# taz.de -- Grüne Spitzenkandidatin zur Europawahl: Die Hoffnungsvolle | |
> Wenn im Juni ein neues Europa-Parlament gewählt wird, könnten die rechten | |
> Parteien triumphieren. Die Spitzenkandidatin der Grünen, Terry Reintke, | |
> will dagegenhalten. | |
Bild: Terry Reintke im Europaparlament in Straßburg | |
STRAßBURG taz | Terry Reintke macht am Rednerpult im EU-Parlament an diesem | |
Dienstag Anfang Februar einen rhetorischen Spagat. Sie wird den in den | |
kommenden Monaten wahrscheinlich noch häufiger hinlegen: Als | |
Spitzenkandidatin der Grünen widerspricht sie den Konservativen – eine | |
Zusammenarbeit kann sie ihnen aber nicht ausschlagen. Weil man sich | |
vielleicht gegenseitig noch brauchen wird, gegen die Rechtsextremen im | |
Parlament wie die AfD oder den französischen Rassemblement National. | |
„Jetzt ist Zeit zu handeln, nicht, sich gegenseitig zu beschimpfen“, sagt | |
sie mit Nachdruck zu Manfred Weber von der CSU. Sie wolle „gemeinsam“ die | |
Probleme der Bauern angehen, die an diesem Tag mit ihren Traktoren vor dem | |
Europaparlament in Straßburg protestieren. Weber als Fraktionsvorsitzender | |
hatte verkündet, dass seine Europäische Volkspartei (EVP) „die Bauernpartei | |
Europas“ sei und die Bauern keine „linke Ideologie“ wollten. | |
An den Themen Agrarpolitik und Klimaschutz entfacht sich gerade der | |
Wahlkampf um die Europawahlen am 9. Juni. Auf dem Spiel stehen [1][die | |
Fortschritte der EU im Klimaschutz] der letzten fünf Jahre, die in dieser | |
Legislaturperiode vor allem mit dem „European Green Deal“ in Verbindung | |
gebracht wurden. Die EU hat mit diesem Deal festgeschrieben, dass sie bis | |
2050 klimaneutral werden will. Die AfD und der Rassemblement National | |
wollen den Green Deal abschaffen. Die Konservativen um Manfred Weber wollen | |
ihn wenigstens verwässern. | |
Damit das große Klima-Projekt weitergehen kann, müssen die Parteien wie die | |
Grünen weiterhin etwas zu sagen haben im EU-Parlament. Reintke hat sich als | |
Spitzenkandidatin der Europäischen Grünen einen enormen Druck aufgeladen. | |
Die 36-Jährige ist nicht nur in Deutschland auf Listenplatz Nummer eins bei | |
den Europawahlen, sondern führt zusammen mit dem Niederländer Bas Eickhout | |
die gesamten Europäischen Grünen in den Wahlkampf. Am ersten | |
Februar-Wochenende hat die Partei die beiden [2][zu ihrem | |
Spitzenkandidaten-Duo] gewählt. | |
## Ein Plan für die Europa-Wahlen | |
Sie muss Antworten darauf finden, wie ihre Parteienfamilie den hohen | |
Umfrageergebnissen von der AfD, dem Rassemblement National und weiteren | |
etwas entgegensetzen kann. Und sie führt in Deutschland eine Partei in den | |
Wahlkampf, die als Teil der Ampel-Koalition massiv von der CDU/CSU | |
angegriffen wird. | |
Begleitet man Terry Reintke in ihrer ersten Plenarwoche nach der Wahl in | |
Straßburg, zeichnet sich ab, was ihr Plan für den Europa-Wahlkampf sein | |
wird. Wie sie den Anwürfen aus dem konservativen bis rechtsextremen Lager | |
etwas entgegenhalten will. | |
Für die Plenarwoche ist das gesamte EU-Parlament, wie jeden Monat, von | |
Brüssel nach Straßburg gezogen. Rund zwei Stunden nach ihrer Kritik an | |
