| # taz.de -- Koloniales Erbe in Namibia: Das Land der Ahnen | |
| > Vor über 100 Jahren nahmen deutsche Kolonialherren Einheimischen in | |
| > Namibia den Boden weg. Bis heute spaltet die Landfrage die Gesellschaft. | |
| Bild: Die Kargheit des Landes macht es Farmern in Namibia sehr schwer | |
| Windhoek taz | Auf der Farm Düsternbrook steht in der Mittagshitze alles | |
| still, nur die Bettlaken auf der Wäscheleine bläht der Wind. Von Weitem | |
| sind Schreie von Pavianen zu hören. Das Farmhaus liegt auf einer Anhöhe am | |
| Rand des Khomashochlands, nordwestlich von Windhoek. Johann Vaatz, Ende 60, | |
| steht in T-Shirt und Khakishorts auf der Terrasse seiner Farm und blickt | |
| über das trockene Flussbett und die Savanne. | |
| Vaatz lebt von Übernachtungstourismus und Safaris. Nach Düsternbrook kommen | |
| Gäste aus Europa, um Zebras, Giraffen und Leoparden zu sehen. Oder um Tiere | |
| zu schießen, ein Pavian kostet 50 Euro, eine Kudu-Antilope 1.200. Die | |
| Trophäenjagd macht aber nur einen Bruchteil des Geschäfts aus. Zum Konzept | |
| der Gästefarm gehört es, dass die Touristen den Farmalltag in Namibia | |
| erleben und beim Abendessen den Geschichten des Farmers über die Dürre und | |
| die Weite des Landes zuhören. Und Johann Vaatz erzählt gern. | |
| An der Rezeption der Gästefarm steht eine Trinkgeldkasse. Alles, was die | |
| Gäste dort hineinwerfen, verteilt Vaatz an seine 18 Angestellten. Am | |
| meisten bekommen die Frauen, die in der Wäscherei oder anderswo arbeiten, | |
| wo die Touristen sie nicht sehen. Am wenigsten bekommen die Guides, denen | |
| die Touristen nach der Safari ohnehin einen Zehner in die Hand drücken. | |
| „100 Prozent Gerechtigkeit schafft man nie, aber ich versuche das | |
| auszugleichen“, sagt Vaatz. Im Kleinen funktioniert das. | |
| Im Großen ringt Namibia mit der Frage, was Gerechtigkeit heißt – und wie | |
| man historisches Unrecht wiedergutmachen kann. Konkret geht es darum, wie | |
| man enteignetes Land gerecht umverteilt und Menschen für ihren Verlust | |
| entschädigt. Knapp 30 Jahre nach der Unabhängigkeit und [1][mehr als 100 | |
| Jahre nach der Kolonialzeit], in der die Kolonialherren sich Land | |
| aneigneten, auf dem seit Jahrhunderten Menschen ohne Eigentumsurkunde | |
| gelebt hatten, hat die Landfrage nichts von ihrer Sprengkraft verloren. | |
| Kann es eine Lösung für ein Unrecht geben, das so lang zurückliegt? | |
| Als Namibia 1990 nach 30 Jahren des deutschen Kolonialismus und 75 Jahren | |
| südafrikanischen Apartheidregimes unabhängig wurde, beschloss die | |
| Swapo-Regierung, das von Weißen enteignete Land mit einer Landreform an | |
| schwarze Namibier umzuverteilen. Doch die Landreform ging nur sehr langsam | |
| voran: Laut einer Erhebung der Namibia Statistics Agency von 2018 sind bis | |
| heute 70 Prozent des kommerziellen Farmlands im Besitz weißer Farmer, die | |
| nur eine kleine Minderheit der namibischen Bevölkerung ausmachen. | |
| Von seinem Vater hat Johann Vaatz gelernt, dass man im Leben alles | |
| verlieren kann – sein Land, sein Zuhause, alles, was man sich aufgebaut | |
| hat. Als seine Eltern in den 1940er Jahren eine Farm in Namibia kauften, | |
