# taz.de -- Kollektiv für eine bessere Behandlung: Gesundheit von unten | |
> Armut und Rassismus können krank machen. Ein Berliner Projekt will nicht | |
> mehr nur Symptome behandeln, sondern soziale Ursachen bekämpfen. | |
Bild: Aufs das Ganze gucken: Nesrin Kosanke (links), Shao-Xi Lu, Patricia Häne… | |
BERLIN taz | Auf dem Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei im Berliner | |
Stadtteil Neukölln haut im Sekundentakt ein Bagger mit Bohraufsatz in den | |
Boden. Drei Bauarbeiter mit Lärmschutz an den Ohren wuseln auf der | |
rechteckig abgezäunten Baustelle herum. Shao-Xi Lu, Physiotherapeutin und | |
Kommunikationswissenschaftlerin, steht vor dem Zaun und zeigt auf zwei | |
lieblos besprühte Brandwände, die in den bedeckten Berliner Himmel ragen: | |
„Da wird rangebaut. Ein Gebäude mit fünf Geschossen, in der Mitte soll es | |
einen Lichthof geben. Hier soll unser Gesundheitszentrum mit einziehen.“ | |
Dann läuft sie mit ihrer Pluderhose über die Brache, schüttelt den Kopf und | |
sagt: „Es ist schon ein bisschen surreal.“ Es ist ein leise dahingesagter | |
Satz, den man schnell vergessen könnte, wenn er nicht so treffend wäre für | |
diese Situation: Es gibt da eine groß gedachte Idee und eine Baustelle. | |
Aber was dazwischenliegt, ist noch so wenig begreifbar. Surreal, das | |
bedeutet traumhaft-unwirklich. | |
Auf dieser Baustelle in Neukölln will das Gesundheitskollektiv Berlin, ein | |
Zusammenschluss von rund 25 Menschen, seine Vision umsetzen: Gesundheit | |
nicht nur medizinisch denken, sondern größer. Viel größer sogar. | |
Wissenschaftlich betrachtet ist es längst Konsens, dass viele Faktoren die | |
Gesundheit eines Menschen beeinflussen. | |
Beengte Wohnverhältnisse können krank machen, schlechte Arbeitsbedingungen, | |
die Sorge, die Miete nicht zahlen zu können, Rassismus, Stress, | |
abgasverseuchte Straßen. „Soziale Determinanten von Gesundheit“, nennt das | |
Patricia Hänel, die seit fünf Jahren beim Gesundheitskollektiv mitmacht. | |
Menschen mit niedrigem Einkommen, Berufsstatus und Bildungsniveau haben | |
nicht nur ein erhöhtes Risiko für chronische Krankheiten und Beschwerden, | |
sie sterben im Schnitt auch früher. Die Differenz in der Lebenserwartung | |
zwischen der niedrigsten und der höchsten Einkommensgruppe wird in der | |
Gesundheitsberichterstattung des Bundes im März 2018 auf fünf bis zehn | |
Jahre beziffert. | |
Doch obwohl seit 1995 jedes Jahr der Kongress Armut und Gesundheit | |
stattfindet, bei dem sich Expert*innen genau zu diesem Thema austauschen, | |
hat sich in der realen Gesundheitsversorgung wenig verändert. Hier kann es | |
passieren, dass man wegen einer Eigenbedarfsklage zur Mieterberatung läuft | |
und mit Stresssymptomen zum Arzt, ohne dass die beiden Situationen | |
zusammengedacht werden. | |
## Viele Türen für viele verschiedene Probleme | |
Patricia Hänel, die Ärztin ist, aber als Beraterin und | |
Kommunikationstrainerin in der Gesundheitsbranche arbeitet, stellt sich das | |
Zentrum deswegen so vor: „Ich wünsche mir, die Patient*innen kommen rein, | |
und dann gibt es verschiedene Türen, durch die alle gehen können: ärztliche | |
Versorgung, Sozialarbeit, Rechtsberatung, Wohnungsberatung. „Und wir fragen | |
dann: Was ist das Hauptproblem dieser Person? Hat sie Asthma und kriegt | |
beim Arzt ein Spray? Hat sie vielleicht Asthma, weil sie Schimmel in der | |
Wohnung hat? Dann muss man ihr auch helfen, mit den Vermietern zu klären, | |