Manfred Weber redet Reintke dort mit der internationalen Presse. Sie wolle | |
an etwas erinnern, was wahrscheinlich „viele Menschen in ganz Europa sehr | |
froh macht“, sagt sie und lächelt. | |
Am Wochenende zuvor hätten wieder deutschlandweit Demonstrationen gegen | |
rechts stattgefunden. Reintke wird ernster. „Die Behauptung, die die | |
Rechtsextremen immer wieder aufstellen, dass sie für eine schweigende | |
Mehrheit in der Gesellschaft sprechen, wird durch diese Demonstrationen | |
ganz klar widerlegt.“ Sie sieht die Demos als Chance, dass die rechten | |
Parteien bei den Europawahlen nicht gut abschneiden werden. | |
## Rekordergebnis 2019 | |
Vor den letzten Europawahlen im Mai 2019 hätten „viele Leute gesagt, es | |
wird einen massiven Anstieg der extremen Rechten geben und es wird ein viel | |
rechteres Europaparlament geben. Und wir haben massive Demonstrationen für | |
Klimagerechtigkeit auf den Straßen gesehen. Am Ende des Tages ist das, was | |
vorhergesagt wurde, nicht eingetreten“, sagt Reintke. Sie gibt sich | |
kämpferisch. | |
Bei den Europawahlen 2019 hatten die Grünen in Deutschland ein | |
Rekordergebnis von 20,5 Prozent geholt und damit mehr als die SPD. Die | |
Proteste von Fridays for Future für mehr Klimaschutz hatten den Grünen | |
merklich Aufwind verliehen. Alle gemäßigten Parteien, einschließlich der | |
CDU, forderten mehr Klimaschutz. Und rechte Fraktionen wurden im | |
EU-Parlament nur fünft- und sechstgrößte Kraft. | |
Aber der politische Wind hat sich gedreht. 2024 ist Klimaschutz angesichts | |
von zwei Kriegen in der Ukraine und in Nahost, angesichts einer | |
fortdauernden Inflation und einer schwierigen Konjunkturlage, etwas aus dem | |
Fokus geraten. Die Fridays-Bewegung versammelt die Massen gegen den | |
Klimaschutz höchstens noch zu den globalen Klimastreiktagen, der nächste | |
ist am 1. März. Und in Deutschland haben die Aktivist*innen der Letzten | |
Generation kürzlich eine schöpferische Pause angekündigt, man sei auf der | |
Suche nach neuen Protestformen, hieß es. | |
Deshalb betont Reintke als Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen vor der | |
Presse noch mal, was sie am Morgen gegenüber Weber bereits deutlich machte: | |
Die Grünen sind bereit, mit den Konservativen in der nächsten | |
Legislaturperiode politische Kompromisse einzugehen. Wenn diese sich dafür | |
bei Abstimmungen klar von rechts abgrenzen. „Dann sind wir ihre Partner, | |
und wir gehen zusammen zu den Demonstrationen in Deutschland“, schließt | |
Reintke. | |
## „I am the Spitzenkandidat“ | |
Am Dienstagnachmittag in der Sitzungswoche ist sie auf dem Weg zu einem | |
Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU). Die | |
einzelnen Fraktionsvorsitzenden treffen sich während der Plenarwochen | |
regelmäßig mit der Kommissionschefin. In einem verglasten Durchgang | |
überquert Reintke den Fluss zu einem weiteren Parlamentsgebäude, wo sie nun | |
das Knöpfchen für den Aufzug drückt. | |
Aus dem Aufzug tritt EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Die | |
beiden begrüßen sich freundlich. Vestager von den Liberalen gilt als eine | |
der mächtigsten Frauen Brüssels. Sie hat Google und Amazon Missbrauch von | |
