| # taz.de -- Machtmissbrauch in Unterkünften: Sie suchten Schutz | |
| > Immer wieder misshandeln Wachleute in Unterkünften Geflüchtete. Für die | |
| > Täter hat das so gut wie keine Konsequenzen. | |
| Bild: In der Flüchtlingsunterkunft in Burbach soll es zu mehrfachem Missbrauch… | |
| Es ist der Morgen des 31. Dezember 2016 in der Erstaufnahmeeinrichtung | |
| Hamburger Straße in Dresden. Argjent Mehmeti schläft, als drei | |
| Sicherheitsmänner das Zimmer seiner Familie betreten wollen. Mehmetis Frau | |
| ist noch nicht angezogen. Ihr Mann drückt die Tür zu, die Männer sollen sie | |
| nicht halbnackt sehen. | |
| Dabei werden die Angeln der Tür beschädigt, die Sicherheitsmitarbeiter | |
| machen Mehmeti dafür verantwortlich. Er soll die Unterkunft sofort | |
| verlassen, Mehmeti weigert sich. Die Wachmänner bedrohen ihn, sie hätten | |
| gesagt „Ich mach dich gleich kaputt, was willst du machen?“, erinnert sich | |
| Mehmeti. | |
| Er erstattet Anzeige. „Das Schlimme ist“, sagt er heute, „so was habe ich | |
| von Deutschland nie gedacht. Die Wachmänner sind organisiert und verdienen | |
| zu viel Geld. Deswegen macht da keiner was.“ | |
| Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art in der Unterkunft. Auf einem | |
| [1][Handyvideo] von Dezember 2016 ist zu sehen, wie Sicherheitsangestellte | |
| nachts Bewohner über den Hof jagen, sie verprügeln. Ein anderes Video vom | |
| Oktober 2015 zeigt, wie Wachpersonal einen Asylbewerber tritt und schlägt. | |
| Ohne im Video ersichtlichen Grund nehmen sie den Mann in den Schwitzkasten | |
| und drücken ihn zu Boden. | |
| Zwei Jahre nach dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise ist es um | |
| die Unterbringung Asylsuchender in Deutschland stiller geworden. Je weniger | |
| Menschen kommen, desto weniger wird über sie berichtet. Doch in | |
| Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften kommt es weiterhin | |
| regelmäßig zu Körperverletzungen durch Sicherheitskräfte, zu Bedrohungen, | |
| manchmal gar zu Misshandlungen. In Berlin stehen Mitarbeiter von | |
| Sicherheitsfirmen im Verdacht, Geflüchtete in die Prostitution vermittelt | |
| zu haben, um mit der Zuhälterei zu verdienen. In den seltensten Fällen | |
| zeigen die Bewohner einer Unterkunft das Wachpersonal an. So wird es noch | |
| stiller. Die taz hat deutschlandweit 20 Fälle analysiert, über einige wurde | |
| bereits berichtet, andere sind neu, so wie der von Argjent Mehmeti. Es geht | |
| um Drohungen, Misshandlungen, um zu wenig Personal, miserable Bezahlung von | |
| Mitarbeitern und fehlende Kontrollen durch Kommunen und Länder. Zusammen | |
| ergeben sie ein besorgniserregendes Bild. | |
| Der Betreiber der Dresdner Unterkunft, in der Argjent Mehmeti, seine Frau | |
| und seine kleine Tochter gelebt haben, ist zum Zeitpunkt der Drohungen das | |
| Deutsche Rote Kreuz. Die Sicherheitsfirma ist vom Land Sachsen beauftragt. | |
| Aus der Landesdirektion Sachsen heißt es auf die Frage, was nach der | |
| Situation an der Tür passiert sei: „Der Vorfall wurde im Anschluss mit | |
| allen Beteiligten ausgewertet.“ Die Sicherheitsfirma, Ihre Wache GmbH, ist | |
| weiterhin für die Unterkunft zuständig. Eva Wagner, Pressesprecherin von | |
| Ihre Wache schreibt: „Mit den betreffenden Personen wurden im Rahmen der | |
| Auswertung umfangreiche Gespräche geführt.“ Die Zimmer hätten aus | |
