Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Koloniales Erbe in Namibia: Das Land der Ahnen
> Vor über 100 Jahren nahmen deutsche Kolonialherren Einheimischen in
> Namibia den Boden weg. Bis heute spaltet die Landfrage die Gesellschaft.
Bild: Die Kargheit des Landes macht es Farmern in Namibia sehr schwer
Windhoek taz | Auf der Farm Düsternbrook steht in der Mittagshitze alles
still, nur die Bettlaken auf der Wäscheleine bläht der Wind. Von Weitem
sind Schreie von Pavianen zu hören. Das Farmhaus liegt auf einer Anhöhe am
Rand des Khomashochlands, nordwestlich von Windhoek. Johann Vaatz, Ende 60,
steht in T-Shirt und Khakishorts auf der Terrasse seiner Farm und blickt
über das trockene Flussbett und die Savanne.
Vaatz lebt von Übernachtungstourismus und Safaris. Nach Düsternbrook kommen
Gäste aus Europa, um Zebras, Giraffen und Leoparden zu sehen. Oder um Tiere
zu schießen, ein Pavian kostet 50 Euro, eine Kudu-Antilope 1.200. Die
Trophäenjagd macht aber nur einen Bruchteil des Geschäfts aus. Zum Konzept
der Gästefarm gehört es, dass die Touristen den Farmalltag in Namibia
erleben und beim Abendessen den Geschichten des Farmers über die Dürre und
die Weite des Landes zuhören. Und Johann Vaatz erzählt gern.
An der Rezeption der Gästefarm steht eine Trinkgeldkasse. Alles, was die
Gäste dort hineinwerfen, verteilt Vaatz an seine 18 Angestellten. Am
meisten bekommen die Frauen, die in der Wäscherei oder anderswo arbeiten,
wo die Touristen sie nicht sehen. Am wenigsten bekommen die Guides, denen
die Touristen nach der Safari ohnehin einen Zehner in die Hand drücken.
„100 Prozent Gerechtigkeit schafft man nie, aber ich versuche das
auszugleichen“, sagt Vaatz. Im Kleinen funktioniert das.
Im Großen ringt Namibia mit der Frage, was Gerechtigkeit heißt – und wie
man historisches Unrecht wiedergutmachen kann. Konkret geht es darum, wie
man enteignetes Land gerecht umverteilt und Menschen für ihren Verlust
entschädigt. Knapp 30 Jahre nach der Unabhängigkeit und [1][mehr als 100
Jahre nach der Kolonialzeit], in der die Kolonialherren sich Land
aneigneten, auf dem seit Jahrhunderten Menschen ohne Eigentumsurkunde
gelebt hatten, hat die Landfrage nichts von ihrer Sprengkraft verloren.
Kann es eine Lösung für ein Unrecht geben, das so lang zurückliegt?
Als Namibia 1990 nach 30 Jahren des deutschen Kolonialismus und 75 Jahren
südafrikanischen Apartheidregimes unabhängig wurde, beschloss die
Swapo-Regierung, das von Weißen enteignete Land mit einer Landreform an
schwarze Namibier umzuverteilen. Doch die Landreform ging nur sehr langsam
voran: Laut einer Erhebung der Namibia Statistics Agency von 2018 sind bis
heute 70 Prozent des kommerziellen Farmlands im Besitz weißer Farmer, die
nur eine kleine Minderheit der namibischen Bevölkerung ausmachen.
Von seinem Vater hat Johann Vaatz gelernt, dass man im Leben alles
verlieren kann – sein Land, sein Zuhause, alles, was man sich aufgebaut
hat. Als seine Eltern in den 1940er Jahren eine Farm in Namibia kauften,
hatte seine Familie schon eine Landreform hinter sich. Bei der
[2][Oktoberrevolution 1917] enteigneten Kommunisten die Familie seines
Vaters – Schwarzmeerdeutsche, die seit mehreren Generationen in der Ukraine
Landwirtschaft betrieben hatten. Der Grundbesitz wurde in Kolchosen
aufgeteilt. Es kam es zu einer Hungersnot, bei der Millionen Menschen
sterben.