| hatte seine Familie schon eine Landreform hinter sich. Bei der | |
| [2][Oktoberrevolution 1917] enteigneten Kommunisten die Familie seines | |
| Vaters – Schwarzmeerdeutsche, die seit mehreren Generationen in der Ukraine | |
| Landwirtschaft betrieben hatten. Der Grundbesitz wurde in Kolchosen | |
| aufgeteilt. Es kam es zu einer Hungersnot, bei der Millionen Menschen | |
| sterben. | |
| Die Farm Düsternbrook, rund 45 Autominuten von Windhoek entfernt, kauften | |
| Johann Vaatz’ Eltern während des Zweiten Weltkriegs. Als Sicherheit. Sie | |
| hatten Angst, die südafrikanische Verwaltung könnte ihr Geld auf der Bank | |
| einfrieren. Vaatz’ Vater wurde vom südafrikanischen Regime wie viele andere | |
| deutschstämmige Namibier interniert und kehrte erst nach sechs Jahren aus | |
| dem Lager zurück. In den 1960er Jahren bauten sie auf Düsternbrook die | |
| erste Gäste- und Jagdfarm Namibias auf. Johann Vaatz wurde hier geboren und | |
| ist während der Apartheid mit den Kindern der Farmarbeiter aufgewachsen. | |
| „Es war mehr wie eine Großfamilie“, sagt er. „Nur haben die Arbeiter eben | |
| da oben gewohnt und wir hier.“ | |
| Fast sein gesamtes Leben hat er auf Düsternbrook verbracht, und auf einer | |
| Farm heißt das: sieben Tage die Woche schuften, vom Morgengrauen bis nach | |
| Sonnenuntergang, die Wasserstellen kontrollieren, auf Regen hoffen. | |
| Im Oktober 2018 kündigte der namibische Präsident Hage Geingob an, vermehrt | |
| weiße Landbesitzer zu enteignen. Die namibische Verfassung ermöglicht | |
| Enteignungen mit gerechter Entschädigung. Am 27. November werden der | |
| Präsident und das Parlament neu gewählt, und vor diesen Wahlen stellen | |
| einige mit Vehemenz die Frage, ob nun nicht zurückgeholt werden muss, was | |
| zu Kolonialzeiten gestohlen wurde. Notfalls ohne Entschädigung. | |
| Vor einer Enteignung habe er keine Angst, sagt Vaatz. „Ich bin namibischer | |
| Bürger, warum sollte ich Angst haben? Ich gehöre zu diesem Land. Warum | |
| sollte ich enteignet werden? Nur weil ich weiß bin? Das wäre ja | |
| rassistisch.“ Er halte grundsätzlich nicht viel von Umverteilung. „Mir | |
| fehlen da die Erfolgsgeschichten. Deswegen frage ich mich: Was wird | |
| gewonnen? Befriedigt man nur eine ideologische Gerechtigkeit, oder ist das | |
| Endziel, dass es der Bevölkerung besser geht?“ Auf die Frage, was für ihn | |
| Gerechtigkeit bedeute, denkt er einen Moment nach. Dann sagt er: „Die | |
| Gesetze eines Landes müssen gerecht sein, aber man kann darüber hinaus | |
| nicht eine künstliche Gerechtigkeit für eine Kolonialzeit schaffen, die 100 | |
| Jahre her ist.“ | |
| Johann Vaatz’ Familie hatte Düsternbrook erst nach der Kolonialzeit von | |
| einem deutschen Kapitänleutnant gekauft. Der wiederum hatte das Land 1908 | |
| von der deutschen Kolonialverwaltung erworben. Die Farm liegt im Ahnenland | |
| der Ovaherero und Damara, das Land hatte sich wohl die deutsche | |
| Kolonialverwaltung angeeignet. | |
| Im Nationalarchiv in Windhoek liegen die Dokumente zum Landerwerb, jede | |
| Farm hat hier ihre eigene Akte. Der Akte Düsternbrook sind ein Kaufvertrag | |