Marktmacht vorgeworfen und gegen die Konzerne milliardenschwere Strafen | |
verhängt. „I am the Spitzenkandidat“, sagt Reintke fröhlich. „Yes, I kn… | |
congratulations again“, sagt Vestager. Reintke erzählt, dass sie bei ihrer | |
Wahlkampftour auch nach Dänemark kommen will, Vestagers Herkunftsland. | |
„Tell me when you’re there“, sagt Vestager. | |
Reintke gilt als gut vernetzt. Nur fünf Minuten zuvor lief ihr eine weitere | |
einflussreiche Frau im Flur über den Weg und gratulierte ihr: Die | |
Sozialdemokratin Elly Schlein, die in Italien Oppositionsführerin gegen die | |
postfaschistische Giorgia Meloni ist. | |
Auf der Klingel zu von der Leyens Räumen steht „K.Mustermann“. Wenn man so | |
bekannt ist wie die CDU-Politikerin, ist der Name auf der Klingel | |
wahrscheinlich überflüssig. Reintke verschwindet mit Co-Fraktionschef | |
Philippe Lamberts in einem Besprechungsraum. | |
## Der Kampf der Konservativen | |
Die Kommissionschefin musste an dem Tag im Plenarsaal eine Niederlage | |
verkünden, die viel mit Reintkes Mission zu tun hat. Von der Leyen zog | |
ihren Gesetzesvorschlag für weniger Pestizide in der EU zurück. Die | |
Verringerung von Pflanzenschutzmitteln auf den Feldern um 50 Prozent bis | |
2030 sollte ein wichtiger Teil des Green Deals werden. Aber im November | |
hatten die rechten Fraktionen und die konservative EVP-Fraktion gemeinsam | |
dieses Pestizid-Gesetz gekippt. Auch unter den Mitgliedstaaten gab es kein | |
Vorankommen. Und die EVP feiert das nun als Erfolg. | |
Die EVP als größte Fraktion im EU-Parlament hat begonnen, den Green Deal | |
anzugreifen. Sie versucht, geplante Klimaschutzgesetze für die | |
Landwirtschaft aufzuhalten und sich dadurch zu profilieren – sogar gegen | |
von der Leyen, die als CDU-Politikerin selbst zur konservativen | |
Parteienfamilie gehört. EVP-Chef Manfred Weber hat damit begonnen, was | |
Reintke vermeiden will: Die Regel des Europaparlaments zu brechen, dass man | |
keine Mehrheiten mit den Rechtsextremen sucht. | |
Bisher haben die Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen im | |
Europaparlament miteinander diskutiert, um Mehrheiten zu finden. Auch die | |
Grünen haben als viertgrößte Fraktion ein Wörtchen mitzureden. In einem | |
Parlament, in dem es keinen Fraktionszwang gibt, sind sie wichtig, um | |
Mehrheiten zu bauen. Letztes Jahr näherte sich Weber aber auch Italiens | |
rechter Regierungschefin Meloni an. Wofür ihn SPD, FDP und Grüne im | |
EU-Parlament stark kritisiert haben. | |
Reintke vermutet, dass sich Weber alle Optionen – zur Mitte und nach rechts | |
– offenhalten will. Denn nur so kann die EVP auch künftig größte Fraktion | |
im Europaparlament bleiben und den Ton in der EU angeben. Bislang ist | |
Reintke zuversichtlich, dass in Deutschland die CDU und CSU auf | |
Europa-Ebene „ganz klar sagen, es gibt eine Brandmauer“, sagt sie später in | |
ihrem Büro. Solch ein Bekenntnis wird Reintke bald auch von Ursula von der | |
Leyen einfordern, die als Spitzenkandidatin der EVP wieder | |
Kommissionschefin werden will. Am vergangenen Dienstag hatte [3][die CDU | |
sie bei einer Vorstandssitzung in Berlin offiziell als Spitzenkandidatin | |
nominiert.] | |
