# taz.de -- Judentum und Popkultur in den USA: Sich das Hakenkreuz aneignen | |
> Bob Dylan, Lou Reed und die Beastie Boys: Der Pop in den USA wurde und | |
> wird von zahlreichen jüdischen KünstlerInnen geprägt. | |
Bild: Die Beastie Boys 1987 | |
Ist Pumpernickel jüdisch? Glaubt man Lenny Bruce, lautet die Antwort: | |
definitiv. In einer seiner bekanntesten Stand-up-Nummern erdachte der einst | |
berüchtigte Komiker eine Typologie des Jüdischen, indem er die Welt ganz | |
einfach in „jewish“ und „goyish“, in jüdisch und nichtjüdisch, eintei… | |
Fruchtsalat? Für Lenny Bruce jüdisch. Brüste? Jüdisch. Ray Charles? | |
Jüdisch. Makronen? Superjüdisch! Zitronenlimo und Trailerparks hingegen: | |
goyish hoch zehn. Alles klar? | |
Natürlich nicht. Denn was Bruce mit seiner eigenwilligen Aufzählung | |
leistete, war etwas Unerhörtes: Er löste den Begriff des Jüdischen aus dem | |
bekannten Zusammenhang. Ob etwas „jüdisch“ ist, hatte nunmehr nichts mit | |
Chanukka oder Israel zu tun; Bruce’ respektlose Typologie orientierte sich | |
weder an ethnischen noch an religiösen, sondern allein an (pop-)kulturellen | |
Aspekten, wie der Kulturwissenschaftler Caspar Battegay in [1][seinem Essay | |
„Judentum und Popkultur“ feststellte]. Man könnte sagen: Bruce überführte | |
in seinem Sketch jüdische Identität in Pop – und befreite sie von | |
Zuschreibungen. Auch über 50 Jahre nach Bruce’ Tod klingt das noch | |
reichlich unerhört. Denn wenn in Deutschland eines schlecht zusammenpasst, | |
dann Juden und Pop. | |
Und das aus mehreren Gründen: Zuerst ist da das Unbehagen. Jüdische Themen, | |
stellt Battegay fest, werden in Deutschland mit heiligem Ernst und größter | |
Vorsicht behandelt. Die Traditionen von Jüdinnen und Juden (also: Klezmer | |
und Volkslieder) gelten im Land der TäterInnen als unbedingt schützenswert, | |
während die Existenz vitalen jüdischen Lebens den Deutschen einschüchtert – | |
denn es erinnert ihn daran, was hätte sein können, wäre die Schoah nie | |
passiert. | |
Zugleich ist das hässliche Gegenstück zum Opfer-Narrativ, das Stereotyp vom | |
machtgeilen, kriegslüsternen Juden, im Pop derzeit lebendig wie lange | |
nicht. Im obszönen Hass der Rechtsrockbands, in der antizionistischen | |
Symbolsprache von Rappern wie Kollegah, im Schnulzenpop von Xavier Naidoo, | |
der von „Baron Totschilds“ Umtrieben raunt, aber auch in der | |
unreflektierten Globalisierungskritik mancher Punkbands lebt das Bild vom | |
niederträchtigen Strippenzieher mit Hakennase fort. Zudem erklärt das | |
[2][israelfeindliche Bündnis BDS] der Regierung von Benjamin Netanjahu für | |
seine Siedlungspolitik den Kulturkrieg, indem es KünstlerInnen von | |
Auftritten in Israel abzuhalten versucht. Und überhaupt den internationalen | |
Kulturbetrieb gegen den angeblichen Schurkenstaat aufbringt – damit die | |
alte Mär vom kulturlosen Juden, vom „wurzellosen Kosmopoliten“, wie es | |
Stalin formulierte, weiterleben kann. | |
## Pop wäre ohne jüdischen Einfluss schwer denkbar | |
Antisemitismus ist fester Bestandteil der Popkultur. Und das ist reichlich | |
paradox, denn die Popkultur des 20. Jahrhunderts, ob Mainstream oder | |
Underground, Pop oder Punk, wäre ohne jüdischen Einfluss schwer denkbar. | |
Im frühen 20. Jahrhundert bis in die 20er hinein war auch in Deutschland | |
der Einfluss jüdischer Intellektueller groß gewesen; nach den Gräueltaten | |
der Nationalsozialisten, nach der Flucht jener Juden, die der Schoah | |
entkommen konnten, verlagerte sich das jüdische Kulturleben hauptsächlich | |
in die USA. Beat-Literat Allen Ginsberg und Bob Dylan, der | |
nobelpreisgekrönte Songwriter-Gott; Produzent Phil Spector und Sängerin | |
Carole King, die Stars der legendären New Yorker Produktionsstätte Brill | |
Building, die Beastie Boys: Dutzende Pop-Ikonen waren und sind jüdisch. | |
Auch das Werk des kanadischen Musikers Leonard Cohen steckt voller Verweise | |
auf jüdische Identität, etwa sein Song „Who By Fire“, der zum Teil auf der | |
Liturgie für die Feiertage Jom Kippur und Rosch ha-Schana basiert. Filme | |
wie Woody Allens „Annie Hall“ und Sitcoms wie „Seinfeld“, aber auch die | |
Zeichentrickserie „South Park“ verhandelten Fragen jüdischer Identität | |
teilweise unerhört bissig und polemisch; die Comedienne Sarah Silverman | |
spielte mit dem Bild der verwöhnten Göre aus wohlhabendem jüdischen Hause. | |
Und der Rapper Matisyahu stiftete nachhaltig Verwirrung, als er | |
