| # taz.de -- Lepiziger Buchmesse 2019: Der Zukunft Platz machen | |
| > New Journalism, LGBT und Putin-Kritikerin: Die Autorin Masha Gessen | |
| > erhält in Leipzig den Preis für Europäische Verständigung. | |
| Bild: Masha Gessen (re) wird von Heinrich Riethmüller, dem Vorsitzenden des B�… | |
| Zu ihrer Eröffnung ehrte die Leipziger Buchmesse 2019 in Masha Gessen eine | |
| scharfe Kritikerin des Regimes Wladimir Putins. Bei der Verleihung des | |
| Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung im Gewandhaus hob der | |
| Historiker Gerd Koenen in seiner Laudatio hervor, wie sehr in Gessens | |
| Texten „analytisches Nachdenken und gelebtes Leben eng zusammengehen“. Ihr | |
| im Stile des New Journalism gehaltenes Werk vermischt klassische Genres. | |
| Einige werfen der in den USA lebenden russischen Emigrantin und | |
| LGBT-Aktivistin von daher eine zu starke Subjektivität in ihrer Kritik am | |
| Regime Wladmir Putins vor. Andere wie Laudator Koenen in Leipzig loben | |
| gerade das Offene der Sprecherposition und sehen in Gessen eine „eminent | |
| moderne Autorin, die die Abenteuer einer persönlichen Selbstfindung und | |
| Identität immer mit den Bedürfnissen einer sozialen und familiären | |
| Verbindlichkeit zusammen zu denken und zu leben sucht“. | |
| In ihrem 2018 bei Suhrkamp veröffentlichten Werk „Die Zukunft ist | |
| Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor“ erzählt die | |
| Autorin von vier Lebensläufen aus der „Generation 1984“. Es sind junge | |
| Menschen, die ihre Schulzeit in der zerfallenden Sowjetunion verbrachten | |
| und die Gessen beobachtet, während sie unter der Putin erwachsen werden. | |
| Menschen die vom Alten geprägt sind, aber ihre Träume vom Neuen haben. „Die | |
| Zukunft ist Geschichte“ stellt auf 600 Seiten prominente und weniger | |
| prominente Biografien vor, die in der Gesamtheit einen paradigmatischen | |
| Ausschnitt der Umbruchsphase in Russland bieten. Gessen erzählt etwa von | |
| der jungen Shanna, Tochter des später ermordeten Oppositionellen und | |
| Putin-Gegners Boris Nemzow. Oder von Alexander Dugins Werdegang, dessen | |
| Wendung von einem unter großen Aufwand Heidegger lesenden Philosophen und | |
| Dissidenten zu einem völkischen Stichwortgeber der national-religiösen, | |
| großrussischen Rechten. | |
| „Ich möchte über einen bestimmten Aspekt totalitärer Kontrolle und eine | |
| besondere Erfahrung des Traumas des Totalitarismus reden“, sagt Gessen im | |
| Gewandhaus und begründet damit auch ihre eigene Methode: „Ich möchte über | |
| die Unfähigkeit sprechen, Geschichten zu erzählen.“ Dem | |
| sowjetisch-russischen Totalitarismus liegt die Auslöschung individueller | |
| Herkünfte, Biografien und Narrative zugrunde, die einer strukturellen | |
| Gesamterzählung vom großen vaterländischen Kollektiv weichen mussten. Dabei | |
| geht es nicht um die Behauptung „irgendeines speziellen russischen | |
| Volkscharakters“ wie Gerd Koenen ausführte. | |
| Aber man müsse „die mentalen Folgen“ in den Blick bekommen „dessen, was | |
| Russland im 20. Jahrhundert nicht erst in der Stalin-Ära, sondern schon | |
| seit der Machteroberung der Bolschewiki 1917 sich selbst angetan hat, | |
| physisch und psychisch und von dem fast jede russische Familie auf die ein | |
| oder andere Weise betroffen ist“. | |
| Auch die Familie Gessens. Masha Gessen wurde 1967 in Moskau geboren, als | |
| Kind jüdisch-russischer Eltern. Der ostpolnische Teil ihrer Verwandtschaft | |
| wurde größtenteils von den Deutschen während des Zweiten Weltkriegs | |
| ermordet. Und die in Stalins Sowjetunion Überlebenden bekamen ein „J“ für | |
| Jude in den Pass gestempelt. Sie galten auch dort als „politisch | |
| unzuverlässig“. 1981 emigrierte Gessens Familie mit ihr als Teenagerin in | |
| die Vereinigten Staaten. 1994 kehrte sie als junge Autorin in ihre alte | |
| Heimat zurück, um nach dem Ende der Sowjetunion von dort zu berichten. | |
| Sie tat dies für verschiedene russische und nordamerikanische Medien. 2013 | |
| musste sie, die sich zu ihrer Homosexualität offen bekannte und in einer | |
| lesbischen Partnerschaft mit Kindern lebte, erneut aus Russland flüchten. | |
| Das Regime hatte da schon das angeblich verschwulte und verweichlichte | |
| „Gayropa“ im Visier, die Transformation hin zu einem demokratischen | |
| Rechtsstaat abgebrochen. „Die allumfassende Erklärung, die ich dafür habe,�… | |
| sagt die russisch-amerikanische Schriftstellerin in Leipzig, „dass der | |
| Traum nicht wahr wurde (und dass entsprechende westliche Annahmen völlig | |
| verfehlt waren), liegt in den Folgen des siebzig Jahre andauernden | |
| totalitären Experiments. Ich glaube, dass die russische Gesellschaft und | |
| die Russen dadurch eine tiefgreifende Prägung erfuhren, die das | |
| Sowjetregime weit überdauert hat.“ | |
| ## Maskenhafte Nonchalance | |
| Das sind Sätze, die man im Osten, auch im Osten Deutschlands – der ja eine | |
| nicht ganz unähnliche Phase wie das russische Brudervolk durchlaufen hat – | |
| zumeist nicht gerne hört. Völlig unangemessen in diesem Zusammenhang die | |
| maskenhafte Nonchalance von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer | |
| (CDU) bei seinem Auftritt während der Preisverleihung im Gewandhaus. Masha | |
| Gessens Schriften hätten eine Steilvorlage sein können, um auf die | |
| national-restaurativen Tendenzen im postsowjetischen Teil Europas | |
| einzugehen. | |
| Doch stattdessen redete der Ministerpräsident den nationalistischen | |
| Tendenzen im Osten Europas das Wort, indem er behauptete, man müsse diesen | |
| besser zuhören und mehr Gewicht geben. Da kann es all jene nur frösteln, | |
| die das mit so viel Leidenschaft und Erkenntnisdrang geschriebene Werk | |
| Masha Gessens schätzen. Denn, so Gessen, „eine Geschichte, die nicht | |
| erzählt wird, weigert sich auch einer Zukunft Platz zu machen“. | |
| 21 Mar 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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