| brandschutzrechtlichen Gründen durchsucht werden müssen, der Betreiber habe | |
| dies angeordnet. | |
| Bezüglich den Gewaltvideos schreibt Wagner, Ihre Wache könne anhand der | |
| Beschreibung keine bekannten Vorfälle zuordnen. Zu personalrechtlichen | |
| Konsequenzen werde man aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Stellung | |
| nehmen. In derselben Mail droht Ihre Wache, „aus allen in Betracht | |
| kommenden rechtlichen Gesichtspunkten“ gegen die taz vorzugehen, sollte sie | |
| Videos oder Sprachaufnahmen veröffentlichen. | |
| ## In nur zwei Fällen Verantwortliche verurteilt | |
| Bei der weiteren Recherche stößt die taz auf Unterkünfte im | |
| brandenburgischen Finsterwalde, die von dubiosen Berliner Briefkastenfirmen | |
| betrieben wurden. Auf ein laufendes Verfahren gegen zehn Mitarbeiter der | |
| europaweit agierenden European Homecare vor dem Siegener Landgericht, die | |
| Geflüchtete misshandelt, sich der Freiheitsberaubung oder unterlassener | |
| Hilfeleistung schuldig gemacht haben sollen. Und auf Sicherheitskräfte in | |
| Dresdner Unterkünften, die Bewohner wie Argjent Mehmeti und seine Familie | |
| bedrohen und nötigen. | |
| Von allen zwanzig Vorfällen kam es in nur fünf zu einer Entlassung, nur | |
| sechsmal zu einer Anzeige: wegen Nötigung, Körperverletzung und auch | |
| Vergewaltigung. | |
| In nur zwei Fällen wurden Verantwortliche verurteilt, wie etwa im | |
| niedersächsischen Lingen, wo zwei Wachmänner Geflüchtete in der Unterkunft | |
| misshandelten. Sie wurden Anfang des Jahres zu jeweils zwei Jahren auf | |
| Bewährung und zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. | |
| Drei Verfahren laufen noch, eine Anklage wurde fallen gelassen. Typisch, | |
| sagen Opferberatungen und Flüchtlingsräte. In den wenigsten Fällen kommt es | |
| überhaupt zu Anzeigen, weil die Bewohner Angst haben und oft nicht wissen, | |
| an wen sie sich wenden können. In den wenigsten Unterkünften gibt es eine | |
| unabhängige Beschwerdestelle. Strafrechtliche Konsequenzen bleiben die | |
| Ausnahme. | |
| Es gäbe Lösungen für diese Probleme, etwa Unterbringungsstandards, wie es | |
| sie in Alten- oder Jugendheimen gibt. Aber bisher ist die Politik nicht | |
| bereit, diese verbindlich einzuführen. Das liegt auch daran, dass die | |
| Unterbringung Geflüchteter in Deutschland Ländersache ist und bundesweite | |
| Regelungen deshalb nicht möglich sind. Die wenigen Regelungen, die es gab, | |
| wurden in den letzten Jahren immer weiter ausgehöhlt. | |
| Und so vergeben Länder und Kommunen auch 2017 weitere Verträge an Betreiber | |
| und Sicherheitsunternehmen, die bereits mehrfach durch Straftaten | |
| aufgefallen sind oder gegen die sogar noch Strafverfahren anhängig sind. | |
| Ein Unternehmen, an dem sich erklären lässt, wo einige der größten Probleme | |
| bei der Flüchtlingsunterbringung liegen, ist die Firma European Homecare | |
| aus Essen. Nach eigenen Angaben betreibt das mittelständische Unternehmen | |
| aktuell 80 Einrichtungen für Geflüchtete und Wohnungslose in ganz | |
| Deutschland. 2015 stieg der Umsatz von rund 39 Millionen auf fast 178 | |
| Millionen Euro. Der Nettogewinn fiel fünfmal so hoch aus wie 2014: Rund 26 | |
| Millionen Euro blieben übrig. Für Personal gab die Firma in dem Jahr 35,5 | |
| Millionen aus, 20 Prozent des Umsatzes. European Homecare, so | |