den Schimmel zu beseitigen. Oder hat sie Asthma, weil sie an einer | |
abgasbelasteten Straße lebt? Dann wollen wir politisch daran arbeiten, | |
langfristig vielleicht eine Temporeduktion durchzusetzen. Es gibt also ein | |
Problem, aber es gibt verschiedene Wege, es zu lösen.“ | |
„Wir sind bio-psycho-sozial-politisch ausgerichtet“, erklärt Hänel. Das | |
Kollektiv ist deshalb auch Teil des überregionalen Polikliniksyndikats: Mit | |
der Soli-Klinik in Dresden und dem solidarischen Gesundheitszentrum Leipzig | |
entstehen gerade ähnliche Projekte. Und in Hamburg hat das Schwesterprojekt | |
Poliklinik Veddel bereits 2017 eröffnet. | |
In der DDR waren Polikliniken fester Bestandteil der ambulanten | |
Gesundheitsversorgung. Dort arbeiteten angestellte Ärzt*innen | |
fachübergreifend zusammen, nur wurde dieses Modell im Zuge der | |
Wiedervereinigung abgeschafft. Aber auch in der BRD gab es in den 1980er | |
Jahren solidarische Bestrebungen, Alternativen zur profitorientierten | |
Gesundheitsversorgung zu finden – viele Projekte aber scheiterten am Geld. | |
Ob hier, in Nordneukölln auf dem Rollberg, zukünftig Pflegekräfte, | |
Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen neben | |
Kommunikationswissenschaftler*innen oder Sozialarbeiter*innen in der | |
ambulanten Versorgung zusammenarbeiten werden, das hängt auch davon ab, ob | |
das Gesundheitskollektiv es schafft, ein Finanzierungsmodell zu finden. | |
Vier Säulen soll es geben: medizinische Versorgung, Beratung, | |
Gemeinwesenarbeit und Forschung. Interdisziplinär soll das Ergebnis sein, | |
basisdemokratisch und hierarchiearm – das ist jedenfalls der Anspruch. | |
## Der Grundriss ist schon mal fertig – auf Papier | |
Um das genauer auszutüfteln, hat sich das Kollektiv übergangsweise einen | |
kleinen Büroraum auf dem Kindl-Gelände angemietet, nicht weit von der | |
Baustelle entfernt. Auf den ersten Blick hat es hier etwas von einer | |
Studentenbude, Fotos und politische Plakate kleben an den Wänden, an einer | |
Pinnwand hängen kreuz und quer etliche blaue und rosafarbene Zettel. Wer | |
liest, was darauf steht, ahnt, wie kompliziert dieses Projekt werden wird: | |
AG Bauplanung, AG Lohndebatte, AG Finanzen, Trägerstrukturen und | |
Medizinisches Versorgungszentrum – um nur einige zu nennen. Immerhin hängt | |
ganz klein noch ein weiterer Zettel dran: AG Spaß. | |
Nesrin Kosanke, Patricia Hänel und Shao-Xi Lu sitzen nun an zwei | |
zusammengeschobenen Tischen in diesem Büro, vor ihnen steht ein auf Pappe | |
zusammengeklebtes Modell des Zentrums. Lu erklärt, wie die Raumaufteilung | |
später genau aussehen kann: „Hier soll es ein Gemeinschaftscafé geben, da | |
ist der Empfang, hier ein Gruppenraum, hier die Praxisräume.“ Langsam füllt | |
sich die große Idee mit einer Vorstellung. | |
Die drei Frauen, die beruflich unterschiedlich ausgebildet sind, eint eine | |
Sache: die Unzufriedenheit mit dem hiesigen Gesundheitssystem. „Ich habe | |
lange als Physiotherapeutin gearbeitet und habe bei Hausbesuchen gemerkt, | |
dass es viele Patient*innen gibt, die vereinsamt sind. Ich hab mich dann | |
gefragt: Warum kann das nicht mit sozialen Angeboten verknüpft werden? | |
Meine Chefin hat das aber nicht so interessiert“, erzählt Lu. Als sie dann | |
bei einem Kongress vom Gesundheitskollektiv erfuhr, war ihr klar, dass sie | |
mitmachen möchte: „Ich wollte schon immer interdisziplinär arbeiten.“ Nun | |
kümmert sie sich um Gemeinwesenarbeit und Gesundheitsförderung. | |