Die Farm Düsternbrook, rund 45 Autominuten von Windhoek entfernt, kauften
Johann Vaatz’ Eltern während des Zweiten Weltkriegs. Als Sicherheit. Sie
hatten Angst, die südafrikanische Verwaltung könnte ihr Geld auf der Bank
einfrieren. Vaatz’ Vater wurde vom südafrikanischen Regime wie viele andere
deutschstämmige Namibier interniert und kehrte erst nach sechs Jahren aus
dem Lager zurück. In den 1960er Jahren bauten sie auf Düsternbrook die
erste Gäste- und Jagdfarm Namibias auf. Johann Vaatz wurde hier geboren und
ist während der Apartheid mit den Kindern der Farmarbeiter aufgewachsen.
„Es war mehr wie eine Großfamilie“, sagt er. „Nur haben die Arbeiter eben
da oben gewohnt und wir hier.“
Fast sein gesamtes Leben hat er auf Düsternbrook verbracht, und auf einer
Farm heißt das: sieben Tage die Woche schuften, vom Morgengrauen bis nach
Sonnenuntergang, die Wasserstellen kontrollieren, auf Regen hoffen.
Im Oktober 2018 kündigte der namibische Präsident Hage Geingob an, vermehrt
weiße Landbesitzer zu enteignen. Die namibische Verfassung ermöglicht
Enteignungen mit gerechter Entschädigung. Am 27. November werden der
Präsident und das Parlament neu gewählt, und vor diesen Wahlen stellen
einige mit Vehemenz die Frage, ob nun nicht zurückgeholt werden muss, was
zu Kolonialzeiten gestohlen wurde. Notfalls ohne Entschädigung.
Vor einer Enteignung habe er keine Angst, sagt Vaatz. „Ich bin namibischer
Bürger, warum sollte ich Angst haben? Ich gehöre zu diesem Land. Warum
sollte ich enteignet werden? Nur weil ich weiß bin? Das wäre ja
rassistisch.“ Er halte grundsätzlich nicht viel von Umverteilung. „Mir
fehlen da die Erfolgsgeschichten. Deswegen frage ich mich: Was wird
gewonnen? Befriedigt man nur eine ideologische Gerechtigkeit, oder ist das
Endziel, dass es der Bevölkerung besser geht?“ Auf die Frage, was für ihn
Gerechtigkeit bedeute, denkt er einen Moment nach. Dann sagt er: „Die
Gesetze eines Landes müssen gerecht sein, aber man kann darüber hinaus
nicht eine künstliche Gerechtigkeit für eine Kolonialzeit schaffen, die 100
Jahre her ist.“
Johann Vaatz’ Familie hatte Düsternbrook erst nach der Kolonialzeit von
einem deutschen Kapitänleutnant gekauft. Der wiederum hatte das Land 1908
von der deutschen Kolonialverwaltung erworben. Die Farm liegt im Ahnenland
der Ovaherero und Damara, das Land hatte sich wohl die deutsche
Kolonialverwaltung angeeignet.
Im Nationalarchiv in Windhoek liegen die Dokumente zum Landerwerb, jede
Farm hat hier ihre eigene Akte. Der Akte Düsternbrook sind ein Kaufvertrag
mit Siegel und Stempel und eine Skizze des Grundstücks beigeheftet. Im
Kaufvertrag heißt es: „Das Kaiserliche Distriktsamt Okahandja verkauft und
übergibt vorbehaltlich der Genehmigung des Kaiserlichen Gouvernements an
den Farmer Robert Matthiessen die auf anliegender Skizze näher bezeichnete
(…) Farm mit einem Flächeninhalt von ungefähr 5.000 Hektar.“ Der Kaufpreis
betrug damals 1 Mark und 20 Pfennig pro Hektar, insgesamt 6.000 Mark.