| mit Siegel und Stempel und eine Skizze des Grundstücks beigeheftet. Im | |
| Kaufvertrag heißt es: „Das Kaiserliche Distriktsamt Okahandja verkauft und | |
| übergibt vorbehaltlich der Genehmigung des Kaiserlichen Gouvernements an | |
| den Farmer Robert Matthiessen die auf anliegender Skizze näher bezeichnete | |
| (…) Farm mit einem Flächeninhalt von ungefähr 5.000 Hektar.“ Der Kaufpreis | |
| betrug damals 1 Mark und 20 Pfennig pro Hektar, insgesamt 6.000 Mark. | |
| Zwischen den blauen Aktendeckeln findet sich auch ein mit Schreibmaschine | |
| getippter Brief von 1921, in dem der Kapitänleutnant den Kaiserlichen | |
| Gouverneur um Landzukauf bittet. Da seine Farm ausschließlich aus bergigem | |
| Gelände bestehe, sei Landwirtschaft nur mit zusätzlichem Farmland | |
| wirtschaftlich. „Ich empfinde jedenfalls ein dringendes | |
| Ausdehnungsbedürfnis. Diese Ausdehnung ist nicht Marotte, sondern | |
| Lebensfrage für mich und meine Familie!“ | |
| Die Geschichte Namibias ist geprägt von Verdrängung und Aneignung. Als 1884 | |
| die Deutschen kamen und die Kolonie Deutsch-Südwestafrika gründeten, zogen | |
| sie als Erstes Grenzen. Zuvor hatte es keinen Privatbesitz gegeben, Land | |
| war Ahnenland, auf dem die ethnischen Gruppen kollektiv lebten. Schon vor | |
| der Kolonialzeit hatten die Gruppen der Damara und San Land verloren, weil | |
| sie von den Ovaherero verdrängt worden waren. Doch die Grenzen der Gebiete | |
| waren durchlässig, weil die nomadischen Gruppen mit dem Regen zogen. Nun | |
| wurden die Ovaherero, Nama, Damara und San immer weiter verdrängt. | |
| Mutjinde Katjiua pinnt die Nachdrucke zweier alter Landkarten an die Wand | |
| seines Unibüros. Der Professor in kariertem Kurzarmhemd mit Brille und | |
| Schnurrbart ist Ovaherero. Er leitet die Abteilung für Land- und | |
| Eigentumsstudien an der Namibia University for Science and Technology und | |
| ist Generalsekretär der Ovaherero Traditional Authority. „Das Ahnenland zu | |
| verlieren bedeutete für die enteigneten Gruppen, dass sie die Verbindung zu | |
| ihren Vorfahren verloren haben“, sagt er. „Mit der Landenteignung haben sie | |
| ihr Vieh und die Rechte an Ressourcen wie Bergbau und Fischereigründen | |
| verloren, was ihre Armut bis heute fortsetzt.“ | |
| Auf einer der beiden Karten, der „Völkerkarte von Deutsch-Südwestafrika vor | |
| den Aufständen 1904–1905“, sind die ehemaligen Gebiete der verschiedenen | |
| ethnischen Gruppen eingezeichnet. Mit dieser Landkarte lässt sich erahnen, | |
| wie es in Namibia aussah, bevor die deutsche Kolonialverwaltung nach dem | |
| Genozid neue Grenzen zog. | |
| Mit dem Aufstand der Ovaherero 1904, bei dem um die hundert weiße Siedler | |
| getötet wurden, und dem Aufstand der Nama 1905 begann ihr Kampf um das | |
| verlorene Land. Der Vernichtungsbefehl des Generalleutnants Lothar von | |
| Trotha war der Ausgangspunkt für das, was heute als [3][der erste | |
| Völkermord des 20. Jahrhunderts] gilt. Schätzungsweise 80.000 Ovaherero und | |
| 20.000 Nama starben bis 1908 in der Wüste oder in Konzentrationslagern. | |
| Diejenigen, die überlebten, wurden per Anordnung der Kolonialverwaltung | |