## „Endlich mal einen anderen Weg gehen.“ | |
Bei Nesrin Kosanke, medizinische Fachangestellte, war es ähnlich. Beim | |
Surfen im Internet stieß sie auf eine Stellenanzeige der bereits | |
bestehenden Kinderarztpraxis in Neukölln, die später in das | |
Gesundheitszentrum verlegt werden soll: „Diesen politischen Anspruch kannte | |
ich davor gar nicht. Aber ich dachte gleich: Endlich mal einen anderen Weg | |
gehen.“ | |
Kosanke bewarb sich und fing im März den neuen Job an. Sie hatte vorher | |
schon in verschiedenen Praxen gearbeitet, nicht unglücklich, wie sie | |
erzählt; aber das, was sie bis dahin kannte, lief oft so ab: „Der Patient | |
kommt kurz rein, bekommt ein Rezept und ist zack, zack wieder raus. Aber | |
hier wollen wir auf das Ganze gucken. Wie geht es den Patient*innen – | |
physisch, psychisch, aber auch finanziell.“ So wie jetzt habe sie davor | |
noch nie gearbeitet, auch innerhalb des Teams: Entscheidungen werden | |
zusammen gefällt, sie arbeitet auf Augenhöhe mit dem Arzt und sie verdient | |
dort übertariflich. | |
Dass Lebensumstände für das Wohlbefinden wichtig sind, weiß Kosanke auch | |
aus eigener Erfahrung: „Ich war früher selbst alleinerziehend und kannte | |
viele Hilfsangebote nicht – dabei bin ich hier aufgewachsen. Wenn du aus | |
einem anderen Land kommst, die Sprache nicht sprichst und dann lebst du zu | |
fünft in einer Einzimmerwohnung, so etwas ist erschreckend. Und das hängt | |
dann ja auch wieder zusammen mit den Mieten.“ Sprachbarrieren seien oft | |
eine große Hürde, das finge ja schon mit dem Ausfüllen eines Anamnesebogens | |
an. „Ich spreche auch Türkisch, da kann ich helfen. Aber rumänische oder | |
bulgarische Mütter sind mit vielem alleine.“ | |
Patricia Hänel nickt zustimmend. „Dabei gibt es ja viele gute Angebote in | |
Neukölln. Aber wenn man sagt, geh mal zur Sozialberatung im Bezirksamt, | |
dann weißt du, die gehen da nicht hin, wenn man sie nicht an die Hand nimmt | |
und sagt, da passiert nichts Schlimmes, niemand nimmt dir die Kinder weg. | |
Und selbst wenn sie die vier Straßen weitergehen und eine Wartenummer | |
ziehen, Rumänisch kann da auch keiner.“ Hänel erfuhr über einen Freund vom | |
Gesundheitskollektiv: „Ich hatte schon immer einen politischen Anspruch. | |
Dann habe ich mich einfach gefreut, dass sich hier ein Projekt | |
manifestiert, bei dem man ganz konkret, vor Ort, etwas umsetzen kann.“ | |
Der Standort des geplanten Zentrums ist nicht zufällig gewählt. Die | |
Baustelle befindet sich zwischen dem Berliner Rollberg und dem | |
Flughafenviertel, beides Gegenden, die vom Bund-Länder-Programm Soziale | |
Stadt gefördert werden. In der Umgebung stehen viele Sozialbauten aus den | |
1970er Jahren, die Gesundheitsversorgung ist schlecht, die Arbeitslosigkeit | |
hoch. Um sich nicht von außen in einen fremden Bezirk zu drängen, in dem es | |
schon viele Hilfsangebote gibt, setzt das Kollektiv auf Vernetzung. | |
Mittels eines eigens konzipierten und mehrsprachigen Fragebogens, der in | |
den Haushalten der Umgebung verteilt wurde, ermittelte man den Bedarf der | |
zukünftigen Patient*innen. Seit Dezember 2017 gibt es zudem in | |
Zusammenarbeit mit verschiedenen Initiativen im Viertel die mobile | |
Gesundheitsberatung. Mitglieder des Kollektivs gehen dafür in Bibliotheken, | |
in Schulen oder ins Einkaufszentrum, um über unterschiedliche Themen zu | |
informieren: Das kann die Stärkung des Beckenbodens für Frauen sein oder, | |
in der kalten Jahreszeit, das Thema Erkältung. | |
