadt mit tausenden obdachlosen Menschen – wie viele davon | |
kann Housing First in Wohnungen bringen? Es sei nie um Zahlen gegangen, | |
sagt Tsemberis. Jedenfalls nicht für ihn. „Ich wollte wissen, ob und wie | |
der Ansatz funktioniert.“ Von Anfang an wurde das Projekt wissenschaftlich | |
begleitet. Eine der langjährigen Forscher*innen ist Ana Stefančić von | |
der Columbia University. | |
Es sei fast ironisch, sagt Stefančić. Eine Art Missverständnis. Wenn es | |
heute um Housing First gehe, dann vor allem um die Wohnungen und um die | |
Beendigung von Obdachlosigkeit. Dabei sei das doch der einfachste Teil. | |
„Wenn wir Obdachlosigkeit beenden wollten, dann könnten wir das einfach | |
tun“, sagt Stefančić. Eine Frage von politischen Entscheidungen, eine reine | |
Abwägung in wohlhabenden Gesellschaften. Ich muss an Finnland denken. Bis | |
2027 sollen dort alle Langzeitwohnungslosen mit Wohnungen versorgt sein, | |
die Finnen sind schon jetzt sehr nah dran. [1][Auch sie nennen das Housing | |
First und sind damit so erfolgreich, dass manche denken, da käme das | |
Konzept her.] | |
## Die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben | |
Die Finnen haben über alle politischen Lager hinweg entschieden, keine | |
Wohnungslosigkeit mehr hinzunehmen. Sie schließen die | |
Wohnungslosenunterkünfte und bieten den Menschen stattdessen Appartements | |
an. Absolut bemerkenswert ist das. Anders als im New Yorker Modell ist aber | |
der Ausgangspunkt die Versorgung Wohnungsloser mit Wohnungen, nicht die | |
sozialpsychologische Begleitung obdachloser Menschen. Gerade mit der Gruppe | |
der psychisch schwer Erkrankten haben sie in Finnland ihre Probleme. | |
In New York und in ihrer Forschung, erzählt Stefančić, sei es immer darum | |
gegangen, ob und wie Housing First für diese Menschen die Chancen auf ein | |
erfüllteres Leben erhöhen kann. Die fehlende Wohnung ist das | |
Offensichtlichste, was dem im Wege steht. Aber bei weitem nicht das | |
einzige. 242 Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und | |
Drogenkonsum hatten in den ersten fünf Jahren über Pathways to Housing | |
eine Wohnung in New York gefunden. | |
Über 80 Prozent lebten auch noch ein Jahr später darin. Das Projekt war | |
deutlich erfolgreicher als vergleichbare Initiativen. Es war der Beweis, | |
der inzwischen noch viele Male erbracht wurde: Dass die Menschen, denen man | |
es am wenigsten zutraut, an denen wir auf der Straße vorbeigehen und allzu | |
selten in deren Gesichter schauen, die meist schon als Kinder nicht viel | |
anderes als Vernachlässigung erlebt haben, dass es für diese Menschen mit | |
der richtigen Unterstützung Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben gibt. | |
Warum das so wichtig ist – für uns genauso wie für diese Menschen – | |
ergründe ich mit Kim Hopper. Hopper ist Anthropologe, an der Columbia | |
University forscht und lehrt er zu dem, was den Menschen zum Menschen | |
macht. Mit ihm, so hörte ich immer wieder bei meiner Recherche, müsse ich | |
unbedingt sprechen, wenn es um Obdachlosigkeit in New York geht. | |
„Weil ich einer der Dinosaurier bin“, sagt Hopper. Bereits Ende der | |
Siebziger, noch als Student, war er in das legendäre Gerichtsverfahren | |
verwickelt, das 1981 zu New Yorks „right to shelter“ – dem Recht | |
obdachloser Menschen auf Unterbringung – führte. Dieses Recht wurde zwar | |
