| # taz.de -- Martial-Arts-Film aus Taiwan: Eine lauernde Kämpferin | |
| > Hou Hsiao-Hsiens „The Assassin“ zeigt eine Killerin im China des 9. | |
| > Jahrhunderts. So wie die Protagonistin schleicht sich auch die Handlung | |
| > an. | |
| Bild: Hat die Ruhe weg: Yinniang, die Killerin | |
| Eine junge Frau steht neben einer buddhistischen Nonne unter Bäumen, hinter | |
| ihnen ihre zwei Esel. Mit unbewegtem Blick in die Ferne erteilt die Nonne | |
| ihrer Begleiterin in kurzen Sätzen einen Mordauftrag. Dann greift sie in | |
| ihren Ärmel und reicht ihrer Begleiterin einen Dolch. | |
| Plötzlich ragen Banner aus dem Waldweg heraus, an dessen Rand die beiden | |
| Frauen stehen. Keine Minute liegt zwischen dem Mordauftrag und dessen | |
| Ausführung. Die junge Frau, Nie Yinniang, ist die titelgebende | |
| Protagonistin in „The Assassin“ und wurde von der buddhistischen Nonne zur | |
| Auftragskillerin ausgebildet. | |
| „The Assassin“, der neueste Film von Hou Hsiao-Hsien, nimmt eine | |
| Kurzgeschichte aus dem 9. Jahrhundert zum Ausgangspunkt. Gerade einmal | |
| 1.000 Worte lang ist die Geschichte, enthalten in einer Geschichtensammlung | |
| mit dem Titel „Erzählungen des Fantastischen“. Deren Autor Pei Xing ist | |
| heute vor allem für seine Wuxia-Erzählungen bekannt. | |
| Wuxia (übersetzt „kämpfender Held“) ist auch die Bezeichnung eines der | |
| populärsten Genres der chinesischen Literatur und der chinesischen Kinos in | |
| Taiwan, Hongkong und der Volksrepublik. Kennzeichen des Genres sind Plots | |
| zwischen Mittelalterspektakel und Superheldenerzählung, randvoll mit | |
| fantastischen Momenten. Hou Hsiao-Hsien stellt seinen Film von der ersten | |
| Minute an in diese Tradition. | |
| ## Mörderin mit Gewissen | |
| Als Yinniang bei ihrem nächsten Auftrag zögert, wird sie von ihrer Lehrerin | |
| in ihre Heimat geschickt, um ihren Cousin, den Militärgouverneur Tian | |
| Ji’an, zu töten. Yinniangs Familie hatte ursprünglich geplant, sie später | |
| mit Tian Ji’an zu verheiraten. Aus politischen Gründen wurde die Verbindung | |
| jedoch nicht realisiert. Der Auftrag ist ein Test für ihre | |
| Entschlossenheit. | |
| Zurück in Weibo, im mittleren Nordosten Chinas, beginnt Yinniang ihre | |
| Schlingen um Tian Ji’an enger zu ziehen. Als Militärgouverneur ist dieser | |
| mitten in einem Ringen mit dem Kaiser um die letzten Reste der | |
| Eigenständigkeit der Region. | |
| Wie die Protagonistin ihr Opfer umschleicht die Kamera das Geschehen in den | |
| Innenräumen der Macht in driftenden Bewegungen, pirscht sich an die Figuren | |
| des Films heran. Die Bilder, die Hou gemeinsam mit seinem Kameramann Mark | |
| Lee für den Film gefunden hat, mögen ruhig wirken; betrachtet man sie | |
| genau, sieht man, dass die Kamera kaum je stillsteht. Fast wirkt es, als | |
| würden die Kamerabewegungen atmen. | |
| Diese Harmonie bewegter Statik prägt den gesamten Film: Während die Farben | |
| der Naturaufnahmen von innen heraus zu leuchten und aus der Leinwand | |
| hervorzublühen scheinen, flirren die Innenräume von Reflexionen des | |
| Kerzenlichts auf den reichen Vergoldungen, reflektieren Lampen auf | |
| Seidenvorhängen. | |
| ## Die Katze spielt mit der Maus | |
| Der Kontrast zwischen den Außenaufnahmen in der Natur und Aufnahmen in den | |
| repräsentativen Räumen der Residenz des Militärgouverneurs strukturiert den | |
| Film. Die lichtdurchflutete, vielfarbige Natur kontrastiert mit dem schwach | |
| beleuchteten repräsentativen Rot, Schwarz und Gold der Innenräume. | |
| Doch die Natur unterläuft diese Aufteilung: Die Innenräume sind in dem Film | |
| selten vollkommen geschlossen. Unablässig flattert ein Tuch vor einem | |
| Fenster, flackern Kerzen im Luftzug. Mit der Außenwelt dringt auch die | |
| Bedrohung in die Innenräume. Lautlos taucht Yinniang an nahezu jedem Ort | |
| der Residenz des Militärgouverneurs auf. Sie bewegt sich vollkommen | |
| unbehelligt, zunächst nur, um das Geschehen in der Residenz zu beobachten. | |
| Der Machtapparat des Gouverneurs erweist sich als unfähig, sie daran zu | |
