# taz.de -- Medizinethikerin über ungleiche Gesundheit: „Gerechtigkeit schwe… | |
> Die Medizinethikerin Julia Inthorn würde eine Impfoffensive in armen | |
> Stadtteilen begrüßen, wenn die verletzlichsten Gruppen durchgeimpft sind. | |
Bild: Nicht jeder der gefährdet ist, steht auch ganz oben auf der Impfliste | |
taz: Frau Inthorn, werden soziale Aspekte bei der medizinischen Versorgung | |
– speziell bei den Impfungen – in Deutschland nicht ausreichend | |
berücksichtigt? | |
Julia Inthorn: Ich glaube, da muss man erst einmal unterscheiden, auf | |
welcher Ebene man guckt. [1][Die sozialen Aspekte spielen bei den] | |
Kriterien ja durchaus eine Rolle. Also, wenn man ganz grundsätzlich darüber | |
nachdenkt, was gerecht ist und welche vulnerablen Gruppen man im Blick | |
behalten muss. Aber dann muss natürlich die Ständige Impfkommission (Stiko) | |
– und auch andere Einrichtungen – einen Weg finden, das konkret werden zu | |
lassen. Und da bleiben notgedrungen ganz viele Dinge auf der Strecke. Meine | |
Wahrnehmung ist, dass das vor allem ein Umsetzungsproblem ist und nicht so | |
sehr ein blinder Fleck oder so etwas. | |
Gibt es in Deutschland eine größere Scheu, das öffentlich zu thematisieren? | |
In England oder in den USA ist früh darüber geredet worden, dass Schwarze | |
oder Migranten stärker von der Pandemie betroffen sind. Als hier | |
[2][hingegen RKI-Chef Wieler über] Intensivpatienten mit | |
Migrationshintergrund sprach, gab es einen Aufschrei. | |
Ich glaube, dass da verschiedene aktuelle Diskussionsstränge ineinander | |
verwoben gewesen sind. Also zum einen hat sich Wieler wirklich extrem | |
unglücklich ausgedrückt. Tatsächlich haben wir ja mittlerweile Zahlen, die | |
belegen, dass Covid nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich trifft. Manche | |
sind einfach besser geschützt als andere. Damals vermischte sich das aber | |
mit der Black-Lives-Matter-Debatte und dem Umgang mit Rassismus in | |
Deutschland, wo auch noch einmal eine ganz andere Sensibilität für | |
politisch korrektes Sprechen geweckt wurde. Da sind Dinge vermischt worden, | |
die für die explizite Gerechtigkeitsfrage zum Beispiel beim Impfen nicht | |
unbedingt hilfreich waren. | |
Es gibt also kein Tabu und auch keinen Mangel an Daten? | |
Man kann diese Dinge in Deutschland schon adressieren, sie sind aber – wenn | |
man ein bisschen genauer hinguckt und sich nicht nur empören will – nicht | |
ganz so einfach. Weil unser Gesundheitssystem von seiner Struktur her schon | |
sehr stark auf Gleichheit ausgerichtet ist – ganz anders als in den USA | |
oder England. Die USA haben kein gerechtes Gesundheitssystem und auch gar | |
nicht diesen Anspruch. Da kann man natürlich solche Dinge viel schneller | |
sehen und auch sagen – wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen überhaupt keinen | |
Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung haben. Hier haben wir eine | |
Verpflichtung zur Krankenversicherung und also auch zumindest, was den | |
Zugang angeht, ganz andere Bedingungen. | |
Und wie ist das in Großbritannien? | |
Da ist es viel akzeptierter, Fragen danach zu stellen, welchen | |
gesellschaftlichen Nutzen eigentlich bestimmte Ausgaben im | |
Gesundheitssystem haben. Diese Frage stellen wir so nicht. | |
Trotzdem haben ja auch hier die allermeisten Menschen nicht den Eindruck, | |
das System sei super gerecht. | |
Im Detail knirscht es natürlich immer, weil man Gerechtigkeit im Verfahren | |
nicht zu 100 Prozent abbilden kann. Aber im Grundsatz würde man in | |
Deutschland sagen, dass Gleichheit im Zugang zu medizinischer Versorgung | |
gegeben ist. Also: Wenn ich mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus komme, | |
werde ich behandelt, unabhängig davon, wie ich versichert bin oder was ich | |
vorher geleistet habe. Die Ungleichheit entsteht hier eher auf dem Feld der | |
Prävention. Habe ich Zugang zu Informationen und Wissen, zu Berufen, in | |
denen ich keinen hohen Risiken und Belastungen ausgesetzt bin, zu den | |
finanziellen Mitteln, um mich gesund zu ernähren und all diese Dinge. Da | |
sehen wir dann eben, dass – im Ausgang, nicht im Zugang, und über die | |
gesamte Lebensspanne betrachtet – Gesundheit extrem ungleich verteilt ist. | |
Aber auch beim Zugang sind die Hürden für manche doch höher als für andere. | |