kürzlich für erwachsene Migrant*innen beschränkt, aber es bleibt bis | |
heute bemerkenswert in einem Land, in dem anderswo ganze Zeltstädte voller | |
obdachloser Menschen existieren. | |
## Das bittere Ende des American Dream | |
„Aber schon zehn Jahre später waren wir frustriert“, sagt Hopper. Zwar gab | |
es in der ganzen Stadt Notunterkünfte, aber ein „shelter“ ist kein Zuhause. | |
Es blieb ein Verharren in Notlösungen, die aus Obdachlosigkeit nur | |
Wohnungslosigkeit machten. Und mit der eben die Menschen, für die | |
Notunterkünfte nicht in Frage kamen, auf den Straßen verwahrlosten. Als | |
junger Mann, frisch in New York, erzählt Hopper, sei er erst entsetzt | |
gewesen über die Zustände und dann auch abgestumpft. Vielleicht ist | |
Obdachlosigkeit doch ein unvermeidbares Großstadtphänomen? Als | |
Wissenschaftler, der mit obdachlosen Menschen und psychisch Erkrankten | |
arbeitet, habe er dann begriffen, dass der Fehler nicht bei diesen Menschen | |
liegt, sondern in deren Behandlung. | |
Bis heute denken viele anders, und vielleicht ist das der wahre Grund, | |
warum wir Obdachlosigkeit überhaupt hinnehmen können. In den Vereinigten | |
Staaten ist es eben das bittere Ende des American Dream. Diese Menschen | |
hätten es einfach nicht geschafft, sich nicht genug angestrengt, seien faul | |
oder schwach. Auch in Berlin habe ich ähnliche Argumente gehört, die uns | |
die Verantwortung vom Leib halten. Als hätten alle die gleichen | |
Möglichkeiten, es „zu schaffen“. Menschen, die in Heimen aufwuchsen, | |
Missbrauch erfahren haben, als junge Erwachsene trotz aller Traumatisierung | |
sich selbst überlassen sind. | |
Nicht alle werden psychisch krank. Und nicht alle landen auf der Straße. | |
Aber es sind fast immer die mit den wenigsten Chancen von Kindheit an. Die, | |
für die die Gesellschaft schon in frühen Jahren nicht die passende Hilfe | |
gefunden hat. Die aus unaushaltbaren Zuständen fliehen, um irgendwie zu | |
überleben. Obdachlosigkeit ist wie eine Störungsmeldung, sagt Hopper. Eine | |
verlässliche Anzeige für soziale Probleme in einer Gesellschaft. | |
„Jedes Mal, wenn wir an einem Menschen, der ganz offensichtlich Hilfe | |
braucht, vorbeigehen, ohne zu helfen, passiert etwas in unserem Körper“, | |
sagt Hopper. Eine schmerzvolle, unbewusste Botschaft, selbst wenn wir | |
Obdachlosigkeit ablehnen. Eine „moralische Verletzung“, nennt es Hopper. | |
Als in den Siebzigern und Achtzigern in New York Obdachlosigkeit immer | |
sichtbarer wurde, hätten die Menschen noch aufgestöhnt – unmöglich könne | |
eine zivilisierte Gesellschaft auf diese Weise leben! „Und 40 Jahre später | |
leben wir noch immer damit“, sagt Hopper. Wie das sein kann und welchen | |
Preis wir dafür zahlen, diskutiert der Anthropologe in einem seiner | |
nächsten Seminare. | |
## Keine bezahlbaren Wohnungen | |
Housing First in New York verfolgte erfolgreich eine andere, eine | |
menschliche Perspektive. Es hatte seine Blütezeit zwischen Mitte der | |
Neunziger und dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Dann begannen die Probleme. | |
Er habe die Organisation in die Hände der falschen Leute gelegt, sagt | |
Tsemberis. Die bezahlten die Mieten nicht rechtzeitig, die | |
Vermieter*innen kündigten die Verträge auf, die staatlichen Zuschüsse | |