| enteignet. Diese parzellierte das Land und verkaufte es an deutsche | |
| Siedler. Die Enteignungen gaben nicht nur den weißen Siedlern Land, sie | |
| zwangen auch die schwarzen Namibier aus der Selbstständigkeit in die | |
| Lohnarbeit. Und sie schufen eine soziale Struktur, die sich bis heute kaum | |
| geändert hat. Ovaherero und Nama sind im heutigen Namibia marginalisierte | |
| Minderheiten. | |
| In den 1960er Jahren wurden schwarze Namibier ein weiteres Mal von ihren | |
| Wohnorten vertrieben. Um die schwarze Bevölkerungsmehrheit zu spalten und | |
| die weiße Vormachtstellung zu sichern, gründete die südafrikanische | |
| Verwaltung für jede ethnische Gruppe eigene Homelands. Dieses Mal betraf | |
| die Vertreibung alle schwarzen Namibier. | |
| Für Mutjinde Katjiua ist die Landfrage weder kompliziert noch sensibel: Die | |
| enteigneten Bevölkerungsgruppen der Ovaherero, Nama, Damara und San müssen | |
| bei der Umverteilung Vorrang haben. Mit Nachdruck zeichnet er auf einem | |
| Blatt Linien, um das Gesagte zu veranschaulichen. „Die Mehrheit in der | |
| Regierung ist vom Genozid und der Enteignung nicht betroffen“, sagt er. | |
| Deshalb habe die Regierung bisher nicht anerkannt, dass es einen Völkermord | |
| und Enteignungen gegeben hat. | |
| Seit 2015 verhandeln die deutsche und die namibische Regierung über die | |
| Aufarbeitung des Genozids. Weil sie sich von den Verhandlungen | |
| ausgeschlossen und von der eigenen Regierung nicht ausreichend vertreten | |
| fühlten, haben Opferverbände im Januar 2017 in New York eine | |
| [4][Sammelklage gegen Deutschland] eingereicht. Sie fordern die offizielle | |
| Anerkennung des Geschehens als Genozid, eine Entschuldigung und | |
| Wiedergutmachung. Die Klage liegt in New York inzwischen beim | |
| Berufungsgericht. | |
| Nach jahrzehntelangem Kampf schwindet unter den Nachkommen der Ovaherero | |
| und Nama aber die Geduld. „Wir sind sehr friedlich und geduldig, aber wenn | |
| alle friedlichen Wege vergebens sind, werden wir zu unserem Land | |
| zurückkehren“, sagt Mutjinde Katjiua ruhig. Es klingt nüchtern wie eine | |
| Feststellung. „Wenn alle rechtlichen und diplomatischen Prozesse scheitern, | |
| werden wir auf Selbstbefreiung zurückgreifen, und die deutschen Farmer, die | |
| auf unserem Land sitzen, werden packen und gehen müssen. Ist es das, was | |
| wir wollen?“ | |
| Auf der ersten nationalen Landkonferenz 1991 wurde eine Weiche gestellt, | |
| was zur Frustration vieler Ovaherero und Nama beitrug, die darauf hofften, | |
| dass das historische Unrecht nun wiedergutgemacht würde. In der Resolution | |
| hieß es, Ansprüche auf Ahnenland könnten nicht berücksichtigt werden, da | |
| aus überlappenden Gebietsansprüchen verschiedener ethnischer Gruppen zu | |
| viele Konflikte entstünden. Das traf vor allem die Bevölkerungsgruppen, die | |
| am stärksten unter den Enteignungen gelitten hatten. | |
| Denn nicht alle ethnischen Gruppen in Namibia haben in der Kolonialzeit | |
| Land verloren. Die Oshivambo sprechenden Gruppen aus dem Norden Namibias, | |
| die heute die Mehrheit der Bevölkerung stellen, waren nicht von den | |