| Pressesprecher Klaus Kocks in einem Interview mit dem Spiegel, sei der | |
| „Aldi unter den Anbietern.“ Nur die Umsatzrendite, so Kocks, sei besser als | |
| die des Discounters. | |
| Auch in einem anderen Bereich ist European Homecare führend, gegen das | |
| Unternehmen gibt es eine rekordverdächtige Anzahl strafrechtlicher | |
| Vorwürfe: | |
| Burbach, Nordrhein-Westfalen, 2014: Zehn Mitarbeitern der European Homecare | |
| und sechsundzwanzig Mitarbeitern des zuständigen Wachdienstes, der durch | |
| das Unternehmen beschäftigt war, wird vorgeworfen, Bewohner genötigt und | |
| misshandelt zu haben. Geflüchtete sollen in ein „Problemzimmer“ eingesperrt | |
| und gequält worden sein. Ein Handyfoto zeigt, wie einer der Wachmänner | |
| seinen Stiefel in den Nacken eines Geflüchteten drückt, der am Boden liegt. | |
| Es kommt zur Anklage. Das Hauptverfahren hat noch nicht begonnen. | |
| Finnentrop, Nordrhein-Westfalen, 2016: Einem Heimleiter wird vorgeworfen, | |
| eine Syrerin, die er in der Unterkunft in Finnentrop kennengelernt hat, | |
| viermal vergewaltigt zu haben. In E-Mails hat er sich als „Dr. med“ | |
| ausgegeben, obwohl er nie Medizin studiert hat. Der Niederländer ist, schon | |
| bevor er beginnt, in Finnentrop für European Homecare zu arbeiten, 19-mal | |
| strafrechtlich auffällig geworden. Für eine Verurteilung reichen die | |
| Beweise nur im Anklagepunkt des Titelmissbrauchs. Das Landgericht Arnsberg | |
| verurteilt ihn zu neun Monaten auf Bewährung. | |
| Niederkrüchten, Nordrhein-Westfalen, 2017: Das Unternehmen hält sich nicht | |
| an den vertraglich mit dem Land vereinbarten Personalschlüssel, stellt die | |
| Bezirksregierung Düsseldorf bei Kontrollen fest. Zu wenige Mitarbeiter | |
| betreuen zu viele Bewohner. Außerdem kassiert European Homecare | |
| gleichbleibend viel Geld von der Stadt, auch wenn die Unterkünfte nicht | |
| voll belegt sind. Die Bezirksregierung reduziert daraufhin die Zahlungen. | |
| Essen, Nordrhein-Westfalen, 2017: Das Unternehmen stellt einen gelernten | |
| Lehrer für Biologie und Chemie zunächst als Betreuer ein. Dann teilt | |
| European Homecare ihm in einem Schreiben mit, dass er ab sofort auf der | |
| Stelle des Sozialpädagogen arbeitet, obwohl er den entsprechenden Abschluss | |
| nicht hat. | |
| ## Oft werden die Betroffenen unter Druck gesetzt | |
| Trotz alldem wurden auch im Sommer 2017 neue Verträge an European Homecare | |
| vergeben – vom Land Nordrhein-Westfalen für die Zentrale | |
| Unterbringungseinrichtung in Mettmann und eine weitere in Rüthen. Vom Land | |
| Niedersachsen für das größte Ankunftszentrum im Norden, Bad | |
| Fallingbostel-Oerbke. Und auch vom Land Sachsen für die | |
| Erstaufnahmeeinrichtung in der Hamburger Straße in Dresden – dort, wo | |
| Argjent Mehmeti mit seiner Familie gelebt hat. Das Deutsche Rote Kreuz | |
| betrieb die Einrichtung bis August 2017, dann kam European Homecare. | |
| Fragt man Holm Felber, Pressesprecher der Landesdirektion Sachsen, warum | |
| das Deutsche Rote Kreuz den Zuschlag nicht erneut bekommen hat, sagt er: | |
| „Der neue Anbieter konnte garantieren, dass er die Leistungen auch | |
| erbringen wird.“ Zu einem günstigeren Preis? „Das war in jedem Fall so.“ | |
| Bei welchen Positionen genau European Homecare günstiger war, ist nicht zu | |
| erfahren. | |
| Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat NRW hat eine Vermutung: „Das Einzige, | |