Im Kontext der Pandemie sind natürlich auch noch einmal sprachliche | |
Barrieren besonders ins Gewicht gefallen. Und zwar nicht nur bei der | |
Aufklärung. Gerade kämpfen die Schulen damit sicherzustellen, dass diese | |
Schnelltests zu Hause korrekt angewandt werden. Da sind die Beipackzettel | |
nicht immer eine große Hilfe. Auch bei der Inanspruchnahme von Impfungen | |
spielt das natürlich eine Rolle. | |
Glauben Sie denn, es wäre nötig und möglich, jetzt zum Beispiel in der | |
Impfverordnung einen Ausgleich zu schaffen? | |
Also zunächst einmal stehe ich voll und ganz hinter dem, was die Stiko | |
erarbeitet hat. Und trotzdem finde ich es wichtig und richtig, dass jetzt – | |
wo die Impfung der vulnerabelsten Personengruppen weitgehend abgeschlossen | |
ist – immer mehr auf Gruppen hingewiesen wird, die in hohem Maße | |
schutzbedürftig sind. Sei es, weil sie zur Daseinsvorsorge gehören oder | |
weil sie ein besonders hohes Infektionsrisiko haben. Die Frage ist jetzt, | |
wie kann man das überhaupt adressieren. Die Hausärzte sind da sicher ein | |
guter und wichtiger Schritt, fraglich ist aber, ob die alleine das jetzt | |
leisten können. | |
In vielen besonders belasteten Stadtteilen ist die Hausarztdichte nicht so | |
hoch. Gleichzeitig haben dort viele Menschen Schwierigkeiten, den Kampf mit | |
der Impfhotline aufzunehmen oder den Weg ins Impfzentrum zu bewältigen. | |
Muss man da noch anders rangehen? | |
Ja, möglicherweise muss man da noch einmal schauen, was man braucht, damit | |
die bestehenden Strukturen das gut adressieren können. Das ist natürlich | |
ein Problem, das wir im Gesundheitswesen an ganz vielen Stellen haben. Wie | |
erreichen wir Gruppen, die sich nicht so gut selber kümmern können? Das ist | |
dann auch ein Grundsatzproblem in so einem liberal denkenden Staatsgefüge, | |
wo die Leute halt nicht irgendwo erfasst und registriert und mit einem | |
Stempel versehen sind. Deshalb haben wir auch kaum Zugänge, wenn die sich | |
nicht von selber zu Wort melden. Anders als Lobbygruppen, die zum Teil ja | |
sehr gründliche Arbeit geleistet haben. Das ist sicherlich auch etwas, was | |
das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen belastet. | |
In den Stiko-Empfehlungen sind bisher nur Menschen in Extremlagen | |
berücksichtigt, richtig? Also vor allem solche, die in | |
Gemeinschaftsunterkünften hohen Infektionsrisiken ausgesetzt sind: | |
Geflüchtete, Obdachlose, Häftlinge und so weiter? | |
Ja, wobei die erste Runde der Stiko-Empfehlungen noch vor den Mutationen | |
verfasst wurde. Jetzt haben wir plötzlich andere Risikoverläufe auch bei | |
jüngeren Menschen. Die Lage ändert sich also permanent. Und um die | |
Maßnahmen gut und evidenzbasiert aufzustellen, brauchen wir ständig neue | |
Zahlen. Damit hinken wir dem aktuellen Verlauf aber auch zwangsläufig immer | |
ein Stück hinterher. Damit muss man leben. Dieses ständige Nachjustieren | |
ist kein Eingeständnis von Schwäche, sondern ein absolut notwendiger | |
Lernprozess. | |
Können Sie mal ein konkretes Beispiel sagen, wo man diesen Lernprozess | |
sehen kann? | |
Zum Beispiel [3][bei der privaten Pflege.] Das ist ja ein Bereich, den man | |
anfangs schlicht komplett vergessen hatte. Der in Deutschland zahlenmäßig | |
aber ziemlich groß ist. Da hat man dann eben nachgebessert. | |
Müsste man mit Blick auf die benachteiligten Stadtteile denn jetzt nicht | |
eigentlich sagen: Okay, wir nehmen jetzt die mobilen Teams, die bisher in | |
den Pflegeheimen unterwegs waren, die sollen jetzt dahin gehen und – | |
unabhängig von der Priorisierung – alles impfen, was bei drei nicht auf dem | |
Baum ist? | |
Na ja, den Grundsatz der Freiwilligkeit würde ich doch bitte unbedingt | |
beibehalten. Wenn es die Kapazitäten gibt, wäre das ein guter Ansatz. Die | |
Frage ist halt auch da wieder: Wie bekommt man das am besten hin? Geht man | |
über die bewährten Strukturen der Nachbarschaftshilfe, Tafeln oder so | |
etwas? Wen vergisst man dann da wieder? Deshalb ist es so wichtig, dass es | |
immer wieder Modellprojekte gibt, die aber auch klug evaluiert werden | |
müssen, um zu sehen, was funktioniert und was nicht. | |
Den ganzen Schwerpunkt der taz nord über Corona als Klassenfrage lesen sie | |
in der taz am Wochenende am Kiosk oder [4][hier]. | |
23 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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