Zwischen den blauen Aktendeckeln findet sich auch ein mit Schreibmaschine
getippter Brief von 1921, in dem der Kapitänleutnant den Kaiserlichen
Gouverneur um Landzukauf bittet. Da seine Farm ausschließlich aus bergigem
Gelände bestehe, sei Landwirtschaft nur mit zusätzlichem Farmland
wirtschaftlich. „Ich empfinde jedenfalls ein dringendes
Ausdehnungsbedürfnis. Diese Ausdehnung ist nicht Marotte, sondern
Lebensfrage für mich und meine Familie!“
Die Geschichte Namibias ist geprägt von Verdrängung und Aneignung. Als 1884
die Deutschen kamen und die Kolonie Deutsch-Südwestafrika gründeten, zogen
sie als Erstes Grenzen. Zuvor hatte es keinen Privatbesitz gegeben, Land
war Ahnenland, auf dem die ethnischen Gruppen kollektiv lebten. Schon vor
der Kolonialzeit hatten die Gruppen der Damara und San Land verloren, weil
sie von den Ovaherero verdrängt worden waren. Doch die Grenzen der Gebiete
waren durchlässig, weil die nomadischen Gruppen mit dem Regen zogen. Nun
wurden die Ovaherero, Nama, Damara und San immer weiter verdrängt.
Mutjinde Katjiua pinnt die Nachdrucke zweier alter Landkarten an die Wand
seines Unibüros. Der Professor in kariertem Kurzarmhemd mit Brille und
Schnurrbart ist Ovaherero. Er leitet die Abteilung für Land- und
Eigentumsstudien an der Namibia University for Science and Technology und
ist Generalsekretär der Ovaherero Traditional Authority. „Das Ahnenland zu
verlieren bedeutete für die enteigneten Gruppen, dass sie die Verbindung zu
ihren Vorfahren verloren haben“, sagt er. „Mit der Landenteignung haben sie
ihr Vieh und die Rechte an Ressourcen wie Bergbau und Fischereigründen
verloren, was ihre Armut bis heute fortsetzt.“
Auf einer der beiden Karten, der „Völkerkarte von Deutsch-Südwestafrika vor
den Aufständen 1904–1905“, sind die ehemaligen Gebiete der verschiedenen
ethnischen Gruppen eingezeichnet. Mit dieser Landkarte lässt sich erahnen,
wie es in Namibia aussah, bevor die deutsche Kolonialverwaltung nach dem
Genozid neue Grenzen zog.
Mit dem Aufstand der Ovaherero 1904, bei dem um die hundert weiße Siedler
getötet wurden, und dem Aufstand der Nama 1905 begann ihr Kampf um das
verlorene Land. Der Vernichtungsbefehl des Generalleutnants Lothar von
Trotha war der Ausgangspunkt für das, was heute als [3][der erste
Völkermord des 20. Jahrhunderts] gilt. Schätzungsweise 80.000 Ovaherero und
20.000 Nama starben bis 1908 in der Wüste oder in Konzentrationslagern.
Diejenigen, die überlebten, wurden per Anordnung der Kolonialverwaltung
enteignet. Diese parzellierte das Land und verkaufte es an deutsche
Siedler. Die Enteignungen gaben nicht nur den weißen Siedlern Land, sie
zwangen auch die schwarzen Namibier aus der Selbstständigkeit in die
Lohnarbeit. Und sie schufen eine soziale Struktur, die sich bis heute kaum
geändert hat. Ovaherero und Nama sind im heutigen Namibia marginalisierte
Minderheiten.
In den 1960er Jahren wurden schwarze Namibier ein weiteres Mal von ihren
Wohnorten vertrieben. Um die schwarze Bevölkerungsmehrheit zu spalten und
die weiße Vormachtstellung zu sichern, gründete die südafrikanische
Verwaltung für jede ethnische Gruppe eigene Homelands. Dieses Mal betraf
die Vertreibung alle schwarzen Namibier.
Für Mutjinde Katjiua ist die Landfrage weder kompliziert noch sensibel: Die
enteigneten Bevölkerungsgruppen der Ovaherero, Nama, Damara und San müssen
bei der Umverteilung Vorrang haben. Mit Nachdruck zeichnet er auf einem
Blatt Linien, um das Gesagte zu veranschaulichen. „Die Mehrheit in der
Regierung ist vom Genozid und der Enteignung nicht betroffen“, sagt er.