| woran man sparen kann, ist Personal.“ Der Personalschlüssel werde von | |
| Betreibern zwar formal eingehalten, aber die Mitarbeiter wiesen niedrigere | |
| Qualifizierung auf als von European Homecare, kurz EHC, angegeben. | |
| Pressesprecher Klaus Kocks schreibt auf Anfrage der taz: „EHC ist wegen | |
| seines Qualitätsmanagements zum qualitativen Marktführer dieser | |
| Anbietergruppe geworden; das kontrollieren in Deutschland Hunderte von | |
| Gebietskörperschaften tagtäglich.“ Eine abweichende Praxis würde sofort und | |
| an vielen voneinander unabhängigen Stellen bemerkt. | |
| Dass die staatlichen Kontrollen, auf die European Homecare sich bezieht, | |
| oft nicht ausreichend sind, zeigt die Arbeit von Juliane Pink. Sie ist | |
| Beraterin für Betroffene von rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt in | |
| Dresden und hat den Fall der Familie Mehmeti betreut. Von Januar bis Anfang | |
| September 2017 haben sie und ihre Kollegen insgesamt 130 Beratungen | |
| durchgeführt. Pink schätzt, dass nur 20 Prozent der Fälle, die sie betreut, | |
| zur Anzeige gebracht werden. Dabei geht es um Körperverletzung, Bedrohung | |
| oder Nötigung – vor allem durch Sicherheitspersonal. Oft werden die | |
| Betroffenen unter Druck gesetzt: Sie kenne Fälle, in denen Zimmer | |
| regelmäßig durchsucht wurden oder Essen rationiert wurde. | |
| Seitdem European Homecare Betreiber der Erstaufnahmeeinrichtung in Dresden | |
| ist, könnten sie, ihre Kollegen und der Flüchtlingsrat die Unterkunft nicht | |
| mehr ohne Anmeldung betreten: „Im Moment erreichen uns deshalb weniger | |
| Vorfälle, in den letzten zwei Monaten gar keine mehr“, sagt Pink. | |
| ## Ein Berliner Heimleiter war ständig betrunken | |
| Wenn es doch mal zu einer Anzeige gegen Sicherheitspersonal kommt, haben | |
| die Kläger schlechte Karten. Oft ist nicht nur die Beweislage schwierig, | |
| den Bewohnern der Unterkünfte wird auch nicht geglaubt. „Ein | |
| Securitymitarbeiter hat in einem Ermittlungsverfahren einen ganz anderen | |
| Stand als Geflüchtete. Den Eindruck haben wir“, sagt Juliane Pink, „und den | |
| gewinnt man auch immer wieder, wenn man sie zur Polizei begleitet.“ So | |
| folge bei Körperverletzung meistens nichts, manchmal eine Entlassung und | |
| nur ganz selten ein Gerichtsurteil. | |
| Ein weiteres Beispiel dafür, dass staatliche Kontrollen in den letzten | |
| Jahren nicht ausreichend waren, ist der Fall der mittlerweile geschlossenen | |
| Notunterkunft in der Berliner Gürtelstraße. Maria Wehle hat bis zur | |
| Schließung im Dezember 2016 dort gearbeitet – und ist seitdem psychisch und | |
| körperlich so angeschlagen, dass sie vorerst gar nicht mehr arbeiten kann. | |
| „Ich habe nur noch 40 Kilo gewogen, das hat mich schon sehr mitgenommen“, | |
| sagt sie bei einem Treffen Ende Mai. Auch Monate nach Ende ihrer | |
| Beschäftigung sieht man ihr die Erschöpfung noch an. Nur zögerlich hatte | |
| sie einem Interview zugestimmt. | |
| Geführt wurde die Notunterkunft in der Gürtelstraße vom Berliner Verein zur | |
| Förderung von Arbeit, Forschung und Bildung e. V., kurz AFB. Leiter war | |
| Farhad V., ein Mann, der häufig betrunken war, Bewohner bedroht oder sogar | |
| angegriffen hat – so beschreiben es Maria Wehle und Thomas Barthel, | |
| Vorstand des Vereins „Friedrichshain Hilft“, der dort aktiv war. | |