| hindern. Durch mehrere Angriffe, bei denen sie bewusst Spuren hinterlässt | |
| und spielend leicht entkommt, lässt Yinniang ihren Cousin wissen, dass sie | |
| die unbekannte Angreiferin ist. Yinniang spielt mit ihrem Opfer wie eine | |
| Katze mit einer Maus. | |
| „The Assassin“ ist mit weitem Abstand Hous aufwendigster Film bisher. Weil | |
| die niederländische und japanische Kolonialisierung auf Formosa, der | |
| Hauptinsel Taiwans, keine Bauten aus der Tang-Zeit hinterlassen hat und | |
| auch in der Volksrepublik nur wenige Bauten überlebten, entstanden die | |
| Außenaufnahmen zu „The Assassin“ in Japan, der inneren Mongolei und der | |
| chinesischen Provinz Hubei. | |
| ## Kämpferinnen sind keine Seltenheit | |
| Einige der Aufnahmen von Gebäuden wurden digital nachbearbeitet, um der | |
| Tang-Zeit zu entsprechen. Überwiegend entstand der Film jedoch in den | |
| Studios in Taipeh. Hou ließ zwei große Gebäude aus Holz im Stil der | |
| Tang-Zeit in den Studios errichten. | |
| In ihrer Rolle als weibliche Auftragskillerin verkörpert Shu Qi mit | |
| Yinniang einen neuen Typus weiblicher Heldin im Universum der Filme Hous. | |
| In der klassischen populären Literatur Chinas sind weibliche Kämpferinnen, | |
| erprobt in allen Kampfkünsten, jedoch keine Seltenheit. Aus der Literatur | |
| fand diese Tradition ihren Weg in das chinesische Kino der Stummfilmzeit | |
| und lebte nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Hongkong fort. | |
| In einem Interview mit der Zeitschrift Filmcomment hat Hou betont, wie sehr | |
| ihn die Wuxia-Literatur und wenig später auch die Filme aus Hongkong als | |
| Jugendlicher geprägt haben: „Sie waren unter den vielen Filmen, die ich | |
| geguckt habe, indem ich mich als Kind in die Kinos geschummelt habe. Ich | |
| habe die wartenden Erwachsenen am Ärmel gezupft und sie gebeten, mich mit | |
| hineinzunehmen.“ | |
| Mit Blick auf die Wuxia-Tradition ist „The Assassin“ aufschlussreich für | |
| das aktuelle Verhältnis der beiden chinesischen Staaten, der Volksrepublik | |
| und Taiwans. Der Film entstand als Koproduktion zwischen Taiwan, Hongkong | |
| und der Volksrepublik. Wuxiaals geteiltes Erbe – ein Erbe, das Spiegel des | |
| komplizierten Verhältnis zwischen Hongkong, Taiwan und der Volksrepublik | |
| ist. | |
| ## Das Genre umdeuten | |
| Die Rückkehr Hongkongs zu China hat zu einem Aufleben des Genres auch im | |
| Kino der Volksrepublik geführt. Die Wuxias, die dort entstehen, sind jedoch | |
| oft vom Ballast imperialer Schwere geprägt, schwelgen in symmetrischen | |
| Bildern von CGI-Soldaten. Die Wuxia-Fernsehserien des chinesischen Kinos | |
| sind der ZDF-Fernsehkrimi Chinas: Rentnerprogramm. Hongkongs Altmeister | |
| Tsui Hark hat diesem Trend 2010 und 2013 in „Detective Dee and the Mystery | |
| of the Phantom Flame“ und „Young Detective Dee: Rise of the Sea Dragon“ m… | |
| smarter Blockbusterlogik beizukommen versucht. | |
| Hou Hsiao-Hsien, der wichtigste Regisseur, der aus der taiwanesischen Neuen | |
| Welle hervorgegangen ist, nähert sich dem Genre auf anderen Wegen. Hou | |
| greift in „The Assassin“ das Genre der Wuxia-Filme auf und prägt es mit | |
| seinem Film zugleich um: Waren einige der Hongkong-Wuxias der 1960er | |
| surreale Paraphrasen der Genrekonventionen, so ist Hous Film zugleich | |
| selbst Teil des Genres und eine Meditation über den Kern des Genres im | |
| Film. | |
| In „The Assassin“ sind die üblichen Kampfszenen auf ein Minimum reduziert; | |
| die Handlung zwischen den Kampfszenen ist zutiefst entschleunigt, scheint | |
| wie die Protagonistin zu lauern. Zwischen all diesen „Genreverstößen“ | |
| entfaltet sich einer der beeindruckendsten und schönsten Filme, die in den | |
| letzten Jahren gedreht wurden. | |
| Anders als die meisten anderen Filme Hou Hsiao-Hsiens hat „The Assassin“ | |
| einen deutschen Verleiher gefunden, der den Film dahin bringt, wo er | |
| hingehört: ins Kino. | |
| 29 Jun 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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