# taz.de -- Coronastatistiken und Rassismus: Hegemoniale Daten | |
> Erhebungen zur Gesundheit, die systemische Diskriminierung aufzeigen | |
> könnten, gibt es in Deutschland kaum. Dabei wäre das wichtig. | |
Bild: S-Bahnhof Neukölln: Wo Menschen auf engem Raum zusammenleben, steigt das… | |
Während der zwei Jahre Pandemie wurde immer wieder über sie gesprochen: | |
Menschen mit „Migrationshintergrund“. Besonders in Erinnerung ist die | |
[1][Aussage von RKI-Chef Lothar Wieler], auf den Intensivstationen lägen 90 | |
Prozent Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Debatte wurde just zum | |
„Tabu“ erklärt und zum Anlass genommen, gegen eingewanderte Menschen | |
Stimmung zu machen. Auch ein Statement von Berlins Regierender | |
Bürgermeisterin Franziska Giffey wurde breit diskutiert: Anfang Januar wies | |
sie auf die Impfskepsis in manchen „Communitys“ hin, weil es dort besonders | |
viele „Vorbehalte“ und Falschinformationen gebe. | |
Das Problem an solchen Aussagen und Debatten: Aufgrund der fehlenden Daten | |
führen sie zu keiner Lösung, sondern füttern nur Vorurteile und | |
rassistische Stereotype. Es ist so, als schaue man sich den [2][Gender Pay | |
Gap] an und ziehe daraus den Schluss, dass Frauen einfach nicht | |
qualifiziert genug, sprich: dümmer seien als Männer. Dass das nicht | |
passiert, liegt nur daran, dass es viele andere Daten gibt, die die | |
Ursachen für die Lohnlücke darstellen. Eine einzige Schicht Daten reicht | |
nun einmal nicht aus für Interpretationen. | |
Zur vermeintlichen Impfskepsis unter Menschen mit Migrationshintergrund hat | |
das [3][Robert Koch-Institut denn auch Anfang Februar diese zweite Schicht | |
an Daten nachgeliefert]. Demzufolge liegen die Impfquoten bei Menschen mit | |
Migrationshintergrund tatsächlich niedriger. Aber: Die Impfbereitschaft bei | |
den Ungeimpften ist unter Eingewanderten höher als unter | |
Nichteingewanderten. Und: Die Diskrepanz der Impfquoten scheint nicht mit | |
irgendeiner ominösen „Impfskepsis“ zusammenzuhängen, sondern mit dem | |
sozioökonomischen Status und der Sprache. Je besser die Deutschkenntnisse, | |
desto höher die Impfquote. | |
Die Debatte, wie sie auch um Lothar Wielers Aussage geführt wurde – es sei | |
ein „Tabu“, über höhere Erkrankungsraten unter Migrant*innen zu sprechen | |
– finde sie „unsäglich“, sagt Anne-Kathrin Will. Die Wissenschaftlerin d… | |
HU Berlin hat jüngst für den [4][Mediendienst Integration ein Paper zu | |
Rassismus in der Pandemie] veröffentlicht. Sie und zwei Kolleg*innen | |
wollten herausfinden, ob rassifizierte Menschen stärker von Covid betroffen | |
sind. | |
## Ein Kollektiv in Berlin macht es anders | |
Will behauptet nicht, dass Migrant*innen nicht häufiger oder schwerer an | |
Covid erkranken, im Gegenteil: Sie versucht, mit den wenigen vorliegenden | |
Daten zu zeigen, dass genau das der Fall ist. Dazu ziehen die | |
Forscher*innen die Sterberaten von Menschen mit ausländischer | |
Staatsangehörigkeit heran. Was sie in den Daten sehen: dass in den ersten | |
drei Covid-19-Wellen ausländische Staatsbürger*innen tatsächlich | |
häufiger gestorben sind als deutsche Staatsangehörige. | |
„Diese Daten sind holzschnittartig“, beschreibt Will ihre eigene Analyse. | |
Denn natürlich ist eine ausländische Staatsangehörigkeit nur eine | |
Annäherung an von Rassismus Betroffene. Außerdem sagen sie nichts über die | |
Ursachen der höheren Sterberaten aus. Die Ursachen leiten Will und ihre | |
Kolleg*innen zum einen aus anderen Studien ab, die sich mit den sozialen | |
Komponenten von Gesundheit befassen. | |
Ihre eigene Analyse bestätigt außerdem das, was Studien aus anderen Ländern | |
zeigen: dass sozial benachteiligte und rassifizierte Menschen schwerer von | |
Infektionskrankheiten und damit auch von Covid-19 betroffen sind. Die | |
Ursache, folgert Will in dem veröffentlichten Paper, liegen in den | |
„vergleichsweise schlechten Wohn- und Arbeitsverhältnissen, dem | |
eingeschränkten Zugang zu gesunder Ernährung, Bewegung und Erholung“. | |
Kirsten Schubert kennt solche Verhältnisse gut. Die Hausärztin arbeitet in | |
einem jüngst eröffneten Gesundheitszentrum in Berlin-Neukölln, das eine | |
andere Art der Versorgung bietet: intersektional und interdisziplinär. | |
Gegründet wurde das Gesundheitszentrum vom [5][Gesundheitskollektiv | |
Berlin], das neben körperlichen vor allem soziale und psychische Faktoren | |
als entscheidend für die Gesundheit von Menschen erachtet. | |
„Die sozialen Verhältnisse sind entscheidend für die Gesundheit von | |
Menschen“, sagt Schubert. Deswegen wird in den umfangreichen Anamnesebögen | |
des Gesundheitszentrums nicht nur nach der medizinischen Vorgeschichte | |