blieben aus. 2015 meldete Pathways to Housing New York Insolvenz an. Der | |
Organisation sei es nicht gelungen, das New Yorker System zu ändern, sagt | |
Tsemberis. Heute gibt es zwar noch Projekte, die mit Housing First werben. | |
Aber das ganze System der Obdachlosenhilfe müsse sich an die Idee von | |
Housing First anpassen, um nachhaltig zu sein, sagt auch Wissenschaftlerin | |
Stefančić. „Das ist in New York nie passiert.“ | |
Kim Hopper sagt, das Modell könne nur mit vier Erfolgsfaktoren überleben: | |
Eine verlässliche sozialpsychologische Betreuung für die Klient*innen, | |
zuverlässige Mietzahlungen, Rückendeckung für die Mieter*innen bei den | |
Vermieter*innen. Und vor allem: Ausreichend kleine und bezahlbare | |
Wohnungen. Das, sagt Hopper, sei der wesentliche Punkt, an dem New York und | |
andere US-amerikanische Städte inzwischen scheiterten. „Angesichts des | |
allgemeinen Zustands des Wohnungswesens in den USA könnte die große Zeit | |
für Housing First hier vorbei sein.“ Selbst wenn noch ein paar Wohnungen | |
für die Ärmsten der Armen aus dem System gewrungen werden: Ohne | |
tiefgreifende Veränderungen im Wohnungswesen, sagt Hopper, würden immer | |
wieder Obdachlose nachkommen. | |
Immerhin hat das Konzept Housing First schon früh Ableger, den ersten in | |
der Hauptstadt Washington D.C., wo Pathways to Housing bis heute existiert | |
und seit 2004 rund 900 Menschen auf ihrem Weg aus der Obdachlosigkeit | |
unterstützt. Im Laden einer Fastfoodkette treffe ich hier auf den | |
46-jährigen Jamal. In der blauen Pathways-Jacke sitzt er an einem der | |
hinteren Tische und wartet. Mit rund 20 Obdachlosen kommt er so jede Woche | |
ins Gespräch. Sie wissen, dass er hier sein wird. | |
Jamal lebte vor 12 Jahren noch selbst auf der Straße. „Drogen und all das | |
Zeugs“, sagt er. Jamal hat einen langen Weg hinter sich, nichts davon war | |
einfach. Aber er hat Unterstützung gehabt. Seit drei Jahren arbeitet er für | |
Pathways. Auch das halte ihn aufrecht, sagt er. Immer wieder besucht Jamal | |
Menschen in ihrem Zuhause nach Jahren der Obdachlosigkeit. „Schau, das ist | |
mein Bett, das ist meine Dusche“, sagen sie dann. | |
## Wie sieht es in Deutschland aus? | |
Nach Städten in den USA wurde das Konzept nach Kanada und Europa | |
exportiert. Gründer Tsemberis reist seitdem durch die ganze Welt, | |
inzwischen bis nach Brasilien, für Gespräche und Vorträge. Das Scheitern in | |
New York sei bis heute traumatisch für ihn. Dass die Idee, die hier geboren | |
wurde, inzwischen Kinder in der ganzen Welt habe, in dutzenden Städten | |
Hoffnung schüre, tröste dagegen. Für obdachlose Menschen in den USA aber | |
sieht auch Tsemberis keine guten Zeiten: „Unter Trump werden wir nur | |
‚Housing Last‘ bekommen“. | |
Einen Vorgeschmack lieferte vor wenigen Monaten ein Urteil des Supreme | |
Court: Die (dank Donald Trumps erster Amtszeit als US-Präsident) | |
konservative Mehrheit der obersten Richter*innen entschied, dass | |
obdachlose Menschen für das Campieren auf öffentlichen Plätzen bestraft | |
werden dürfen. | |
Aber sind die Zeiten für Großstädte in Deutschland und Europa bessere? Kann | |
Housing First hier gelingen und was bedeutet das für das hehre Ziel, | |
Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden? | |
Housing First ist ein Konzept für ein lebenswertes Leben, nicht nur für die | |