Deshalb habe die Regierung bisher nicht anerkannt, dass es einen Völkermord
und Enteignungen gegeben hat.
Seit 2015 verhandeln die deutsche und die namibische Regierung über die
Aufarbeitung des Genozids. Weil sie sich von den Verhandlungen
ausgeschlossen und von der eigenen Regierung nicht ausreichend vertreten
fühlten, haben Opferverbände im Januar 2017 in New York eine
[4][Sammelklage gegen Deutschland] eingereicht. Sie fordern die offizielle
Anerkennung des Geschehens als Genozid, eine Entschuldigung und
Wiedergutmachung. Die Klage liegt in New York inzwischen beim
Berufungsgericht.
Nach jahrzehntelangem Kampf schwindet unter den Nachkommen der Ovaherero
und Nama aber die Geduld. „Wir sind sehr friedlich und geduldig, aber wenn
alle friedlichen Wege vergebens sind, werden wir zu unserem Land
zurückkehren“, sagt Mutjinde Katjiua ruhig. Es klingt nüchtern wie eine
Feststellung. „Wenn alle rechtlichen und diplomatischen Prozesse scheitern,
werden wir auf Selbstbefreiung zurückgreifen, und die deutschen Farmer, die
auf unserem Land sitzen, werden packen und gehen müssen. Ist es das, was
wir wollen?“
Auf der ersten nationalen Landkonferenz 1991 wurde eine Weiche gestellt,
was zur Frustration vieler Ovaherero und Nama beitrug, die darauf hofften,
dass das historische Unrecht nun wiedergutgemacht würde. In der Resolution
hieß es, Ansprüche auf Ahnenland könnten nicht berücksichtigt werden, da
aus überlappenden Gebietsansprüchen verschiedener ethnischer Gruppen zu
viele Konflikte entstünden. Das traf vor allem die Bevölkerungsgruppen, die
am stärksten unter den Enteignungen gelitten hatten.
Denn nicht alle ethnischen Gruppen in Namibia haben in der Kolonialzeit
Land verloren. Die Oshivambo sprechenden Gruppen aus dem Norden Namibias,
die heute die Mehrheit der Bevölkerung stellen, waren nicht von den
Enteignungen betroffen. 1991 kurz nach der Unabhängigkeit die Ansprüche auf
das Ahnenland nicht zu berücksichtigen war aber ein politischer Beschluss:
Die neu gegründete Republik konnte es sich nach Jahrzehnten der Segregation
nicht leisten, auf Partikularinteressen einzugehen, die eine noch
zerbrechliche Einheit hätten gefährden können.
Dass das Land ihrer Ahnen dadurch auch an schwarze Namibier umverteilt
wurde, die kein Land verloren hatten, war für die Ovaherero und Nama eine
weitere Enttäuschung. Viele Farmen gingen außerdem an die schwarze Elite,
die sich seit der Unabhängigkeit herausgebildet hatte. Deshalb ist die
Landreform inzwischen auch zu einer Klassenfrage geworden.
Es dauerte 27 Jahre bis zu einer zweiten nationalen Landkonferenz. Im
Oktober 2018 beschäftigte sich die Regierung auf Druck der betroffenen
Gruppen und zivilgesellschaftlichen Organisationen zum ersten Mal auch mit
der Frage des Ahnenlands.
Uhuru Dempers sitzt in der Deja Vu Cafeteria an der Independence Avenue.
Die Kantine im Zentrum Windhoeks ist um die Mittagszeit belebt, hier
treffen sich viele Angestellte in ihrer Pause. Immer wieder grüßt jemand
den Landaktivisten im Vorbeigehen. Er ist gut vernetzt, seit den frühen
Neunzigern beschäftigt er sich mit der Landreform.
Die letzten Monate, sagt Dempers, seien herausfordernd gewesen. Er meint
seine Arbeit in einer 15-köpfigen Kommission: Die Ancestral Land Commission
soll nichts Geringeres leisten, als die kolonial gezogenen Grenzen
innerhalb Namibias neu zu vermessen und eine Kartografie des vorkolonialen
Ahnenlands zu entwerfen. Die Kommission wurde vom namibischen Präsidenten
eingesetzt, um ein Jahr lang zu untersuchen, wo schwarze Namibier im
Kolonialismus Ahnenland verloren haben und welche Ansprüche sich daraus
ergeben.
