| # taz.de -- Gesetz gegen sexuelle Gewalt an Kindern: Der Preis der Sicherheit | |
| > Der Schutz von Kindern vor Missbrauch sollte im Rechtsstaat oberste | |
| > Priorität haben. Doch der Finanzminister blockiert ein entsprechendes | |
| > Gesetz. | |
| Bild: Kinderschutz darf nicht verhandelt werden | |
| Wie viel ist ein Kinderleben wert? Jede Menge, würden die meisten Menschen | |
| sagen. Wer wollte das anders sehen? Jedes Kind sollte sicher, gewaltfrei | |
| und mit liebevollen Eltern (oder anderen ihnen nahestehenden Personen) | |
| aufwachsen, es sollte ausreichend Bildung und Zeit zum Spielen haben. Um | |
| nur ein paar kindliche Grundbedürfnisse zu nennen. | |
| Sollte sich all das in Gesetzen widerspiegeln? Auch hier würden die meisten | |
| sicher antworten: Unbedingt, unsere Kinder sind uns schließlich viel wert. | |
| Tatsächlich gibt es seit 2012 das Bundeskinderschutzgesetz. Es soll für | |
| „umfassende Verbesserungen des Kinderschutzes“ sorgen sowie „bei | |
| Verletzungen des Kinderschutzes“ eingreifen. Was hier phrasenhaft | |
| formuliert ist, stellt sich in anderen Gesetzen konkreter dar: Seit 1973 | |
| ist die Prügelstrafe in Schulen verboten (in der DDR schon seit 1949), seit | |
| dem Jahr 2000 dürfen Eltern ihre Kinder nicht mehr schlagen. | |
| Und dann ist da noch das sogenannte UBSKM-Gesetz, das sexuelle Gewalt gegen | |
| Kinder im Blick hat. Rund [1][15.500 Missbrauchsfälle sind 2022 in | |
| Deutschland angezeigt worden]. Das Dunkelfeld ist um ein Vielfaches größer, | |
| die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass ein bis zwei Kinder in | |
| jeder Schulklasse betroffen sind. Ein Gesetz, das sich solcher Fälle | |
| stärker annimmt, scheint also mehr als nötig. Aber dieses Gesetz gibt es | |
| nicht. | |
| Dabei hatte sich die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag bereits darauf | |
| geeinigt. In einem Passus auf Seite 99 verschreibt sich die Regierung klar | |
| dem „Kinderschutz“: Darin geht es um Prävention und Prävalenzforschung, um | |
| eine kindersensible Justiz, um Meldeketten bei Missbrauchsfällen und | |
| länderübergreifende Zusammenarbeit bei der Aufklärung dieser Fälle, um die | |
| Finanzierung einer Telefon- und Onlineberatung. Mit dem Gesetz soll zudem | |
| das Amt der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen | |
| Kindesmissbrauchs (UBSKM) dauerhaft eingerichtet werden. Über all das soll | |
| die [2][Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus] dem Bundestag regelmäßig | |
| berichten. | |
| ## Aber wo bleibt's? | |
| Doch das Gesetz, das seit Jahren gefordert wurde und nun fix und fertig in | |
| der Schublade liegt, ist noch nicht einmal in der parlamentarischen | |
| Debatte. Warum nicht? Etwa weil das Familienministerium, bei dem die | |
| Missbrauchsstelle angesiedelt ist, auf dem Gesetzentwurf hockt wie der | |
| kleine Maulwurf auf seinem Hügel in der tschechischen Zeichentrickserie? | |
| Oder weil es möglicherweise kräftig nachgebessert werden muss, was wiederum | |
| Zeit braucht? | |
| Nein. Bereits im Dezember 2023 gab es die erste regierungsinterne | |
| Abstimmung zum Gesetzentwurf – ohne größere Einwände. Liefe es nach Plan | |