| Bereits am 16. März 2016 wendet sich Friedrichshain Hilft schriftlich an | |
| das Landesamt für Gesundheit und Soziales, das damals noch zuständig für | |
| Flüchtlinge war, um die Behörde auf die Missstände in der Unterkunft | |
| aufmerksam zu machen. | |
| In der E-Mail steht: „Wir sind nicht länger gewillt, mit einem Heimleiter | |
| zusammenzuarbeiten, der ein offensichtliches Alkoholproblem und dieses auch | |
| im Dienst nicht im Griff hat, der dazu neigt, Bewohnerinnen und Bewohner im | |
| angetrunkenen wie im nüchternen Zustand anzubrüllen und zu beschimpfen.“ | |
| In dem Schreiben heißt es weiter, dass Farhad V. versucht habe, einer | |
| weiblichen Bewohnerin das Kopftuch herunterzureißen und Tücher, die als | |
| Sichtschutz befestigt waren, zu entfernen. Die Bewohnerinnen hätten sich | |
| „häufig massiv belästigt“ gefühlt. Alle Versuche der taz, Farhad V. oder | |
| seinen Arbeitgeber, den Verein AFB, für eine Stellungnahme zu erreichen, | |
| blieben erfolglos. | |
| „Ich hab immer bis zwölf Uhr nachts gearbeitet, ihn oft nachts betrunken | |
| mitbekommen“, sagt Maria Wehle. Weil sie noch immer Angst vor Farhad V. | |
| hat, wurde ihr Name in diesem Text geändert. Wehle hat keine Ausbildung zur | |
| Sozialarbeiterin und war vor ihrer Anstellung ehrenamtlich in der | |
| Unterkunft tätig. Laut Wehle wollte Farhad V. eine Betreuung rund um die | |
| Uhr – hatte aber viel zu wenige Mitarbeiter dafür. | |
| Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, das im August 2016 die | |
| Zuständigkeit vom Landesamt für Gesundheit und Soziales übernommen hat, | |
| schickt Mitarbeiter der Qualitätskontrolle in die Unterkunft, doch Maria | |
| Wehle und Friedrichshain Hilft berichten übereinstimmend, dass diese mehr | |
| oder weniger angekündigt waren und niemals abends kamen. | |
| Wehle sagt: „Ich hätte mir gewünscht, dass sie nicht nur zu ihren | |
| Bürozeiten kommen, wo er auch meistens nüchtern war.“ Weil ihre Schicht | |
| immer erst um 16 Uhr begann, sei sie nicht von den Mitarbeitern des | |
| Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten befragt worden. Dessen | |
| Pressesprecher dementiert diese Darstellung: Kontrollen fänden zu | |
| unterschiedlichen Tageszeiten und unangekündigt statt. | |
| Farhad V. lässt sich laut Wehle und Friedrichshain Hilft von den Bewohnern | |
| unterschreiben, dass alles in Ordnung ist. „Das hat er mit dem | |
| Schreckensgespenst verbunden, dass das Heim sonst geschlossen wird und dann | |
| vielleicht alle nach Tempelhof kommen“, sagt Wehle. Der ehemalige Flughafen | |
| ist eine der größten Massenunterkünfte Deutschlands. | |
| Das Landesamt kommt so zu dem Schluss, dass es keine Probleme gibt. | |
| Gleichzeitig spitzt sich die Situation in der Unterkunft in den folgenden | |
| sechs Monaten zu. Wehle sei zeitweise allein für 200 Menschen zuständig | |
| gewesen, während Farhad V. in der nahe gelegenen Kneipe „festgetackert“ | |
| gewesen sei. Sie gibt Essen aus, kümmert sich um Kinder, schlichtet | |
| Streitereien. Sie denkt immer wieder daran zu kündigen, will aber die | |
| Bewohner nicht mit V. allein lassen. | |
| „Am Ende war das Glück, dass er auch morgens betrunken war und wir dann | |
| beim Landesamt jemanden erreicht haben“, sagt Maria Wehle. Im Herbst 2016 | |
| schlägt eine Ärztin Alarm, die in der Unterkunft aktiv ist. Friedrichshain | |
| Hilft schickt ein weiteres Beschwerdeschreiben an das Landesamt, dann | |
