# taz.de -- Linken-Abgeordneter Ferat Kocak: „Ich bin Aktivist im Parlament“ | |
> Der Antifaschist Ferat Kocak war Opfer eines rechten Brandanschlags. Nun | |
> sitzt er für die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus. | |
Bild: Ferat Kocak im März 2019 bei einer Kundgebung gegen die rechtsextremen A… | |
taz: Herr Kocak, Sie haben sich gegen eine Koalition mit SPD und Grünen | |
ausgesprochen; doch die Koalitionsgespräche laufen. Bereuen Sie schon, dass | |
Sie sich ins Abgeordnetenhaus haben wählen lassen? | |
Ferat Kocak: Nein, im Gegenteil. Ich kann meine Position jetzt im Parlament | |
vertreten. Ich will die Stimme der sozialen Bewegungen sein, ihnen Raum | |
geben und meine Ressourcen für sie zur Verfügung stellen. Das heißt, dass | |
ich mich jetzt nochmal mit [1][DW Enteignen] treffe, mit der | |
[2][Krankenhaus-] und [3][Klimabewegung] und antirassistischen | |
Initiativen, um mit ihnen über ihre Haltelinien für Koalitionsverhandlungen | |
zu sprechen. Wenn wir uns als Partei verstehen, die für und mit den | |
Bewegungen Politik macht, müssen wir diese kennen. | |
Was spricht gegen eine Regierungsbeteiligung? | |
Wir sind nur dritte Kraft, [4][haben Prozentpunkte verloren] und keinen | |
Regierungsauftrag erhalten. Im Sondierungspapier erkenne ich vor allem die | |
Handschrift von Franziska Giffey, wenig die der Linken, wenig radikale | |
Politik. Eine Ampel hätte auch kein wesentlich anderes Papier | |
hervorgebracht. Wenn das die Basis für Koalitionsverhandlungen ist, sollten | |
wir keine Angst davor haben, in die Opposition zu gehen. | |
Was wäre dann besser? | |
Dann müssten wir uns mit unserer Kritik an SPD und Grünen nicht | |
zurückhalten und könnten viel besser soziale Bewegungen für uns gewinnen. | |
Ich will den Wähler*innen sagen: Wählt uns und wir kämpfen gemeinsam. | |
Nicht: Wählt uns und wir regieren für euch. Auch bliebe die Kritik an der | |
Regierung dann nicht Rechten und Konservativen überlassen. | |
Waren die vergangenen fünf Jahre der Linken in der Regierung also eine | |
Schwächung für die sozialen Bewegungen und ihre Forderungen? | |
Nicht an allen Stellen. Aber schauen Sie auf die Forderung nach einem | |
Untersuchungsausschuss zum [5][Neukölln-Komplex,] den wir Betroffene von | |
rechtem Terror und sehr viele antifaschistische Gruppen fordern. Die Linke | |
hat zwei einstimmige Parteitagsbeschlüsse dazu, aber wir konnten ihn | |
trotzdem nicht durchsetzen. Es ist sinnbildlich. Wir sagen, wir sind gegen | |
Abschiebung – die SPD schiebt ab. Wir sind gegen [6][Räumung linker | |
Freiräume] – die SPD setzt das durch. Und weil wir mit denen an der | |
Regierung sind, war unsere Kritik auch nicht so laut. Dadurch verschließen | |
wir uns die Türen nach links. | |
Wäre etwas davon anders gelaufen, wenn die Linke in der Opposition gewesen | |
wäre? | |
Wir hätten als Oppositionspartei zumindest den Untersuchungsausschuss | |
beantragt und viel mehr Druck auf SPD und Grüne ausüben können, dem | |
zuzustimmen. Es wäre für sie dann schwierig gewesen, sich dem zu entziehen. | |
Die Räumungen hätten wohl trotzdem stattgefunden, aber es wäre nicht auf | |
uns zurückzuführen. Auch hätten wir denen, die dagegen gekämpft haben, eine | |
viel lautere Stimme geben können. | |
Wie wollen Sie Rot-Grün-Rot noch verhindern? | |
Ich sage nicht, dass ich eine Regierungsbeteiligung partout ablehne. Wir | |
müssen aber mehr von unseren Haltelinien durchsetzen: den Volksentscheid | |
umsetzen. Das Tempelhofer Feld nicht bebauen. Stopp der S-Bahn | |
Privatisierung. Keine Abschiebungen. Ein 365-Euro-Ticket für den | |
öffentlichen Nahverkehr. Ich weiß, dass zu einer Koalition auch Kompromisse | |
dazugehören, aber mit einer [7][Franziska Giffey] wird das schwierig. | |
Sie kennen sie noch aus Neukölln. | |
Giffey kommt aus der Buschkowsky-Tradition; das sagt schon alles. Sie hat | |
sich damals medial inszeniert, wie sie sich mithilfe des | |
Sicherheitsdienstes von Michael Kuhr gegen Sperrmüll in Neukölln kümmert – | |
anstatt um den rechten Terror. Hätte sie sich rechtzeitig darum gekümmert, | |
hätte es den Anschlag auf mich vielleicht nicht gegeben. Giffey macht | |
populistische Politik. | |
Verstehen Sie sich jetzt als Politiker oder weiterhin als Aktivist? | |
Mit dem Wort Politiker kann ich mich nicht identifizieren. Ich bin Aktivist | |
im Parlament. Es ist wichtig, mir das immer wieder zu sagen, um den Bezug | |
zur Straße aufrechtzuerhalten und einen Mind Change hin zur Anpassung an | |
dieses System zu verhindern. [8][Ich bin seit meinem 16. Lebensjahr | |
Aktivist auf der Straße], im Prinzip seit meiner Geburt, weil meine Eltern | |
in türkischen und kurdischen linken Gruppen aktiv waren und mich immer | |