## Das Geld bleibt knapp, der Einheitslohn wohl ein Traum | |
Bis 2020 wird das Gesundheitskollektiv durch die Robert-Bosch-Stiftung | |
gefördert. Konkret werden damit drei Stellen finanziert – was aber auch | |
bedeutet: das Gros der Arbeit wird durch ehrenamtliches Engagement | |
gestemmt. Im wöchentlichem Wechsel treffen sich die einzelnen AGs und dann | |
das gesamte Plenum. „Dieses Projekt ist bereichernd, aber auch | |
anstrengend“, erzählt Hänel. Als sie etwas amüsiert hinzufügt, dass es au… | |
immer wieder so ein „kollektives Burn-out gibt“, lachen die drei gemeinsam. | |
„Wir achten schon sehr aufeinander“, fügt Kosanke hinzu. „Und alle sechs | |
Wochen haben wir eine Supervision“, sagt Lu. | |
Wenn alles gut läuft, dann soll das Gebäude, das den Namen Alltag trägt, | |
Ende 2020 fertig sein. Neben dem Gesundheitszentrum werden auch andere | |
soziale und kulturelle Akteure einziehen, auch betreutes Wohnen für | |
geflüchtete Jugendliche ist geplant. Noch ist auf der Baustelle allerdings | |
wenig zu sehen: nur Bauschutt, ein schwarzer Container, Rohre, eine | |
Schubkarre und der Bagger. Es ist so laut, dass es in den Ohren wehtut. | |
„Wir versuchen hier seit drei Wochen, eine 1,7 Meter dicke Betonschicht zu | |
durchschlagen“, erklärt einer der Bauarbeiter mit erhobener Stimme, weil er | |
gegen den Lärm anspricht. „Ich hoffe, Sie haben einen guten Lärmschutz“, | |
ruft dann Michael Janßen über den Zaun. Janßen ist auch Teil des Kollektivs | |
und ist eben in der Mittagspause vorbeigekommen, um sich kurz vorzustellen. | |
Der Bauarbeiter winkt ab und lacht, bevor er sich wieder seiner Arbeit | |
widmet. Das scheint gerade nicht sein Hauptproblem zu sein. Janßen hat eine | |
Hausarztpraxis in der nicht weit entfernten Karl-Marx-Straße. Wenn das | |
Gebäude bezugsbereit ist, soll ein Kassenarztsitz hierher verlegt werden. | |
„Ich hoffe, dass das mit der Betonschicht keine Bauverzögerung bedeutet“, | |
murmelt er, kurz darauf ist er auch schon wieder weg. | |
## Im Konflikt mit der Gesetzeslage | |
Im übertragenen Sinn muss das Kollektiv das auch: eine Betonschicht | |
durchschlagen. Denn wenn die Gruppe im Plenum zusammenkommt, dann trifft | |
Utopie auf Gesetzeslage. Allein die Idee, interdisziplinär unter einem Dach | |
zusammenzuarbeiten, ist gar nicht so leicht umzusetzen. Das, was im | |
stationären Bereich, etwa in Krankenhäusern, kein Problem ist, nämlich, | |
dass unterschiedliche Berufsgruppen zusammenarbeiten, ist in der ambulanten | |
Versorgung viel schwieriger. Hier ist es regelrecht verboten, dass | |
Ärzt*innen und sogenannte Heilmittelerbringer*innen in einer gemeinsamen | |
Einrichtung arbeiten. Zu Letzteren gehören zum Beispiel | |
Physiotherapeut*innen oder Logopäd*innen. Diese arbeiten meist vorbeugend, | |
heilend oder nachsorgend und – das ist das Entscheidende – auf Verordnung | |
von Ärzt*innen. | |
„Deshalb ist dieses Verbot eigentlich auch sinnvoll“, erklärt Hänel, „d… | |
soll Ärzt*innen und Therapeut*innen unabhängig machen und Korruption | |
verhindern. Aber wir möchten uns ja nicht bereichern, sondern nur | |
kooperieren. Wir hätten gern einen gemeinsamen Server, wo die Daten der | |
Patient*innen liegen, und gemeinsame Fallkonferenzen, um sich austauschen | |
zu können.“ | |
Für das Kollektiv bedeutet das Kooperationsverbot nun konkret, dass sie auf | |
Physiotherapie im Gesundheitszentrum verzichten werden. Denn sonst hätten | |
sie auf dem Gelände neue Mauern hochziehen müssen. „Wir bräuchten einen | |