| handelt die Behörde. Sie beraumt ein Mediationsgespräch an, in dem Farhad | |
| V. mit sofortiger Wirkung den Dienst quittiert. Kurze Zeit später wird die | |
| Unterkunft geräumt. Rechtliche Konsequenzen gibt es weder für den Betreiber | |
| noch für den Heimleiter. | |
| Warum ist das Land Berlin nicht früher und energischer vorgegangen? | |
| Hinweise auf Fehlverhalten und Vertragsbruch durch den Betreiber gab es | |
| spätestens seit dem ersten Beschwerdebrief im März 2016. Das Landesamt für | |
| Flüchtlingsangelegenheiten sagt hierzu: „Die Qualitätssicherung verfügt | |
| über Außendienstmitarbeiter, die regelmäßig die gut 100 Unterkünfte des | |
| Landesamts kontrollieren. Wir gehen allen Hinweisen binnen kürzester Frist, | |
| oftmals bereits am nächsten Tag nach. Sollten dabei Mängel auftreten, wird | |
| dem Betreiber eine Frist eingeräumt, binnen der er die Missstände abstellen | |
| kann.“ | |
| Die Einhaltung der getroffenen Vereinbarungen werde kontrolliert: „Für den | |
| Fall, dass der Betreiber nicht in der Lage ist, die Missstände zu | |
| beseitigen, droht im äußersten Fall die Kündigung des Vertrags.“ Eigentlich | |
| müssten Kontrollen noch weiter gehen – sie müssten grundsätzlich | |
| stattfinden und nicht anlassbezogen. Genügt es wirklich, nur auf | |
| Problemmeldungen von Bewohnern zu reagieren, die oft ziemlich | |
| eingeschüchtert sind? | |
| Ein Instrument, das mit dem Anspruch entwickelt wurde, Unterkünfte | |
| ganzheitlich und ohne Anlass zu evaluieren, ist der sächsische Heim-TÜV. Er | |
| wurde bereits 2011 vom Büro des Ausländerbeauftragten des Landes Sachsen, | |
| Geert Mackenroth, entwickelt. Der [2][dazugehörige Fragebogen] verlangt | |
| explizit auch Auskünfte zu Übergriffen durch Angestellte der Unterkunft | |
| oder Sicherheitsbeamte und beinhaltet detaillierte Fragen zu Spannungen | |
| zwischen Bewohnern und Heimleitung. | |
| ## Keine verbindlichen Mindeststandards | |
| Verwunderlich allerdings: Das letzte Mal, dass dieser Heim-TÜV auf | |
| Gemeinschaftsunterkünfte angewandt wurde, war 2013. Eine Evaluierungsrunde | |
| 2017 in Sachsen beschäftigte sich nur mit der dezentralen Unterbringung. | |
| Wenn es die Instrumente schon gab, warum hat man sie dann seit 2015 nicht | |
| angewandt? | |
| Aus der Geschäftsstelle des sächsischen Ausländerbeauftragten heißt es | |
| dazu, dass der Heim-TÜV für die vier Mitarbeiter schlicht nicht | |
| durchführbar gewesen sei, schließlich habe es zu Hochzeiten bis zu 160 | |
| Unterkünfte gegeben. | |
| In vielen Bundesländern gibt es keine Mindeststandards für | |
| Gemeinschaftsunterkünfte. In Nordrhein-Westfalen wurden diese zeitweise | |
| aufgehoben, die Vertragsstrafe ausgesetzt. Erst im Januar 2017 wurde sie | |
| wieder eingeführt, das heißt, das Land kann jetzt wieder Sanktionen | |
| verhängen, wenn der Betreiber den vertraglich zugesicherten Leistungen | |
| nicht nachkommt. Davor war ein Einschreiten erst dann möglich, wenn es | |
| strafrechtlich relevant wurde. | |
| Nach den Misshandlungsfällen in Burbach wurde in Nordrhein-Westfalen | |
| außerdem ein 8-Punkte-Plan zur Einstellung von Sicherheitskräften | |
| eingeführt: verbindliche Standards, die unter anderem den Einsatz von | |
| Subunternehmen untersagen und Bewerber verpflichten, ein polizeiliches | |
| Führungszeugnis vorzulegen. „Insgesamt hat sich da einiges getan“, sagt | |
| Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat NRW. Was aber noch fehlt – und nicht nur | |
| in Nordrhein-Westfalen – ist Transparenz. „Ich glaube, dass immer noch | |
| nicht der Wille da ist, alles von Grund auf aufzuarbeiten und an die | |
| Öffentlichkeit zu bringen.“ | |
| Ausschreibungen für Betreiber sind meistens nicht öffentlich, genauso wenig | |
| die Einstellungskriterien von Sicherheitskräften. Damit bleibt die Tür für | |
| Geschäftemacherei weiter offen. | |
| ## Was zählt? Preis oder Qualität? | |
| Betreiber und Behörden müssten offensiver mit Fehlern umgehen, fordern die | |
| Flüchtlingsräte. Dafür müsste auch innerhalb der Unterkünfte eine | |
| Atmosphäre herrschen, die den Bewohnern Raum für Beschwerden gibt. Ein | |
| Großteil dieser Angebote ist aber noch nicht niedrigschwellig genug, und | |
| viele Geflüchtete fürchten die Konsequenzen, wenn sie eine Machtperson wie | |
| einen Sicherheitsmann oder einen Heimleiter melden. | |
| In Nordrhein-Westfalen gibt es mittlerweile eine überregionale | |
| Beschwerdestelle, die direkt am Flüchtlingsrat angedockt ist. Sie ist aber | |
| nur für die vom Land finanzierten Unterkünfte zuständig; was auf kommunaler | |
| Ebene passiert, erreicht sie nicht. Das ist symptomatisch für einen | |
| Flickenteppich aus Lösungsversuchen mit vielen Löchern und keinerlei | |
| einheitlichen Standards. | |
| Vielerorts versucht deshalb der Staat wieder mehr Aufgaben an sich zu | |
| nehmen. Das Land Berlin etwa errichtet Immobilien für Unterkünfte nun | |
| selbst. Die Betreiber aber haben nach wie vor ein großes Drohpotenzial: Als | |
| die Berliner Integrationssenatorin Elke Breitenbach von der Linkspartei im | |
| Juli 2017 ankündigte, die Zusammenarbeit mit dem umstrittenen | |
| Flüchtlingsheimbetreiber Gierso zu beenden, drohte das Unternehmen, die | |
| Unterkünfte umgehend zu schließen und 900 Bewohner auf die Straße zu | |
| setzen. | |
| Man ließe sich nicht erpressen, hieß es von Breitenbach, die Menschen | |
| wurden eilig anderweitig untergebracht. | |
| Selbst wenn sich ein Umdenken abzeichnet und der Staat wieder mehr | |
| übernimmt, er wird auf privatwirtschaftliche Unternehmen und | |
| Wohlfahrtsverbände angewiesen bleiben, um Geflüchtete unterzubringen. Und | |
| so ergeben sich immer wieder neue Probleme im Zusammenspiel von Staat und | |
| Betreibern, die nur durch klare Kontrollmechanismen behoben werden können. | |
| In vielen Bundesländern wurde kürzlich die Gewichtung von Preis zu Qualität | |
| in den Ausschreibungen geändert. Waren es in Berlin beispielsweise 40 | |
| Prozent Preis und 60 Prozent Qualität, sind es jetzt 70 Prozent Qualität | |
| und nur noch 30 Prozent Preis. Als Qualitätskriterien gelten etwa | |
| qualifizierte Mitarbeiter, Brandschutz sowie Jugend- und | |
| Kinderschutzmaßnahmen. | |
| Für die Flüchtlingsunterkunft am ehemaligen Flughafen Tempelhof hat sich | |
| unter diesen Bedingungen allerdings kein einziger Betreiber beworben. | |
| Vermutlich, weil es sich für sie nicht lohnt: 2019 sollen die Container | |
| wieder abgerissen werden. | |
| 13 Nov 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=pX-mzPmCIrA | |
| [2] https://sab.landtag.sachsen.de/dokumente/sab/Fragebogen_16052013.pdf | |
| ## AUTOREN | |
| Yasmin Polat | |
| Pascale Müller | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Security | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Sicherheitspersonal | |