| Enteignungen betroffen. 1991 kurz nach der Unabhängigkeit die Ansprüche auf | |
| das Ahnenland nicht zu berücksichtigen war aber ein politischer Beschluss: | |
| Die neu gegründete Republik konnte es sich nach Jahrzehnten der Segregation | |
| nicht leisten, auf Partikularinteressen einzugehen, die eine noch | |
| zerbrechliche Einheit hätten gefährden können. | |
| Dass das Land ihrer Ahnen dadurch auch an schwarze Namibier umverteilt | |
| wurde, die kein Land verloren hatten, war für die Ovaherero und Nama eine | |
| weitere Enttäuschung. Viele Farmen gingen außerdem an die schwarze Elite, | |
| die sich seit der Unabhängigkeit herausgebildet hatte. Deshalb ist die | |
| Landreform inzwischen auch zu einer Klassenfrage geworden. | |
| Es dauerte 27 Jahre bis zu einer zweiten nationalen Landkonferenz. Im | |
| Oktober 2018 beschäftigte sich die Regierung auf Druck der betroffenen | |
| Gruppen und zivilgesellschaftlichen Organisationen zum ersten Mal auch mit | |
| der Frage des Ahnenlands. | |
| Uhuru Dempers sitzt in der Deja Vu Cafeteria an der Independence Avenue. | |
| Die Kantine im Zentrum Windhoeks ist um die Mittagszeit belebt, hier | |
| treffen sich viele Angestellte in ihrer Pause. Immer wieder grüßt jemand | |
| den Landaktivisten im Vorbeigehen. Er ist gut vernetzt, seit den frühen | |
| Neunzigern beschäftigt er sich mit der Landreform. | |
| Die letzten Monate, sagt Dempers, seien herausfordernd gewesen. Er meint | |
| seine Arbeit in einer 15-köpfigen Kommission: Die Ancestral Land Commission | |
| soll nichts Geringeres leisten, als die kolonial gezogenen Grenzen | |
| innerhalb Namibias neu zu vermessen und eine Kartografie des vorkolonialen | |
| Ahnenlands zu entwerfen. Die Kommission wurde vom namibischen Präsidenten | |
| eingesetzt, um ein Jahr lang zu untersuchen, wo schwarze Namibier im | |
| Kolonialismus Ahnenland verloren haben und welche Ansprüche sich daraus | |
| ergeben. | |
| Uhuru Dempers sagt gern: „Wir als Zivilgesellschaft“, wenn er von seiner | |
| Arbeit spricht. Er ist ein pragmatischer Idealist, bereit, Kompromisse | |
| auszuhandeln. Zwei Jahre lang ist er vor der zweiten Landkonferenz durchs | |
| Land gefahren, hat Menschen zur Landreform befragt und nachts im Auto | |
| geschlafen. | |
| Das hat ihm Respekt verschafft. Und es hat dazu geführt, dass Dempers | |
| zwischen die Fronten geraten ist. Denn manche traditionellen Autoritäten | |
| der Ovaherero und Nama boykottierten die zweite Landkonferenz, weil sie | |
| sich nicht einbezogen fühlten. Sie kritisierten die Ancestral Land | |
| Commission als Wahlkampfgimmick. „Ich wurde sogar Verräter genannt“, sagt | |
| Dempers, dessen eigene Vorfahren Ovaherero, Nama und Damara sind. Es ist | |
| ihm anzusehen, dass ihn das schmerzt. „Ich sehe die Arbeit in der | |
| Kommission nur als eine weitere Seite des Kampfes, als eine weitere | |
| Strategie, um das zu erreichen, wofür wir gekämpft haben.“ | |
| Zwei Monate ist Dempers dann auch mit der Kommission durch Namibia gereist | |
| und hat auf öffentlichen Sitzungen Menschen zugehört, deren Vorfahren im | |
| Kolonialismus enteignet wurden. Die Nachfrage sei überwältigend gewesen. | |