## Wo verläuft die Brandmauer? | |
Der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke versichert, dass die Brandmauer | |
seiner EVP gegen rechtsextreme Parteien wie die AfD stehe. Der | |
Sozialpolitiker gehört zum linken Flügel der CDU. Aber: „Wo fängt denn für | |
Terry Reintke rechts an?“, sagt er der taz. Es sei die Frage, ob für | |
Reintke die EKR-Fraktion dazu zähle. Zur EKR, der Partei der Europäischen | |
Konservativen und Reformer, gehören Polens nationalkonservative PiS-Partei | |
und Melonis postfaschistische Fratelli d’Italia. „Uns vorschreiben zu | |
wollen, mit keiner Partei aus der EKR zusammenzuarbeiten, bedeutet ja, dass | |
wir für Mehrheiten immer nach Mitte-Links schauen sollen“, sagt Radtke. Für | |
Reintke hingegen befinden sich in der EKR „hochproblematische | |
rechtsautoritäre Parteien.“ | |
Machen die Konservativen nach den Wahlen gemeinsame Sache mit rechten | |
Parteien, werden die Grünen voraussichtlich von der Leyen ihre Stimmen bei | |
der nötigen Abstimmung verwehren. Aber um bei der Abstimmung Gewicht zu | |
haben, müssen sie selbst ausreichend Sitze holen. | |
Mehrmals in dieser Plenarwoche betont Reintke den nötigen Zusammenhalt der | |
Parteien von links bis konservativ zur Mehrheitsbildung etwa bei | |
Abstimmungen. Eine Mitarbeiterin aus einer anderen Fraktion sagt jedoch, | |
dass man sich bei Abstimmungen nicht immer auf die Grünen verlassen könne. | |
Deshalb würden andere Fraktionen versuchen, größere Mehrheiten zu bauen, | |
für den Fall, dass die grünen Stimmen wegfallen. Der Sozialpolitiker Radtke | |
dagegen betont: „Natürlich muss man hart ringen. Aber wenn man eine | |
Verabredung mit den Grünen hat, halten sie sich daran.“ | |
Reintke beobachtet genau, was derzeit in den anderen Mitgliedstaaten bei | |
Wahlen passiert. Die Tendenz, dass die Konservativen in Schweden oder in | |
Italien mit Rechten zusammenarbeiten, bereitet ihr Sorge. Sie fürchtet, das | |
könne auch ins EU-Parlament „überschwappen“. Weil in den Niederlanden die | |
rechts-liberale VVD vor den letzten Parlamentswahlen nicht ausgeschlossen | |
hatte, mit dem Rechtspopulisten Geert Wilders zu arbeiten, werden die | |
Grünen auf Europa-Ebene auch von den Liberalen eine Abgrenzung gegen rechts | |
fordern, sagt Reintke. | |
## Frau, jung, feministisch, queer | |
In Straßburg ist die Grünen-Politikerin mittlerweile schnellen Schrittes | |
unterwegs zum nächsten Treffen. Ihr Terminkalender sei in dieser | |
Plenarwoche besonders dicht getaktet, sagt ihr Team. Viele Treffen finden | |
hinter verschlossenen Türen statt. Auf den langen Fluren des EU-Parlaments | |
knipst sie beim Laufen ein Fotograf aus Berlin, für die Wahlkampagne. | |
Frau, jung, feministisch, queer sind gleich vier Merkmale, mit denen man es | |
allgemein etwas schwerer hat. Aber Reintke macht ihren Weg. Im Oktober 2022 | |
übernahm sie von [4][Ska Keller] den Co-Fraktionsvorsitz. Seitdem teilt sie | |
sich den Posten mit dem Belgier Lamberts. Das EU-Parlament mit den | |
verschiedenen Interessen entlang von Parteienfamilien und Nationalitäten | |
kennt die Gelsenkirchnerin seit 2014. | |
Ihr ist klar, wie sehr sie als junge Frau im Wahlkampf unter Beobachtung | |
