# taz.de -- Isolation von Geflüchteten mit Corona: Eingeschlossen im Container | |
> Rund 100 Coronafälle gibt es im Flüchtlingslager Vathy auf der | |
> griechischen Insel Samos. Betroffene werden auf engstem Raum | |
> eingepfercht. | |
Wir bitten um Hilfe. Wir sind nur Flüchtlinge, wir haben kein Verbrechen | |
begangen“, sagt die männliche Stimme im Video. Die Kamera zeigt in einer | |
Plastikverpackung eine Art Fladenbrot, auf dem es bläulich-pelzig | |
schimmert. „Das ist das Frühstück, das sie uns zu essen geben“, sagt der | |
Mann. „Sie sehen, wie schlecht es ist. Im Camp ist das Essen schon | |
abgelaufen.“ | |
Die Kamera schwenkt auf den Boden, wo eine graue Decke ausgebreitet liegt | |
und eine rosa-violett geblümte, an der Wand lehnt eine Isomatte. „Wir | |
schlafen auf dem Boden.“ Eine andere Männerstimme sagt: „Wir brauchen | |
Hilfe. Wir bekommen keine Behandlung, keine Medikamente, nichts.“ | |
Joseph soll der Mann hier heißen, in dessen Coronaquarantäne im | |
Flüchtlingslager auf der griechischen Ägäisinsel Samos das Video entstanden | |
ist. Es zeigt die Bedingungen, unter denen die Bewohner*innen des Camps | |
isoliert werden, wenn sie positiv auf das Coronavirus getestet werden. | |
Josephs kompletter Name ist der taz bekannt. Doch wie viele andere im Lager | |
hat er Angst vor den griechischen Behörden. „Ich bin schon so lange hier, | |
ich kenne dieses Lager“, sagt der breitschultrige Mann. Seit einem Jahr und | |
10 Monaten lebe er im Camp. | |
Erst ein paar Tage vor dem Gespräch mit der taz ist Joseph aus der | |
Corona-Isolation entlassen worden. Die Sonne brennt heiß auf den kleinen | |
Vorplatz der Kirche in der Nähe des Flüchtlingslagers. „Was ich sage, ist | |
die Wahrheit, aber ich weiß, dass ich damit in Probleme geraten kann. | |
Deswegen wollte ich mein Gesicht in dem Video nicht zeigen.“ | |
Nach dem Gespräch muss er wieder zurück: ins Flüchtlingslager in Vathy. | |
Dort leben 4.300 Menschen in einem und um ein Camp, das eigentlich nur für | |
650 ausgelegt ist. | |
Mitte September traten hier die ersten bestätigten Coronafälle auf. Ein | |
beängstigendes Szenario: Tausende Menschen leben so wie Joseph ungeschützt | |
in dem „Wald“ oder „Dschungel“ genannten Teil des Camps. Sie wohnen | |
außerhalb fast jeder Infrastruktur, dicht an dicht in Zelten. Nicht immer | |
sind Hygieneregeln wie gründliches Händewaschen einhaltbar, da weder | |
fließendes Wasser noch Seife unbegrenzt zur Verfügung stehen. | |
Das Camp ist seit den ersten bestätigten Fällen in einem Lockdown, die | |
Flüchtlinge sollen das Gelände möglichst wenig verlassen, die Eingänge | |
werden von Polizist*innen kontrolliert – und wer positiv getestet wird, | |
kommt für 14 Tage in Container. So wie Joseph. | |
Gespürt hatte Joseph vorher eigentlich nur einen leichten Husten, berichtet | |
er. Der sportliche junge Mann machte sich keine Sorgen, er fühlte sich | |
„sehr okay“, sagt er. Das Ergebnis kam schnell: „Nach vielleicht fünf | |
Minuten hat mir der Arzt gesagt, ich sei positiv.“ Dass er nun für 14 Tage | |
in Quarantäne gehen müsse, habe Joseph ganz ruhig aufgenommen, er kenne ja | |
die Regeln. „Ich habe die Situation akzeptiert. Schockierender war für | |
mich, wohin sie uns brachten.“ | |
Nach dem Test ging es in den Container – rein dort, Türe zu. Joseph kam als | |
Dritter in die Isolierstation, erzählt er. Dort warteten bereits zwei | |
Männer und eine Frau. Am nächsten Tag seien noch zwei Frauen dazugekommen. | |
Zwei Räume, eine Toilette – sechs unbekannte Menschen für zwei Wochen unter | |