| „Es gab Menschen, die uns gesagt haben, sie hätten ihr ganzes Leben auf | |
| diese Kommission gewartet.“ Dass sich die Regierung damit auseinandersetzt, | |
| wie Menschen für den Verlust ihres Ahnenlandes entschädigt werden, hält | |
| Dempers für überfällig. „Es ist das erste Mal, dass wir Namibier so über | |
| unsere Geschichte und den Verlust unseres Landes sprechen.“ | |
| Dieses Sprechen hat auch alte Wunden aufgerissen, die nie richtig verheilt | |
| sind. Öfter mussten die Sitzungen unterbrochen werden, weil die Emotionen | |
| hochkochten. Manche kamen nur, um einmal öffentlich ihre Geschichte | |
| erzählen zu können. Sie berichteten, ihr Urgroßvater sei auf der Farm, auf | |
| der er arbeitete, vom Farmbesitzer umgebracht worden, andere, ihre | |
| Großmutter sei von Soldaten vergewaltigt worden. Eine alte Frau sagte zu | |
| Dempers: „Ich bin so froh, dass ich darüber sprechen konnte, ich habe das | |
| so lang mit mir herumgetragen.“ | |
| Die Journalistin Erika von Wietersheim ist bereits 2008 der Frage | |
| nachgegangen, warum die Landreform für viele Namibier ein so emotionales | |
| Thema ist. Für die Recherche zu ihrem Buch „This Is My Land“ reiste sie | |
| 5.000 Kilometer durchs Land und interviewte weiße und schwarze Farmer, | |
| Farmarbeiter und Landminister. Als Treffpunkt hat von Wietersheim das Café | |
| im Hinterhof des Goethe-Instituts in Windhoek vorgeschlagen, das Hupen der | |
| allgegenwärtigen Sammeltaxis ist hier nur schwach zu hören. „In Namibia | |
| Farmer zu sein, egal ob weiß oder schwarz, ist ein hartes Geschäft“, sagt | |
| sie. „Man muss so viel aufbauen und mit Mühe erhalten, seien es Zäune, | |
| Wasserstellen oder Wasserpumpen, und immer wieder Dürreperioden überstehen | |
| mit neuen Ideen und finanziellen Opfern. Deshalb ist jeder Farmer, der | |
| länger auf einer Farm lebt, sehr eng mit seinem Land verbunden.“ | |
| Auch diejenigen, deren Vorfahren Farmen auf dem enteigneten Land der | |
| Ovaherero und Nama gekauft haben, betrachten das Land nach vier | |
| Generationen längst als eine Art Ahnenland. | |
| Erika von Wietersheim weiß, wovon sie spricht: 20 Jahre lebte und arbeitete | |
| sie selbst auf einer Farm im Süden Namibias. Als sie nach dem Studium mit | |
| ihrem Mann auf die Farm der Schwiegereltern zog, lebte sie zum ersten Mal | |
| mit schwarzen Familien zusammen. | |
| „Wir als weiße Namibier hatten zuvor kaum Kontakt mit Schwarzen, außer mit | |
| unseren Hausangestellten.“ Auch von den auf der Farm lebenden Nama waren | |
| damals viele bei ihr angestellt, aber auf einer Farm teilt man ganz anders | |
| das gesamte Leben: „Krankheit, Tod, Geburt, die tägliche Arbeit und all die | |
| Katastrophen, die immer wieder passieren.“ | |
| Sie gründet eine Farmschule für die Kinder der Farmarbeiter. Als sie den | |
| Unterricht für die achte Klasse vorbereitet, stößt sie auf ihre eigene | |
| Geschichte. „In meiner Kindheit haben wir kaum etwas über den Kolonialismus | |
| gehört, und wenn, dann Horrorgeschichten von der Ermordung weißer Farmer | |
| durch die Herero“, erzählt von Wietersheim. | |
| Als sie den Unterricht vorbereitete, las sie entsetzt, was in Namibia | |
