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# taz.de -- Hinreißender Film von Laurie Anderson: Von der Verletzlichkeit der…
> Laurie Andersons Filmessay „Heart of a Dog“ ist eine visuell-akustische
> Komposition. In ihr vergegenwärtigt sie die Toten, die sie liebt.
Bild: Andersons Terrierhündin Lolabelle spielt Klavier
Federleicht fühlt es sich an, beim Fahren durch die vorbeieilenden
Baumkronen hindurch in den Himmel zu schauen. In Laurie Andersons
hinreißendem Filmessay „Heart of a Dog“ kehren solche unbewussten, seit
Kinderwagentagen gespeicherten Bilder elementaren Kinoglücks wieder.
Die Perspektive von Kindern und Hunden, die ihre Bewegungslust am Boden
ebenso genießen wie den Ausblick in die Traumzone des Himmels, ist eines
der suggestiven Elemente ihres Films, vielleicht das elementarste.
Mit gezeichneten und animierten Selbstporträts, Anmutungen von fiktionalen
Spielszenen, Foundfootage aus den Homemovies ihrer Familie, Bildern ihrer
Liebsten und einem für ihren smarten Rock-Jazz-Stil charakteristischen
Filmscore überblendet und mischt Laurie Anderson diese Fragmente zu einer
schwerelosen visuell-akustischen Komposition, die, wie immer in ihrer
langen Karriere als Performancekünstlerin, Geschichten unterlegen, die sie
mit ihrer hellen, heiter entspannten Stimme in einem suggestiven Duktus
erzählt.
Geschichten über die Toten, die sie liebt und sich vergegenwärtigt, bilden
den roten Faden durch das komplexe, im Ganzen dennoch wunderbar klare
Gespinst ihrer Bilder- und Soundskulpturen. Vom ersten Moment an ist klar,
dass ein tiefes Gefühl der Trauer den Anstoß für diesen Film gab, aber
Schmerz und Leid, die der deutsche Begriff Trauerarbeit meint, hat Laurie
Anderson hinter sich gelassen.
„Heart of a Dog“ ist das Traum- und Gedankentagebuch einer Frau, die sich
David Foster Wallaces Motto „Every love story is a ghost story“ zu eigen
gemacht hat und ihm die schönsten Seiten abzugewinnen weiß.
## Vorbehaltlose Zuneigung für ihre Liebsten
Im Jahr 2011 verlor Laurie Anderson in kurzen Abständen ihren langjährigen
Gefährten und Ehemann, den Rockmusiker Lou Reed, ihre Mutter und ihre
gelehrige Begleiterin, die Foxterrierhündin Lolabelle.
Das Hundeherz, das ihrem Film den Titel gab, steht für die absolut
vorbehaltlose Zuneigung, die sie mit ihren Liebsten – gleich, ob es sich um
Mensch oder Tier handelt – verbindet und das emotionale Pendant zu den
anspielungsreichen philosophischen Reflexionen ihrer Erzählung darstellt.
Sieben mal sieben Tage nach ihrem letzten Atemzug leben die Toten in einem
Zwischenreich unter uns weiter, sagt die Zen-buddhistische Lehre, die
Laurie Andersons innerer Kompass ist. Sie begegnen den trauernden Nächsten
heimlich-unheimlich, quasi physisch unmittelbar.
Ein Filmessay schien ihr das angemessene Medium zu sein, um sich für diese
Erfahrung von Transzendenz zu öffnen, sie festzuhalten und ihr eine Form zu
geben, besser geeignet als die Zeitlichkeit ihrer multimedialen
Installationen und Text- beziehungsweise Musikperformances. Mit Søren
Kierkegaard, einem weiteren ihrer beiläufig zitierten philosophischen
Paten, beginnt sie in „Heart of a Dog“, das Leben rückwärts zu verstehen,
während sie es trotz der Verluste vorwärts lebt.
Wer Hunde nicht so innig liebt, findet reichlich Skurriles in ihrem Film,
ohne dass die Hundeobsession der Künstlerin ihre pointierten politischen
Statements, die sie in alle ihre Performances einschloss, zu schmälern
vermag – im Gegenteil. So rekapituliert Laurie Anderson in einer Passage
des Films die einschneidenden Veränderungen des Alltags in New York nach
den Anschlägen auf die Twin Towers am 11. September 2001.