mitgenommen haben. Ich kenne es nicht anders, als dass wir auf der Straße | |
gekämpft haben und die Politik das gemacht hat, was sie für richtig hält. | |
Ich will nicht dasselbe machen, was ich die ganze Zeit erlebt habe. | |
Wird das einfach oder werden Kompromisse nötig sein? | |
Ich weiß es nicht. Ich bin sehr stur. Das sagt meine Mutter auch immer. | |
Fraktionsdisziplin? | |
Ich bin sehr undiszipliniert. | |
Ihre Partei weiß aber, wen sie sich da ins Parlament geholt hat? | |
Ich will die Partei aufbauen. Ich habe mich bereit erklärt, nur so viel | |
Geld für mich zu behalten, wie es dem Tarif der Linkspartei entspricht, | |
also nur so viel zu verdienen wie meine Mitarbeiter. Es geht mir darum, | |
keine Hierarchie zwischen Mitarbeiter*innen und Mandat zu schaffen. | |
Der Rest fließt in die Basisarbeit in Neukölln, um Strukturen aufzubauen. | |
Ansonsten denke ich, dass unterschiedliche Meinungen das sind, was eine | |
Linke ausmacht. Immer Einigkeit zu zeigen, ist nicht meine Devise. Es würde | |
sicher hart für mich werden, wenn es auf meine Stimme ankommt, aber ich | |
glaube, das wird aufgrund der Mehrheitsverhältnisse eher nicht passieren. | |
Wie bereiten Sie sich auf Ihre neue Aufgabe vor? | |
Ich muss verstehen, wie das ganze System funktioniert, was bürokratisch auf | |
mich zukommt. Eigentlich hasse ich Bürokratie. | |
Und inhaltlich? | |
Ich lerne, wie Klimaschutz auf parlamentarischer Ebene funktioniert, denn | |
in dieser Fachgruppe verhandle ich jetzt mit. Da lese ich mich ein und | |
treffe mich auch mit [9][Michael Efler, unserem bisherigen klimapolitischen | |
Sprecher]. Um die Klimakämpfe auf den Straßen aus dem Parlament heraus zu | |
stärken, ist es sinnvoll, dass ich da jetzt mit einsteige. | |
Ich dachte, Sie werden sich um Innenpolitik, um Strategien gegen rechts | |
kümmern? | |
In der Innenpolitik ist meine Meinung doch noch einmal anders als die der | |
Partei. Aus Antira-Perspektive bin ich der Ansicht, dass wir schon längst | |
über [10][„Defund the police“] sprechen müssen; also weniger Geld für die | |
Polizei und ein anderes Verständnis von Sicherheit statt über den Ausbau | |
der Polizei, wie es unser Wahlprogramm fordert. Aber ich fürchte, daran | |
würde jede Koalition scheitern. Natürlich werde ich auch im Bereich | |
„Strategien gegen rechts“ meine Erfahrungen in die parlamentarische Arbeit | |
der Linksfraktion einbringen. | |
Was sollte Ihre Partei in dem Bereich herausholen? | |
Ein ganz wichtiges Thema ist für mich [11][Racial Profiling], denn das ist | |
wie der Schlag eines ganzen Staates gegen einen einzelnen Menschen. Junge | |
Menschen, die damit konfrontiert sind, finden kein Vertrauen mehr. Es muss | |
Gesetze geben, die dieses Verhalten unter Strafe stellen – und wir brauchen | |
eine Beweislastumkehr. Die Polizei soll beweisen müssen, dass sie nicht aus | |
rassistischen Gründen kontrolliert hat. | |
Den Untersuchungsausschuss zu Neukölln braucht es auch noch? | |
Ja! Alle drei Parteien fordern das. Sogar Giffey hat es bei einer | |
Podiumsdiskussion im Wahlkampf gesagt, also muss der jetzt kommen. Für mich | |
ist wichtig, dass wir Experten dazuholen, von der Mobilien Beratung gegen | |
Rechtsextremismus bis zur Opferberatung ReachOut, und mit ihnen | |
diskutieren, wie wir das umsetzen, damit wir am Ende auch einen Output | |
haben. Wir müssen in die Tiefe der Fehler der Sicherheitsbehörden | |
einsteigen, die in den elf Jahren des rechten Terrors gemacht wurden. Ich | |
will ein Verständnis dafür erlangen, warum es all die Jahre eine | |
Aufklärungsrate von null Prozent gab. Ist der Verfassungsschutz da | |
involviert? Gibt es V-Männer? Parallel dazu muss es einen Runden Tisch mit | |
Anti-rechts-Initiativen geben, die den Ausschuss von außen beobachten und | |
vielleicht so etwas wie ein Tribunal durchführen. | |
2018 wurde Ihr Auto von Nazis in Brand gesteckt, das Feuer griff auf Ihr | |
Haus über. Wird jetzt mit einer größeren öffentlich Wahrnehmung als | |
Parlamentarier die Gefahrenlage für Sie noch größer? | |
Ich bin mir sicher, dass ich in den letzten Jahren mit meinem | |
antifaschistischen Engagement dafür gesorgt habe, dass die Nazis mich im | |
Visier haben. Wenn sie einen Moment finden, wird bestimmt etwas passieren. | |
Aber ich versuche, diese Momente zu minimieren. | |
Wissen Sie schon, wie Sie AfD-Abgeordneten im Parlament begegnen werden? | |
Ich bin schon zweien begegnet. | |
Und? | |
Ich bin nicht mit ihnen in den Fahrstuhl gestiegen. Ich habe sie nur | |
angeguckt. Maximale Distanz. Wenn es aber drauf ankommt: Konfrontation geht | |
auch klar. | |
4 Nov 2021 | |
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