| European Homecare | |
| Missbrauch | |
| Unterbringung von Geflüchteten | |
| Wachpersonal | |
| Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin | |
| Burbach | |
| Flüchtlinge | |
| Prozess | |
| Flüchtlinge | |
| Geflüchtete | |
| Geflüchtete | |
| Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Fußball | |
| Prostitution | |
| Schwerpunkt Überwachung | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Qualität von Berliner Wohnheimen: Jeder darf sich beschweren | |
| Bei der „Berliner unabhängigen Beschwerdestelle“ können HeimbewohnerInnen | |
| Missstände beanstanden. Aber hält der „Heim-TÜV“, was er verspricht? | |
| Misshandelte Flüchtlinge in Burbach: Erste Urteile gegen Wachleute | |
| Das Gericht verurteilt drei Wachleute zu einer Geld- bzw. Bewährungsstrafe. | |
| Die Verurteilten seien Teil eines Bestrafungssystems in der Unterkunft | |
| gewesen. | |
| Misshandelte Flüchtlinge in Burbach: Folter im Flüchtlingsheim | |
| Tritte, Schläge, Arrest: Wachleute hatten 2014 in Burbach Geflüchtete | |
| gequält. Nun begann der Prozess gegen 29 Angeklagte in Siegen. | |
| Flüchtlingsheim in Burbach: Eingesperrt und gedemütigt | |
| Monatelang sollen Wachleute BewohnerInnen eines Flüchtlingsheims gequält | |
| haben. Nun beginnt der Mammutprozess in Siegen. | |
| Kölner Hotel als Flüchtlingsunterkunft: Millionenvertrag mit Lokalpolitikerin | |
| Kaum noch Flüchtlinge, aber viel Geld für deren Unterbringung. Köln | |
| streitet über den Vertragsabschluss mit einer Hotelbetreiberin aus den | |
| Reihen der CDU. | |
| Flüchtlinge in Containern: Überflüssiger Ausnahmezustand | |
| In einigen niedersächsischen Kommunen müssen Geflüchtete in Containern | |
| leben, obwohl Plätze in Wohnungen frei sind. | |
| Gewalt gegen Flüchtlinge: Täglich mehr als vier Straftaten | |
| Die ostdeutschen Bundesländer sind Spitzenreiter: Bundesweit gab es 2017 | |
| rund 1700 Straftaten gegen Geflüchtete – nicht selten sind sie extrem | |
| brutal. | |
| Kommentar Unterbringung Geflüchteter: Noch schlimmer geht immer | |
| Notunterkünfte waren mal Notbehelfe. Inzwischen gelten sie als normal. Denn | |
| es gibt noch prekärere Unterkünfte. | |
| Angriff auf afghanisches Kind in Sachsen: Rassist nach Hass-Attacke angeklagt | |
| In Sachsen hatte ein Mann einen afghanischen 15-Jährigen beschimpft und | |
| geschlagen. Nun wird er wegen Körperverletzung angeklagt. | |
| Vorwurf der Gruppenvergewaltigung: Neun Jahre Haft für Robinho | |
| Der 33-jährige Brasilianer soll bereits 2009 einer Frau gegenüber | |
| gewalttätig gewesen sei. Gegen das jetzige Urteil will er in Berufung | |
| gehen. | |
| Verdacht gegen Berliner Security-Dienste: Flüchtlinge in Prostitution vermitte… | |
| Ein Zuhälter-Netzwerk in Berliner Flüchtlingsheimen? Ein ZDF-Beitrag deckt | |
| auf, dass Sicherheitsleute offenbar den Erstkontakt vermitteln. | |
| Überwachungssoftware für Geflüchtete: Der gläserne Flüchtling | |
| Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein setzen bei der Unterbringung von | |
| Flüchtlingen auf eine Überwachungssoftware. Kritiker sehen massive | |
| Datenschutzverstöße | |
| Angebliche Übergriffe im Flüchtlingsheim: „Wir nehmen die Vorwürfe sehr er… | |
| Geflüchtete Frauen werfen Security-Mitarbeitern in Köln schwere sexuelle | |
| Übergriffe vor. Die Polizei ermittelt – bislang ergebnislos. |