extra Empfang, extra Wartezimmer, man müsste alles doppelt machen. Für uns | |
war es letztlich auch eine finanzielle Frage, dass wir das nicht doppelt | |
stemmen können“, erklärt Lu. | |
„Unser Gesundheitssystem ist viel zu ärztezentriert“, kritisiert die Ärzt… | |
Patricia Hänel. Die Kooperation mit nichtmedizinischen Berufen oder mit | |
Heilmittelerbringer*innen gibt es im ambulanten Bereich nur in den | |
Sozialpädiatrischen Zentren, die sich auf die Versorgung von sehr kranken | |
Kindern und Jugendlichen spezialisiert haben, und den Medizinischen | |
Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren | |
Mehrfachbehinderungen. Beide Zentren sind allerdings auf bereits schwer | |
erkrankte Personen ausgerichtet. | |
„Schön wäre es, wenn es gesetzlich möglich wäre, auf ähnliche Weise ein | |
sozial-lokales Zentrum mit einem klaren Einzugsgebiet aufzubauen. Und wenn | |
dieses Zentrum pro Bewohner*in eine Pauschale erhielte, die es | |
selbstbestimmt verwalten könnte – und sei es für einen Graffitikünstler, | |
wenn man damit die Kids vom Kiffen abhält.“ Im derzeitigen System wäre so | |
etwas nicht möglich, weil dieser Ansatz sich nicht über die Krankenkassen | |
abrechnen ließe. | |
Das Gesundheitszentrum wird sich deshalb so strukturieren: Ein | |
Medizinisches Versorgungszentrum, ein sogenanntes MVZ, wird den | |
medizinischen Bereich abdecken und soll sich finanziell selbst tragen. | |
Beratung, Gemeinwesen und Forschung sind durch einen gemeinnützigen Verein | |
verbunden und werden auf Drittmittel und Spenden angewiesen sein. Damit | |
sich die verschiedenen Berufsgruppen dann tatsächlich auch vernetzen und | |
Fälle gemeinsam besprechen können, müssen Patient*innen eine | |
Einverständniserklärung unterzeichnen, damit ihre Daten geteilt werden | |
können. | |
Hänel, die sich im Gesundheitskollektiv um die Trägerstruktur und die | |
Finanzierung kümmert, ärgert sich: „Wir wollen eine multiprofessionelle und | |
sozial integrierte Versorgung, das ist der Appell der Politik und der | |
Wissenschaft, aber im realen Leben ist das kaum umzusetzen.“ | |
Auch die Idee eines Einheitslohns, die das Kollektiv eigentlich | |
befürwortet, um gleichberechtigter zusammenarbeiten zu können, wirft viele | |
Fragen auf. Wenn Ärzt*innen auf einen Großteil ihres Lohns verzichten, um | |
die sonst schlechter bezahlten Berufsgruppen besser zu honorieren, hätte | |
das einen klaren Effekt. „Wenn man als Ärzt*in draußen viermal so viel | |
verdient, warum sollte man dann im Gesundheitskollektiv arbeiten?“, fragt | |
Hänel. Und auch Lu gibt zu bedenken: „Ich würde dann zwar mehr verdienen | |
als außerhalb, aber ich wäre damit abhängig vom Gönner, der sich bereit | |
erklärt, sein Gehalt an mich weiterzugeben.“ | |
Die Frauen verlieren sich in einer Diskussion, wie sie eine Finanzierung | |
hinbekommen könnten. Kosanke erzählt, dass sie noch heute nach Kanada | |
fliegen wird, um sich dort die schon etablierten „community health centres“ | |
anzuschauen, die einen ähnlichen Ansatz haben. „Es ist keine Utopie, was | |
wir hier wollen. Das kanadische Modell wurde staatlich unterstützt“, sagt | |
Hänel. Wie genau das Zentrum aber hierzulande funktionieren soll, ist eine | |
Frage, die nicht heute und nicht morgen geklärt werden wird. In einer | |
Tischecke liegt ein Sticker des Polikliniksyndikats. Darauf steht: „Es gibt | |
kein gesundes Leben im kranken System.“ | |
11 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
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