Uhuru Dempers sagt gern: „Wir als Zivilgesellschaft“, wenn er von seiner
Arbeit spricht. Er ist ein pragmatischer Idealist, bereit, Kompromisse
auszuhandeln. Zwei Jahre lang ist er vor der zweiten Landkonferenz durchs
Land gefahren, hat Menschen zur Landreform befragt und nachts im Auto
geschlafen.
Das hat ihm Respekt verschafft. Und es hat dazu geführt, dass Dempers
zwischen die Fronten geraten ist. Denn manche traditionellen Autoritäten
der Ovaherero und Nama boykottierten die zweite Landkonferenz, weil sie
sich nicht einbezogen fühlten. Sie kritisierten die Ancestral Land
Commission als Wahlkampfgimmick. „Ich wurde sogar Verräter genannt“, sagt
Dempers, dessen eigene Vorfahren Ovaherero, Nama und Damara sind. Es ist
ihm anzusehen, dass ihn das schmerzt. „Ich sehe die Arbeit in der
Kommission nur als eine weitere Seite des Kampfes, als eine weitere
Strategie, um das zu erreichen, wofür wir gekämpft haben.“
Zwei Monate ist Dempers dann auch mit der Kommission durch Namibia gereist
und hat auf öffentlichen Sitzungen Menschen zugehört, deren Vorfahren im
Kolonialismus enteignet wurden. Die Nachfrage sei überwältigend gewesen.
„Es gab Menschen, die uns gesagt haben, sie hätten ihr ganzes Leben auf
diese Kommission gewartet.“ Dass sich die Regierung damit auseinandersetzt,
wie Menschen für den Verlust ihres Ahnenlandes entschädigt werden, hält
Dempers für überfällig. „Es ist das erste Mal, dass wir Namibier so über
unsere Geschichte und den Verlust unseres Landes sprechen.“
Dieses Sprechen hat auch alte Wunden aufgerissen, die nie richtig verheilt
sind. Öfter mussten die Sitzungen unterbrochen werden, weil die Emotionen
hochkochten. Manche kamen nur, um einmal öffentlich ihre Geschichte
erzählen zu können. Sie berichteten, ihr Urgroßvater sei auf der Farm, auf
der er arbeitete, vom Farmbesitzer umgebracht worden, andere, ihre
Großmutter sei von Soldaten vergewaltigt worden. Eine alte Frau sagte zu
Dempers: „Ich bin so froh, dass ich darüber sprechen konnte, ich habe das
so lang mit mir herumgetragen.“
Die Journalistin Erika von Wietersheim ist bereits 2008 der Frage
nachgegangen, warum die Landreform für viele Namibier ein so emotionales
Thema ist. Für die Recherche zu ihrem Buch „This Is My Land“ reiste sie
5.000 Kilometer durchs Land und interviewte weiße und schwarze Farmer,
Farmarbeiter und Landminister. Als Treffpunkt hat von Wietersheim das Café
im Hinterhof des Goethe-Instituts in Windhoek vorgeschlagen, das Hupen der
allgegenwärtigen Sammeltaxis ist hier nur schwach zu hören. „In Namibia
Farmer zu sein, egal ob weiß oder schwarz, ist ein hartes Geschäft“, sagt
sie. „Man muss so viel aufbauen und mit Mühe erhalten, seien es Zäune,
Wasserstellen oder Wasserpumpen, und immer wieder Dürreperioden überstehen
mit neuen Ideen und finanziellen Opfern. Deshalb ist jeder Farmer, der
länger auf einer Farm lebt, sehr eng mit seinem Land verbunden.“
Auch diejenigen, deren Vorfahren Farmen auf dem enteigneten Land der
Ovaherero und Nama gekauft haben, betrachten das Land nach vier
Generationen längst als eine Art Ahnenland.