stehen wird. Sie habe ja erlebt, wie die Öffentlichkeit mit Annalena | |
Baerbock im Bundestagswahlkampf 2021 umgegangen sei. Wie viel über ihre | |
Kleidung geschrieben worden sei. Kein Wunder, dass viele Frauen weniger | |
locker bei öffentlichen Auftritten wirkten, sagt Reintke. „Weil sie wissen, | |
wenn sie sich einmal blöd verhaspeln, haben sie einen Shitstorm an der | |
Hacke. Wohingegen Männer eine Leichtigkeit haben, weil sie nicht mit der | |
gleichen Reaktion rechnen müssen.“ | |
Sie wehrt sich dagegen, dass es zu viel mit ihr macht. Reintke spricht oft | |
frei bei ihren Reden, sie zeigt Emotionen. Sie trägt bei öffentlichen | |
Auftritten mal den Pulli ihres alten Fußballvereins, und auch mal einen | |
weißen Blazer. Und sie will für möglichst viele Menschen nahbar wirken, | |
nicht nur als Kosmopolitin wahrgenommen werden: „Weil ich jung und | |
feministisch bin, in einer lesbischen Beziehung, wird oft davon | |
ausgegangen, dass ich bestimmt in Berliner Clubs Techno tanzen gehe.“ | |
## Schlager statt Techno | |
In Wahrheit, erzählt sie, möge sie Schlager und sei Fan des Eurovision Song | |
Contest. Es sei wichtig, findet sie, zu erzählen, dass „Menschen eben nicht | |
total bruchlos sind. Um Gräben, die gefühlt da sind, wieder ein bisschen | |
kleiner zu machen.“ Übrigens, sagt sie noch, zum Feiern komme sie als | |
Spitzenpolitikerin sowieso nicht mehr. | |
Für den als eher unwahrscheinlich gehandelten Fall, dass von der Leyen | |
nicht wieder Kommissionspräsidentin wird, könnte Reintke sogar deutsche | |
EU-Kommissarin werden. So steht es im Koalitionsvertrag: Die Grünen dürfen | |
ein:e Kandidat:in vorschlagen, „sofern die Kommissionspräsidentin nicht | |
aus Deutschland stammt.“ Den Job kann sich die Politikerin aus dem | |
Ruhrgebiet gut vorstellen. In die Brüsseler Behörde mit rund 32.000 | |
Beamt:innen müssten mehr „Leute, die einen politischen Anspruch haben | |
und die Dinge hier antreiben wollen“. | |
In dem Konferenzsaal, in den Reintke nun läuft, berät sich die Gruppe im | |
Parlament für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans und inter | |
(LGBTI) Personen zu den Europawahlen. Reintke rechnet damit, dass die AfD | |
und andere rechtspopulistische Parteien als zentrales Wahlkampfthema gegen | |
queere Menschen mobilisieren werden. | |
In Brüssel gilt sie als eine der vehementesten Kämpfer:innen für die | |
Rechte von queeren Menschen. Für das Parlament arbeitete sie an einem | |
Gesetzesvorschlag zur europaweiten Anerkennung der Elternschaft queerer | |
Paare mit. Und sie fordert von der EU immer wieder ein härteres Vorgehen | |
gegen den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán wegen seiner demokratie- | |
und queerfeindlichen Politik. | |
## Unerschrocken für queere Politik | |
Auf Anfeindungen reagiert Reintke unerschrocken. Bei der Pride in Istanbul | |
2016 wurde sie zusammen mit Parteikollege Volker Beck kurzzeitig | |
festgenommen. Als die Pride in Serbien 2022 verboten wurde, fuhr sie | |
trotzdem hin. Abgesehen davon erzählt sie gerne von ihrer Freundin, einer | |
französischen Grünen-Politikerin. Immer mal wieder postet sie in den | |
sozialen Medien Fotos von den beiden. | |