## Angriff aus der Luft
Sie erzählt von der Polizeipräsenz, den Hubschraubern, der Atmosphäre der
Angst und ihrer und Lou Reeds Flucht in die kalifornischen Berge.
Lolabelle, der weiße kleine Hund, wird dort jedoch von Greifvögeln
angegriffen, eine Szene, die Laurie Anderson als Metapher für die
Verletzlichkeit aller Lebewesen bei Angriffen aus der Luft beschreibt.
Überwachung, Kontrolle, präventive Gewalt, die Indikatoren der paranoiden
Atmosphäre in ihrem Land, kehren als schwarzes Leitmotiv in „Heart of a
Dog“ immer wieder. Laurie Anderson lenkt den Blick darauf, ohne sich dem
bedrohlichen Thema vollständig auszuliefern. So ist die Hundegeschichte wie
alle Ebenen des Films eine Frage von „joy and guilt“, beide miteinander
verschwisterte Gefühle, die Laurie Anderson in allen ihren persönlichen
Beziehungen erlebt hat und in ihrem Film als gleich starke Antriebskräfte
reflektiert.
Hunde, diese vielsagenden Fabelwesen, liefern ihr immer wieder Stichworte
dafür. So spielt sie in einer Passage die denkmöglichen inneren Kommentare
diverser Hunderassen durch, wenn von ihnen Gehorsam verlangt wird. Was
denkt ein Schäferhund? Was ein Pudel? Ihr Hund, da ist sie sicher,
interessiert sich nur für eins: It’s good if it’s gonna be fun.
Lolabelle, die in der Hommage durch mehrere Terrier verkörpert wird, hat in
Homemovie-Aufnahmen einen kuriosen Auftritt. Die im Lauf der Jahre
erblindete Hundedame führt das verblüffende Ergebnis einer
Beschäftigungstherapie vor und spielt Musik auf einem Keyboard. Lolabelle
war Kind im Hause, das dokumentieren auch die anrührend kindlichen
Erinnerungsbilder, auf denen der erkrankte Lou Reed mit ihr schmust.
Laurie Anderson findet in „Heart of a Dog“ beiläufig leicht von ihren
persönlichen Passionen zurück in die eigene Kindheit an die Wurzeln ihrer
Existenz, indem sie sich dem „dreambody“ ihrer Fantasie überlässt und ihre
Beziehungen zu den liebsten Untoten befragt.
## Schlüsselanekdote aus der Kindheit
Hat die Mutter, die sieben Kinder aufzog, sie überhaupt geliebt? Wie Laurie
Anderson diese Urfrage in eine Schlüsselanekdote aus ihrer Kindheit kleidet
und die Antwort in einem einzigen Satz der Mutter verdichtet, ist große
Erzählkunst von einprägsamer Eleganz. Klarer als von Abschied und Tod
handelt ihr Film von ihrer Haltung zur Unwiderruflichkeit.
Der Zenmeister spricht durch sie. Bilder, Stimme und Musik feiern die
Durchlässigkeit und Gleichwertigkeit aller Dinge und Elemente, Tier- und
Menschenbewohner der Erde. Es gilt, die Geister ziehen zu lassen. Ohne
buddhistische Formelhaftigkeit, ohne Pseudotrost erzählt Laurie Anderson
von der Kunst des Loslassens.
Die 67-jährige Künstlerin zieht ein Lebensresümee, das alle Register
synästhetischen Formenreichtums zieht, ohne mit Melodramatik, Kitsch oder
trockener Philosophie zu überwältigen. Vielmehr ist in jedem Satz ihrer
erzählerischen Rhapsodik zu spüren, dass sie – an Ludwig Wittgenstein
angelehnt – beim Verfertigen ihrer Erinnerungen über die Sprache nachdenkt
und sich deren Kraft zu eigen macht, die Welt überhaupt zu erschaffen.
30 Mar 2016
## AUTOREN
Claudia Lenssen
## TAGS
Dokumentarfilm
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Schwerpunkt Berlinale
Film
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