Erika von Wietersheim weiß, wovon sie spricht: 20 Jahre lebte und arbeitete
sie selbst auf einer Farm im Süden Namibias. Als sie nach dem Studium mit
ihrem Mann auf die Farm der Schwiegereltern zog, lebte sie zum ersten Mal
mit schwarzen Familien zusammen.
„Wir als weiße Namibier hatten zuvor kaum Kontakt mit Schwarzen, außer mit
unseren Hausangestellten.“ Auch von den auf der Farm lebenden Nama waren
damals viele bei ihr angestellt, aber auf einer Farm teilt man ganz anders
das gesamte Leben: „Krankheit, Tod, Geburt, die tägliche Arbeit und all die
Katastrophen, die immer wieder passieren.“
Sie gründet eine Farmschule für die Kinder der Farmarbeiter. Als sie den
Unterricht für die achte Klasse vorbereitet, stößt sie auf ihre eigene
Geschichte. „In meiner Kindheit haben wir kaum etwas über den Kolonialismus
gehört, und wenn, dann Horrorgeschichten von der Ermordung weißer Farmer
durch die Herero“, erzählt von Wietersheim.
Als sie den Unterricht vorbereitete, las sie entsetzt, was in Namibia
während der deutschen Kolonialzeit geschehen war: „Vor allem, dass es auf
der Haifischinsel, wo wir als Kinder so ahnungslos gespielt haben, ein
Konzentrationslager gab, in dem Hunderte von Menschen an Hunger, Schwäche
und Auszehrung gestorben sind.“ Es gab kein Geheimnis um diese Insel, sagt
von Wietersheim mit Tränen in den Augen. „Es war wie ausgelöscht aus dem
Gedächtnis der Menschen, zumindest der Weißen.“
Den Nachfahren der Überlebenden war die Haifischinsel, eine 30 Hektar große
Halbinsel im Süden Namibias, dagegen ins Gedächtnis gebrannt. Sima Luipert,
stellvertretende Vorsitzende der Nama Traditional Leaders Association,
erinnert sich, wie ihre Großmutter ihr als Kind Geschichten erzählt hat.
„Als ich als junges Mädchen in die Stadt geschickt wurde, um Brot oder Salz
zu kaufen, haben die weißen Kinder Steine nach mir geworfen“, sagt sie. Die
Großmutter warnte sie: „Halt dich von diesen Kindern fern, oder du landest
auf der Insel.“
## Die Folgen des Völkermords sind bis heute zu spüren
Erst später begreift Sima Luipert, dass ihre Urgroßmutter eine Überlebende
des Völkermords war und von ihrem Ahnenland vertrieben wurde. „Meine
Urgroßmutter war eine Gefangene im Konzentrationslager auf der
Haifischinsel.“ Drei Generationen später wuchs Sima Luipert unter sehr
bescheidenen Bedingungen in einem Dorf auf, das Teil eines Reservats war.
Für die Aktivistin sind Völkermord und Enteignung nichts, was vor 100
Jahren passiert ist, sondern etwas, was bis heute zu spüren ist.
Luipert kämpft für Wiedergutmachung und Versöhnung. Die deutschstämmigen
Namibier, sagt sie, müssten anfangen, das Ausmaß des Schadens zu begreifen,
der angerichtet worden sei: „Wir haben die Souveränität verloren, wir haben
unsere Lebensgrundlagen verloren, und das ist uns nie zurückgegeben worden.
Wir bleiben am Rande der namibischen Gesellschaft.“ Sie fügt hinzu: „Wir
müssen einsehen, dass es keine Heilung geben kann, wenn wir die Landfrage
nicht lösen.“
Ende November wird Uhuru Dempers dem Präsidenten den Bericht der Kommission
mit Empfehlungen zur Ahnenlandfrage überreichen. Die Erwartungen
derjenigen, die zu den öffentlichen Sitzungen der Kommission kamen, sind
hoch. Die Aktivisten erwarten dagegen nicht so viel. Sie haben schon viele
Kommissionen kommen und gehen sehen, ohne dass sich etwas verändert hätte.