gefragt. Es werden auch ganz gezielt Auskünfte über | |
Diskriminierungserfahrungen erhoben, zum Beispiel Mobbing, Rassismus oder | |
Sexismus. Die 40-jährige Ärztin gehört zu den Gründer*innen des | |
Gesundheitskollektivs. | |
## Die Sterblichkeit in sozial benachteiligten Regionen ist höher | |
„Menschen mit Rassismuserfahrungen sind oft psychisch belasteter und leiden | |
häufiger unter chronischen Erkrankungen“, beschreibt sie ihre | |
Beobachtungen. Deswegen sei sie froh, dass im Gesundheitszentrum Neukölln | |
gezielt und systematisch nach Sprachbarrieren oder auch Wohnverhältnissen | |
gefragt werde. „Menschen mit ausländischen Wurzeln sind finanziell oft | |
schlechter gestellt, und das spiegelt sich eben in den Lebensverhältnissen | |
wider.“ | |
Diese soziale und strukturelle Ungleichheit zeigt sich auch in den höheren | |
Sterberaten, die Anne-Kathrin Will in ihrer Analyse gefunden hat. Diese | |
wiederum decken sich mit [6][Untersuchungen des RKI], das die Sterbedaten | |
der zweiten Covid-19-Welle im Dezember 2020 und Januar 2021 untersucht hat: | |
Die Sterblichkeit von Covid-19, zeigen die Daten, lag in sozial | |
benachteiligten Regionen Deutschlands um 70 bis 90 Prozent höher als in | |
nicht sozial benachteiligten Regionen. | |
Studien aus den USA, Großbritannien oder Australien zeigen das schon lange. | |
Dort werden gezielt Gesundheitsdaten verschiedener Communitys erhoben. | |
[7][Eine australische Meta-Analyse aus dem Jahr 2021] zeigt, dass | |
Prävalenz, Hospitalisierung und Mortalität durch Covid-19 bei Schwarzen und | |
Hispanics signifikant höher ist als in anderen Communitys. Diese | |
Ergebnisse, schließen die Forscher*innen, weisen auf die systematische | |
Benachteiligung von Minderheiten hin. Sie mahnen in ihrer Studie, dass die | |
Daten die Notwendigkeit eines Programmes zeigen, das diese Unterschiede | |
gezielt behebt. | |
Davon sind wir in Deutschland weit entfernt. „Es ist schon verwunderlich, | |
dass nicht einmal die wenigen Daten, die es gibt, bisher ausgewertet | |
wurden“, sagt die Wissenschaftlerin Anne-Kathrin Will. „Es ist ein | |
Wegsehen, eine vollkommene Ignoranz gegenüber dem Thema.“ Die Daten, die | |
erhoben werden, seien hegemoniale Daten, erklärt sie. Sprich: Daten, die | |
systematische Diskriminierung aufzeigen könnten, werden gar nicht erst | |
erhoben. | |
## Ohne Daten führen wir Debatten, die Vorurteile schüren | |
Um die Gesundheit in verschiedenen Communitys, sozialen Schichten und | |
Minderheiten besser verstehen zu können, muss es einen transparenten und | |
inklusiven Prozess darüber geben, welche Daten erhoben werden – und wie. In | |
Großbritannien, sagt Will, werde der Zensus [8][immer wieder neu | |
evaluiert], und zwar mit Befragungen der betreffenden Communitys. Es werde | |
nach Selbstbezeichnungen gefragt und danach, wie sichergestellt werden | |
könne, dass die Daten zum Wohl der jeweiligen Community erhoben werden. | |
Also ein inklusiver Prozess. | |
„Ich war schon vorher sensibilisiert, was für eine Rolle rassistische | |
Erfahrungen in der Gesundheit von Menschen spielen“, sagt die Ärztin | |
Kirsten Schubert. „Aber seit ich in unserem Gesundheitszentrum arbeite und | |
wir diese Dinge ganz gezielt abfragen, merke ich, dass da noch viel mehr | |
dazu gehört.“ Man müsse strukturell geschult und aktiv sensibilisiert | |
werden, erklärt sie. Und man brauche dazu eben Daten, wie sie in ihren | |
Anamnesebögen abgefragt werden. | |
Anstatt Datenerhebungen in einem inklusiven Prozess zu diskutieren, führen | |
wir Debatten, die Vorurteile schüren – wie die wissenschaftlich unbelegte | |
Behauptung von Franziska Giffey, bestimmte Communitys würden häufiger an | |
Desinformation über das Impfen glauben als andere. | |
Erst die Daten des RKI zeigen: Das Problem sind die Sprachbarriere und der | |
sozioökonomische Hintergrund. Daran sieht man einmal mehr: Eine einzige | |
Schicht an Daten ist völlig wertlos. Dafür werden Stereotype und Vorurteile | |
geschürt. Das kann man so machen. Gelöst werden die Probleme so allerdings | |
nicht. | |
15 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Leben-und-Sterben-mit-Corona/!5757300 | |
[2] /Lohnluecke-zwischen-Maennern-und-Frauen/!5770017 | |
[3] /Impfungen-bei-Migrantinnen/!5829778 | |
[4] https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Expertise_Rassismus_U… | |
[5] /Kollektiv-fuer-eine-bessere-Behandlung/!5635557 | |
[6] https://www.rki.de/DE/Content/GesundAZ/S/Sozialer_Status_Ungleichheit/Fakte… | |
[7] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8248751/ | |
[8] https://www.ons.gov.uk/census/censustransformationprogramme/questiondevelop… | |
## AUTOREN | |
Gilda Sahebi | |
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