traditionelles wie modernes Judentum mit Reggae und HipHop verband. | |
Es mag im aktuellen Pop keine jüdische Beyoncé geben, keine internationale | |
Lichtgestalt, die jüdische Identitätspolitik so öffentlichkeitswirksam in | |
den Mainstream trägt, wie es „Queen Bey“ mit Blackness schaffte – „Aber | |
hey, wir haben Barbra Streisand, wir können uns also nicht beschweren“, | |
sagt Steven Lee Beeber. Der US-Amerikaner ist Publizist und Autor des Buchs | |
„Die Heebie-Jeebies im CBGBs“, ein [3][Standardwerk über die jüdische | |
Geschichte des Punks] im New York der 70er, das zeigt, dass ohne die New | |
Yorker Juden die Geschichte des US-Punks nicht geschrieben worden wäre. Lou | |
Reed war jüdisch, ebenso Richard Hell, Jonathan Richman, [4][zwei von vier | |
Ramones], fünf der sechs Dictators – und viele mehr. | |
## Mittelfinger an alle VerschwörungstheoretikerInnen | |
Juden als Erfinder einer radikalen Subkultur, die sich gegen das | |
Establishment richtet: Beebers Werk ist ein ausgestreckter Mittelfinger an | |
alle VerschwörungstheoretikerInnen. „Die frühen Punks hatten den Wunsch, | |
sich jenseits von Zuschreibungen zu bewegen“, sagt Beeber. „Die Idee, sich | |
neu erfinden zu können, ist eine sehr amerikanische. Und besonders Juden | |
waren für diese Idee sehr empfänglich, eben weil sie als Außenseiter | |
gesehen wurden.“ | |
Im Punk lag die Chance, sich von seiner Geschichte zu emanzipieren. Lou | |
Reed fantasierte in seinem Song „I Wanna Be Black“ spöttisch darüber, es | |
den Juden „so richtig zeigen zu wollen“. The Dictators gingen sogar noch | |
einen Schritt weiter, sangen vom „Master Race Rock“ („Herrenrassen-Rock�… | |
und nahmen die Swastika in ihr ästhetisches Repertoire auf. Indem man sich | |
das Hakenkreuz aneignete, so zitiert Beeber die Blondie-Sängerin Debby | |
Harry, wollte man zeigen, dass „die Juden gewonnen haben“. | |
Während die Punks der 70er Jahre jüdische Identität noch dekonstruieren | |
wollten, identifizieren sich die Künstler der „Punk Jews“-Bewegung, die | |
sich vor etwa einer Dekade in New York City formierte, explizit religiös, | |
zentrieren jüdischen Stolz und Spiritualität. In Zeiten der | |
Identitätspolitik findet auch in der jüdischen Community eine Hinwendung | |
zum Glauben statt. „Für Gruppen wie The Shondes ist es kein Widerspruch, | |
jüdisch und queer, lesbisch und anarchistisch zu sein“, sagt Beeber. | |
Aber was soll nun eigentlich jüdisch sein an Künstlern wie Bob Dylan, den | |
Beastie Boys oder eben The Shondes? „Jüdisch zu sein ist eine ziemlich | |
eigenwillige Sache“, sagt Beeber. „Ich selbst fühle mich einerseits sehr | |
jüdisch, andererseits völlig jenseits solcher Labels. Und ich denke, so | |
geht es vielen Juden.“ Jüdische Identität birgt eine Art Paradoxon: Weil | |
die Geschichte des Judentums von Katastrophen geprägt sei, so Caspar | |
Battegay, kann es in der jüdischen Kulturgeschichte nie um Kontinuität | |
gehen, sondern um die Darstellung von Ambivalenz. | |
## Ist Deutschland ist man skeptisch | |
In Deutschland aber steht man diesem Spiel mit Uneindeutigkeit noch immer | |
skeptisch gegenüber. Comedians wie Oliver Polak oder neuerdings Shahak | |
Shapira heben jüdische Identität aufs Tableau, setzen aber auf einen eher | |
robusten Humor. Zugleich, stellt Caspar Battegay stellt, werden hierzulande | |
in der Synchronisation von US-Filmen wie „Meine Braut, ihr Vater und ich“ | |
Witze, die auf die jüdische Identität von Charakteren abzielen, oft | |
schlicht nicht übersetzt. | |
Auch Leonard Cohens Songs werden hier als geniale Studien menschlicher | |
Abgründe rezipiert – nicht aber als Abhandlungen über jüdische Identität. | |
In Deutschland greift man also auf eine Poptradition zurück, die von | |
Jüdinnen und Juden geprägt ist, befreit sie jedoch noch immer von allem | |
Jüdischen. | |
Und das ist zumindest erstaunlich. Denn vermutlich würde alle | |
Israel-FeindInnen, alle BDS-Fans und „Baron Totschild“-AlarmistInnen | |
nichts so sehr ärgern wie ein zweiter Lenny Bruce: ein unmöglicher Kerl, | |
der dreist verkündet, Kartoffelbrei sei „goyish“, Schokolade hingegen | |
jüdisch, Kirschlimo und Münder obendrein – und noch nicht mal daran denkt, | |
eine Erklärung anzubieten. | |
5 Aug 2018 | |
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## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
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