Dempers hofft, dass der Bericht veröffentlicht wird. Dass sich etwas ändern
muss – darin sind sich schließlich die meisten einig. Was die Menschen
spaltet, ist vor allem die Frage, wem das Land heute gehört und wie eine
gerechte Umverteilung aussehen soll. Das karge, staubige Land ist nicht nur
Besitz. Für viele Menschen ist es der Ort, an dem die Ahnen begraben
liegen, ein Raum der Zugehörigkeit – und ein Sehnsuchtsort.
20 Nov 2019
## LINKS
[1] /Kolonialgeschichte-und-Erinnerungskultur/!5632246
[2] /100-Jahre-Oktoberrevolution/!5455850
[3] /Bundesregierung-zum-Herero-Massaker/!5322681
[4] /Klage-der-Herero-gegen-Deutschland/!5476165
## AUTOREN
Elisabeth Kimmerle
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Deutscher Kolonialismus
Namibia
Schwerpunkt Völkermord an den Herero und Nama
Schwerpunkt Rassismus
Deutschland
Kolonialgeschichte
Lesestück Recherche und Reportage
Ethnologie
Namibia
Deutscher Kolonialismus
Autoverkehr
Deutscher Kolonialismus
Archäologie
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Der Lüneburger Musiker Tsepo Bollwinkel: Vom Verbrechen, geboren zu sein
Tsepo Bollwinkel ist Solo-Oboist der Lüneburger Symphoniker. Sein
Instrument hat ihm den sozialen Aufstieg ermögtlicht. Lieben tut er es
nicht.
Kolonialverbrechen an Herero und Nama: Scharfer Protest
Deutschland erkennt den Völkermord an Herero und Nama an und spricht von
einer Einigung mit Namibia. Herero-Führer lehnen die Vereinbarung ab.
Kolonialverbrechen an Herero und Nama: Deutschland erkennt Völkermord an
Endlich: Nach jahrelangen Verhandlungen erkennt Deutschland den Genozid an
Herero und Nama an. Namibia bekommt Milliarden – und die Bitte um
Vergebung.
Geschichte des Rassismus: Das Machtsystem
Rassismus ist auch ein System zur Rechtfertigung ökonomischer
Unterdrückung. Seine Ideengeschichte reicht bis in die Antike und wirkt bis
heute fort.
Bücher über die Raubgut-Debatte: Nur ja nichts falsch machen
Ein Patentrezept für den Umgang mit ethnologischen Sammlungen in
Deutschland gibt es nicht. Aber interessante Ansätze.
Wahlergebnisse in Namibia: Befreiungsbewegung abgestraft
Die einstige Befreiungsbewegung Swapo regiert das Land seit der
Unabhängigkeit von Südafrika. Bei den Wahlen büßt sie erstmals massiv ein.
Abgeordneter über Entschädigungen: „Ein Verrechnen darf nicht sein“
Der Bundestagsabgeordnete Ottmar von Holtz sagt, eine finanzielle
Entschädigung für den Völkermord könnte die Landreform in Namibia
unterstützen.
Dürre in Südafrika: Das einsame Nashorn
Eine Reise durch Südafrika ist Anschauungsunterricht in Sachen
Klimakatastrophe. Der Regen bleibt aus, Farmer gehen pleite, Hotels
schließen.
Kolonialgeschichte und Erinnerungskultur: Ein Platz an der Sonne
Die Kolonialgeschichte kehrt ins Bewusstsein zurück. Mark Terkessidis
fragt, was das für das Selbstverständnis der Bundesrepublik bedeutet.
Archäologe über Kolonialismus: „Schädel mit Würde behandeln“
Der Archäologe Bernhard Heeb hat im Auftrag der Stiftung Preußischer
Kulturbesitz versucht, die Herkunft von 1.200 menschlichen Schädeln
aufzuklären.
Im Kolonialismus geraubte Körperteile: Wem gehört der Schädel?
Gerhard Ziegenfuß hat einen Totenkopf aus Deutsch-Südwestafrika geerbt. Er
will ihn zurückgeben. Aber das ist gar nicht so einfach.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.