Quarantäne. Der Container hatte eine Klimaanlage, sodass die Gruppe | |
zumindest nicht unter der Hitze leiden musste. Doch schlafen mussten sie | |
auf dem Boden, auf einer dünne Isomatte oder Decke. | |
Um 6 Uhr abends wurde der Container aufgeschlossen, gibt Joseph an, dann | |
hätten die Insassen herausgedurft, um Luft zu schnappen auf einem kleinen | |
Platz oder zur Dusche zu gehen. „Dann kam die Polizei um 11 Uhr, um uns | |
wieder einzuschließen“, sagt er. | |
Ärztliche Untersuchungen, regelmäßige Nachfragen nach Symptomen? In den | |
ersten Tagen sei niemand vorbeigekommen, um den Gesundheitszustand der | |
Isolierten zu erfragen, so Joseph. Erst in den letzten Tagen sei regelmäßig | |
Fieber gemessen worden. | |
Kein Wunder: Für das gesamte Camp gibt es nach Angaben der | |
Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen nur zwei Militärärzte und drei | |
Krankenpfleger*innen. Unter mangelndem Wasser hätten sie nicht gelitten, | |
sagt Joseph. „Aber das Problem war das Essen“, klagt er, der Ekel klingt in | |
seiner Stimme durch. „Es ist verfault.“ | |
Im Camp wird derzeit zweimal am Tag Essen verteilt: Morgens gibt es ein | |
Frühstück und pro Person 1,5 Liter Wasser, zum Mittagessen wird auch schon | |
gleich das Abendessen mit ausgegeben. | |
Die Campbewohner*innen beklagen, das Essen sei schlichtweg ungesund, | |
die Produkte oft abgelaufen, manchmal sichtbar verschimmelt. „Ich esse das | |
Essen nicht“, erklärt auch Joseph. „Als ich herkam, habe ich viele Probleme | |
mit meinem Magen bekommen – und darunter hab ich zuvor nie gelitten.“ | |
Nach einer Weile habe er also aufgehört, die Speisen zu essen. „Ich habe | |
mir gesagt, okay, es ist besser, mir von der kleinen Bargeldhilfe, die wir | |
bekommen, etwas zu essen zu kaufen, als hier krank zu werden und zu | |
sterben.“ So halten es viele Flüchtlinge auf Samos und geben die 75 Euro, | |
die eine alleinstehende Person monatlich bekommt, für Lebensmittel aus. | |
## Keine Reaktion der griechischen Behörden | |
Josephs Erfahrung ist kein Einzelfall. [1][Ärzte ohne Grenzen hat gerade | |
erst ob der Isolationsbedingungen für Campbewohner*innen Alarm | |
geschlagen]. „Die Menschen sind in schmutzigen Containern eingesperrt, die | |
meisten müssen auf dem Boden schlafen, in dem oft Löcher klaffen“, schreibt | |
die NGO. „Bei einigen funktioniert die Wasserversorgung nicht, andere haben | |
keine Toiletten. Das Essen ist manchmal ungenießbar.“ | |
Ein Problem seien auch die Schnelltests, sagt Jonathan Vigneron, | |
Projektleiter für Ärzte ohne Grenzen auf Samos, der taz. Nicht immer | |
ergäben diese ein akkurates Ergebnis. Wenn aber die Menschen mit | |
Infizierten in den Container gesperrt würden, seien sie danach auf jeden | |
Fall coronapositiv. | |
Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR gibt ebenfalls an, Klagen etwa über die | |
fehlenden Schlafmöglichkeiten in der Quarantäne und das Essen gehört zu | |
haben – es wende sich an die griechischen Behörden, um die Situation zu | |
verbessern. Und die Behörden? Sie antworteten auf Anfragen zu den | |
Quarantänebedingungen nicht. | |
Tatsächlich geben sie nicht einmal die genaue Anzahl der positiv Getesteten | |
in den Flüchtlingslagern heraus. Ärzte ohne Grenzen spricht von mehr als | |
100 Infizierten im Camp von Samos. Doch Genaueres ist nicht zu erfahren. | |
Die zuvor wöchentlich herausgegebenen [2][Berichte mit epidemiologischen | |
Daten] aus den Flüchtlingslagern Griechenlands enden mit dem 26. Juli | |
dieses Jahres. | |