Versorgung mit Wohnungen. Es ist in der Lage, Lebensperspektiven für die zu | |
eröffnen, die keine mehr zu haben scheinen. Das zeigen die Erfahrungen aus | |
New York. Housing First kann scheitern, wenn es nicht richtig ausgestattet | |
wird, wenn Wohnen und sozialpsychologische Begleitung nicht von Beginn an | |
zusammen gedacht werden, wenn Mieten so teuer werden, dass sie von | |
staatlichen Zuschüssen nicht mehr bezahlbar sind und wenn die Grundidee, | |
dass Empfänger*innen von Hilfen selbst am besten wissen, was sie | |
brauchen, missachtet wird. Auch das zeigen die Erfahrungen aus New York. | |
Ich denke an Berlin mit den steigenden Mieten und der immer wieder | |
verhandelten Frage, wie viel Mietenregulierung es geben darf, wie viel in | |
den sozialen und gemeinwohlorientierten Wohnungsbau investiert werden soll. | |
Auch hier verzweifeln Sozialarbeiter*innen daran, dass sie einer | |
wachsenden Zahl psychisch kranker Menschen auf der Straße kaum etwas | |
anzubieten haben. Housing-First-Pionierprojekte haben zwar seit 2018 rund | |
230 obdachlosen Menschen ein Zuhause ermöglicht. Aber für die | |
„schwierigsten“ Fälle, die es am meisten nötig haben, sind sie nicht | |
ausgestattet. | |
## Es braucht politischen Willen | |
[2][Ich denke an Berlin, wo es so viele Projekte und Organisationen in der | |
Obdachlosenhilfe gibt], dass kaum eine*r den Überblick behält. Ziehen die | |
wirklich an einem Strang, eint die tatsächlich eine gemeinsame Idee? | |
Und ich denke an Berlin in Zeiten knapper Kassen, die die Menschen noch | |
mehr spalten, in die da oben und die ganz unten. | |
Eine Genesung für die chronische Krankheit Obdachlosigkeit, das wird für | |
mich nach meiner Reise nach New York noch klarer, kann es nur mit einem | |
sozialen Wohnungswesen geben. In der Zwischenzeit bewahren wir uns mit | |
ernsthaft betriebenem Housing First ein Stück Menschlichkeit. Indem wir ein | |
Angebot für die Menschen schaffen, die Unterstützung am dringendsten nötig | |
haben. Für beides, ein konsequent soziales Wohnungswesen und ausreichend | |
ausgestattetes Housing First, sind politische Entscheidungen nötig. Die | |
wird es nur geben, wenn genügend Menschen danach verlangen. Immerhin liegen | |
noch keine 40 Jahre der Gewöhnung an eigentlich Unaushaltbares hinter uns. | |
Wie in New York. | |
Als ich in den frühen Morgenstunden aus den USA zurück nach Berlin komme, | |
tragen die wenigen Leute auf der Straße dicke Mützen. Auf einer Bank nahe | |
der Frankfurter Allee liegt ein Mensch, das Gesicht im Schlafsack | |
verborgen. Sein Rollstuhl steht neben ihm. | |
Ein Mensch, der auf den Rollstuhl angewiesen ist, schläft auf der Straße. | |
In der Nacht waren es fast null Grad. | |
Da ist er, der Schmerz, den Kim Hopper „moralische Verletzung“ nennt. „Wir | |
brauchen mehr Menschen, die das spüren“, hat Hopper gesagt. | |
Manuela Heim ist taz-Redakteurin für Gesundheit und Soziales. Ihre | |
US-Recherche wurde durch das [3][Daniel-Haufler-Stipendium] der [4][taz | |
Panter Stiftung] ermöglicht. | |
4 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Housing-first-in-Finnland/!5914243 | |
[2] /Revolution-der-Wohnungslosenhilfe/!5805697 | |
[3] /taz-Panter-Stiftung-USA-Stipendiatinnen/!vn6044493/ | |
[4] /Panter-Stiftung/!v=e4eb8635-98d1-4a5d-b035-a82efb835967/ | |
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