| während der deutschen Kolonialzeit geschehen war: „Vor allem, dass es auf | |
| der Haifischinsel, wo wir als Kinder so ahnungslos gespielt haben, ein | |
| Konzentrationslager gab, in dem Hunderte von Menschen an Hunger, Schwäche | |
| und Auszehrung gestorben sind.“ Es gab kein Geheimnis um diese Insel, sagt | |
| von Wietersheim mit Tränen in den Augen. „Es war wie ausgelöscht aus dem | |
| Gedächtnis der Menschen, zumindest der Weißen.“ | |
| Den Nachfahren der Überlebenden war die Haifischinsel, eine 30 Hektar große | |
| Halbinsel im Süden Namibias, dagegen ins Gedächtnis gebrannt. Sima Luipert, | |
| stellvertretende Vorsitzende der Nama Traditional Leaders Association, | |
| erinnert sich, wie ihre Großmutter ihr als Kind Geschichten erzählt hat. | |
| „Als ich als junges Mädchen in die Stadt geschickt wurde, um Brot oder Salz | |
| zu kaufen, haben die weißen Kinder Steine nach mir geworfen“, sagt sie. Die | |
| Großmutter warnte sie: „Halt dich von diesen Kindern fern, oder du landest | |
| auf der Insel.“ | |
| ## Die Folgen des Völkermords sind bis heute zu spüren | |
| Erst später begreift Sima Luipert, dass ihre Urgroßmutter eine Überlebende | |
| des Völkermords war und von ihrem Ahnenland vertrieben wurde. „Meine | |
| Urgroßmutter war eine Gefangene im Konzentrationslager auf der | |
| Haifischinsel.“ Drei Generationen später wuchs Sima Luipert unter sehr | |
| bescheidenen Bedingungen in einem Dorf auf, das Teil eines Reservats war. | |
| Für die Aktivistin sind Völkermord und Enteignung nichts, was vor 100 | |
| Jahren passiert ist, sondern etwas, was bis heute zu spüren ist. | |
| Luipert kämpft für Wiedergutmachung und Versöhnung. Die deutschstämmigen | |
| Namibier, sagt sie, müssten anfangen, das Ausmaß des Schadens zu begreifen, | |
| der angerichtet worden sei: „Wir haben die Souveränität verloren, wir haben | |
| unsere Lebensgrundlagen verloren, und das ist uns nie zurückgegeben worden. | |
| Wir bleiben am Rande der namibischen Gesellschaft.“ Sie fügt hinzu: „Wir | |
| müssen einsehen, dass es keine Heilung geben kann, wenn wir die Landfrage | |
| nicht lösen.“ | |
| Ende November wird Uhuru Dempers dem Präsidenten den Bericht der Kommission | |
| mit Empfehlungen zur Ahnenlandfrage überreichen. Die Erwartungen | |
| derjenigen, die zu den öffentlichen Sitzungen der Kommission kamen, sind | |
| hoch. Die Aktivisten erwarten dagegen nicht so viel. Sie haben schon viele | |
| Kommissionen kommen und gehen sehen, ohne dass sich etwas verändert hätte. | |
| Dempers hofft, dass der Bericht veröffentlicht wird. Dass sich etwas ändern | |
| muss – darin sind sich schließlich die meisten einig. Was die Menschen | |
| spaltet, ist vor allem die Frage, wem das Land heute gehört und wie eine | |
| gerechte Umverteilung aussehen soll. Das karge, staubige Land ist nicht nur | |
| Besitz. Für viele Menschen ist es der Ort, an dem die Ahnen begraben | |
| liegen, ein Raum der Zugehörigkeit – und ein Sehnsuchtsort. | |
| 20 Nov 2019 | |
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| Elisabeth Kimmerle | |
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