Mittwochmorgen, Tag drei der Sitzungswoche. Reintke war schon joggen. Sie | |
empfängt in ihrem Büro, es wird um die Wahlen gehen. Das Büro ist so | |
unspektakulär, wie ein Arbeitsort sein kann, den man nur vier Tage im Monat | |
für die Plenarwoche nutzt. In einer Ecke liegt ein Jutebeutel in | |
Regenbogenfarben, im Regal stehen Schuhe. | |
Was wollen die Europa-Grünen den Wähler:innen anbieten? Das | |
Riesenprojekt „Green Deal“ weiterführen und dabei „jetzt mehr über die | |
Investitionsseite sprechen“, sagt Reintke. Statt um weitere Gesetze soll es | |
nun darum gehen, wo das Geld für die Klimaschutzmaßnahmen herkommen kann. | |
Begeistert erzählt sie vom Thyssen-Krupp-Stahlwerk in Duisburg, für das | |
bereits Milliarden-Hilfen genehmigt wurden und das ab 2026 grünen Stahl mit | |
Hilfe von Erneuerbaren herstellen wird. „Dann ist das auch etwas | |
Greifbares“, sagt sie, weil die Debatte um den grünen Wandel „für viele | |
noch so diffus“ sei. | |
Die Europa-Grünen wollen weg vom Image der Verbotspartei, die den Menschen | |
dauernd neue Klimagesetze serviert. Dass etwa als Teil des „Green Deals“ | |
das Aus für Verbrennungsmotoren ab 2035 beschlossen wurde, nehmen viele | |
Autofans besonders den Grünen übel. Reintke spricht statt von Verboten | |
lieber von „regulativen“ Fragen des „Green Deals“, weil da teilweise au… | |
„Unmut herkommt“. | |
## Grün und sozial | |
Reintke spricht auch gerne von Sozialpolitik, die will sie in den | |
Vordergrund stellen. „Green and Social Deal“ haben sie es in Lyon beim | |
Parteikongress getauft – der grüne Deal soll auch sozial werden. Die | |
Lebenshaltungskosten wieder senken durch billigeren Strom aus erneuerbaren | |
Energien. Mindestlohn in allen Mitgliedsländern und eine europäische | |
Grundsicherung. Besserer Schutz vor Ausbeutung für Arbeitskräfte. Mehr | |
bezahlbarer Wohnraum. | |
Den Vorwurf, die Grünen hätten erst jetzt die Sozialpolitik entdeckt, lässt | |
Reintke nicht gelten: „Ich sitze hier seit zehn Jahren im Beschäftigungs- | |
und Sozialausschuss und mache soziale Themen“. Dort setzt sie sich seit | |
Längerem für gleichen Lohn für alle Geschlechter ein und gegen unbezahlte | |
Praktika für junge Leute in der EU. | |
Die Betonung auf den sozialen Aspekt soll helfen, um bei der Europawahl gut | |
abzuschneiden. Mitte Januar sah eine Umfrage des Instituts | |
Wahlkreisprognose die Grünen bei 13 Prozent: Der Streit um das | |
Heizungsgesetz, die hohen Energiepreise wegen des Ukraine-Kriegs sowie | |
Kompromisse, die sie in der Koalition eingehen, etwa bei den | |
Asylrechtsverschärfungen – all das hat vor allem auf das Konto der Grünen | |
negativ eingezahlt. | |
Der Grünen-EU-Abgeordnete Erik Marquardt fasst es im Januar zynisch auf der | |
Plattform X zusammen: „In Berlin gibt es gerade einen Ausnahmezustand wegen | |
Blitzeis. Falls sich jemand noch fragt, was sich die meisten schon dachten: | |
Ja, auch das haben die Grünen zu verantworten!“ | |
## Schmerzhafte Kompromisse | |
Auch Marquardts Kernthema Asylpolitik zeigt, wie sehr die Kompromisse, die | |
die Grünen mit SPD und FDP eingehen, den Grünen auf Europa-Ebene | |
reingrätschen. Jahrelang kämpfte er gegen die von der EU-Kommission | |