Zum großen Unmut von Wissenschaftler*innen wie Elias Kondilis, der an der | |
Aristoteles-Universität in Thessaloniki zu Gesundheitspolitik und | |
medizinischer Grundversorgung forscht. „Das ist das Problem: Wenn wir keine | |
offiziellen Daten haben, gibt es all diese Gerüchte und | |
Verschwörungstheorien.“ | |
Die scheinen auch im Camp zu blühen. Viele der Bewohner*innen zeigen | |
sich skeptisch, ob das Virus wirklich im Lager aufgetreten sei – viele | |
fürchten, die Lockdown-Maßnahmen seien nur eine weitere Taktik der | |
Behörden, sie zu gängeln und einzuschließen. Sie werden schließlich anders | |
behandelt als die Ortsansässigen: Die Menschen im Lager sind im Lockdown, | |
der Rest der Bevölkerung nicht. | |
Für die Flüchtlinge existiert sogar ein eigener Plan, wie mit | |
Corona-Ausbrüchen umgegangen werden soll – der sogenannte Agnodiki-Plan. Er | |
besagt, dass die gesamte Einrichtung insgesamt je nach Fallzahl in einen | |
unterschiedlich strengen Lockdown versetzt wird und alle bestätigten wie | |
Verdachtsfälle vor Ort isoliert und behandelt werden. | |
„Es ist ein Militärplan“, sagt Forscher Kondilis. Das Konzept sei im | |
Kontext der Politik der griechischen Regierung zu sehen, die Flüchtlinge | |
und Migranten in Camps als Frage der nationalen Sicherheit und des | |
Grenzschutzes behandle. | |
## Alte, Kinder und chronisch Kranke müssen bleiben | |
„Die Idee ist einfach. Wenn man diese Bevölkerungsgruppe human behandelt, | |
wenn man versucht, sie zu schützen, ihre Gesundheit zu fördern, dann gibt | |
man das Signal an diejenigen außerhalb der Grenzen, zu kommen und sich | |
anzuschließen.“ Da der Plan von Flüchtlingen als Sicherheitsbedrohung | |
ausgehe, sei der erste Schritt, bei einem oder mehreren Fällen | |
Quarantänemaßnahmen für das gesamte Camp einzuleiten – selbst wenn diese | |
nicht nötig seien. „Der Agnodiki-Plan sieht vor: Jedes Mal, wenn es einen | |
positiven Fall gibt, wird das Camp abgesperrt“, sagt Kondilis. | |
In einem kompletten Lockdown ist das Lager auf Samos noch nicht. Aber die | |
Bedingungen wurden zuletzt vor zwei Wochen strenger. Derzeit dürfen von den | |
Tausenden Bewohner*innen immer nur 150 Menschen gleichzeitig außerhalb | |
des Camps sein. „Aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheit wäre die | |
erste Handlung, alle Positivfälle zu isolieren, alle besonders gefährdeten | |
Bevölkerungsgruppen aus dem Camp zu bewegen und dann mit dem Testen und | |
Nachverfolgen unter den im Camp Verbleibenden fortzufahren“, erklärt | |
Kondilis. | |
Nach diesen Grundsätzen würde Athen handeln, wenn es um andere | |
Bevölkerungsgruppen in abgeschlossenen Umgebungen gehe – etwa in | |
Pflegeheimen. Anders als bei den Flüchtlingen auf Samos, die innerhalb des | |
Lagers isoliert werden und wo Alte, Kinder und chronisch Kranke bisher | |
einfach vor Ort bleiben. Da die Flüchtlingscamps so überbelegt seien, sei | |
es unabwendbar, dass die Verdachtsfälle zum Beispiel die Sanitäranlagen mit | |
den anderen Bewohner*innen teilten, so Kondilis. | |
Jedenfalls erhöhen die Bedingungen in der Isolierstation kaum die | |
Bereitschaft, sich testen zu lassen. Ärzte ohne Grenzen jedenfalls gibt an, | |
dass mehrere Patient*innen bei Symptomen nicht zu den Lagerärzten gehen | |
wollten. | |
27 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/MSF_Sea/status/1319290704544198665 | |
[2] https://eody.gov.gr/en/epidemiological-statistical-data/system-of-epidemiol… | |
## AUTOREN | |
Eva Oer | |
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