vorgeschlagene Reform des europäischen Asylsystems, die wegen der | |
Gesetzesverschärfungen stark kritisiert wird. In der Koalition willigten | |
die Grünen nach viel Streit ein, und Deutschland stimmte in Brüssel zu. | |
Parteimitglieder und Kritiker:innen fanden, die Grünen hätten ihre | |
Ideale verraten. Außenministerin Baerbock erklärte vorsichtig, jede | |
Einigung in Brüssel sei „auch immer ein Kompromiss“. Reintke wurde | |
deutlicher und kritisierte, dass das vorgeschlagene System nicht umsetzbar | |
sei. | |
Wenn nun im April für die Asylreform die letzte formelle Zustimmung des | |
EU-Parlaments ansteht, wollen die Grünen wahrscheinlich gegen die meisten | |
Teile stimmen. Als Statement. Auch wenn die Gesetze sehr wahrscheinlich mit | |
genügend Stimmen aus den anderen Fraktionen durchgehen. | |
Nach den Wahlen wird es auch darum gehen, ob die Rechten gemeinsam eine | |
mächtige Fraktion bilden können. Ob es dazu kommen wird, ist derzeit in | |
Brüssel ein großes Thema. „Die große Trennungsfrage“ unter den rechten | |
Parteien sei zur Zeit noch die Russland-Ukraine-Debatte, sagt Reintke. | |
Während die EKR-Fraktion um Melonis Fratelli d’Italia sich solidarisch mit | |
der Ukraine gebe, seien die Mitglieder der Fraktion Identität und | |
Demokratie, kurz ID, wie die AfD „Putin-Freunde“. | |
## Die „Spitzen des Alltags“ | |
Gleich gehen die Abstimmungen los, die Fraktionschefin muss in den | |
Plenarsaal. Auf dem Weg dorthin muss sie den Saalaufseher:innen ihren | |
Abgeordnetenausweis zeigen, erzählt sie später. Während „gleichzeitig | |
natürlich wieder drei Männer an mir vorbeigelaufen sind.“ Die „kleinen | |
Spitzen des Alltags“ als junge Frau in der Politik nennt sie das. | |
Am frühen Mittwochabend ist Reintke dann auf dem Weg zur Fraktionssitzung, | |
bei der sich die Grünen aus 17 Mitgliedstaaten treffen. Der französische | |
Ableger kämpft gegen den starken Rassemblement National von Marine le Pen | |
und einen Präsidenten Macron an, der zum eigenen Machterhalt immer weiter | |
nach rechts steuert. In Österreich geht es etwas besser. Dort sind sie mit | |
in der Regierung und liegen laut einer aktuellen Umfrage vom Januar bei 14 | |
Prozent. Und damit genau bei ihrem Wahlergebnis von 2019. | |
Reintke hat Anja Piel, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes, | |
zum Austausch eingeladen. Die DGB-Frau sichert den Grünen zu, dass die | |
Gewerkschaften europaweit die „starken Partner“ seien, um gegen einen | |
wachsenden Rechtsruck anzuarbeiten. Bevor es womöglich spannend wird, muss | |
die Reporterin gehen, denn während der Fraktionssitzungen ist keine Presse | |
erlaubt. | |
Um die Ecke des fensterlosen Konferenzsaals sitzen in einer Parlaments-Bar | |
Menschen in Anzug und Lederschuhen vor Aperol Spritz, Wein und Bier. Sie | |
haben den Großteil der Plenarwoche geschafft. Am Donnerstag stehen am | |
Mittag noch weitere Abstimmungen an. Dann leeren sich die Flure. Viele | |
Menschen mit Rollkoffern laufen aus dem Gebäude. Das EU-Parlament zieht | |
wieder nach Brüssel. Reintke wird dort weiter kämpfen. | |
Mitarbeit: Eric Bonse | |
23 Feb 2024 | |
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