| und den parlamentarischen Gepflogenheiten, könnte das Gesetz 2025 im | |
| Gesetzblatt stehen – und der Kinderschutz würde bei Fragen sexueller Gewalt | |
| eindeutig geregelt sein. Doch so ist es eben nicht. Denn der Hausherr im | |
| Bundesfinanzministerium, Christian Lindner, blockiert den Gesetzentwurf. | |
| Warum? Leere Kassen können der Grund nicht sein, die Kosten für das Gesetz | |
| sind, wie es im Politjargon so schön heißt, gegenfinanziert. Im aktuellen | |
| Budget des grün geführten Familienministeriums schlägt die | |
| „Missbrauchsstelle“ mit 11,7 Millionen Euro zu Buche, das sind selbst im | |
| relativ kleinen Familienhaushalt nicht einmal 0,1 Prozent. Die Kosten für | |
| das Gesetz sind dort bereits einberechnet. An dieser Summe dürfte sich auch | |
| im kommenden Jahr nichts ändern. Insgesamt bekommt das Familienministerium | |
| knapp 3 Prozent aus dem Bundeshaushalt. Zum Vergleich: Für das FDP-geführte | |
| Verkehrsministerium sind rund 11 Prozent der Haushaltsausgaben eingeplant, | |
| für das SPD-geleitete Arbeitsministerium knapp 37 Prozent. | |
| ## Ziemlich beste Feinde | |
| Diskrepanzen zwischen Finanz- und Familienministerium sind allerdings nicht | |
| neu. So haben sich [3][Familienministerin Lisa Paus und Finanzminister | |
| Christian Lindner wochenlang um die Kindergrundsicherung gestritten], die | |
| einkommensschwache Familien entlasten soll. | |
| Die Kindergrundsicherung, Paus’ Lieblingsprojekt, war groß gestartet, um am | |
| Ende und nach öffentlichen Zerwürfnissen der beiden Minister:innen bei | |
| einem Kompromiss zu landen: Paus war mit der Forderung nach 12 Milliarden | |
| Euro in den Ring gestiegen, Lindner hatte mit 2 Milliarden Euro gekontert. | |
| Nach mitunter peinlichen Schlagabtauschen und diversen Verhandlungen hinter | |
| verschlossenen Türen [4][hatte man sich auf 2,4 Milliarden Euro geeinigt]. | |
| Lindner geriert sich gerne als Sparfuchs, und die FDP gibt grundsätzlich | |
| die Blockiererpartei in der Ampel – es sei an Lieferkettengesetz, | |
| Tierwohlabgabe, Dienstpflicht und jüngst das Demokratiefördergesetz | |
| gedacht. Die ziemlich beste Feindschaft mit der Familienministerin scheint | |
| dennoch etwas Besonderes zu sein. Warum sonst verweigert der FDP-Mann die | |
| Zusage für ein Gesetz, das selbst bei engsten seiner Partei- und | |
| Ministerkollegen Zustimmung findet? Sowohl Justizminister Marco Buschmann | |
| als auch Verkehrsminister Volker Wissing, beide FDP, unterstützen das | |
| UBSKM-Gesetz. | |
| Das „[5][Zentrum für Safe Sport]“, das im Zuge der Debatten um physische, | |
| psychische und sexuelle Gewalt im Sport entstanden ist, steht im Gegensatz | |
| zum UBSKM-Gesetz nicht auf wackligen Füßen. Es soll Ende 2024 die ersten | |
| Schritte und 2026 in den Regelbetrieb gehen, 6 Millionen Euro im Jahr | |
| kosten und 46 Mitarbeiter:innen in Vollzeit beschäftigen. Das Zentrum | |
| ist beim Innenministerium angesiedelt. | |
| Keine Frage, das Zentrum ist wichtig. Aber ebenso wichtig ist das Gesetz, | |
| das die Aufarbeitung von sexueller Gewalt sowohl in der Familie als auch in | |
| [6][Organisationen wie Kirchen, Heimen, Ferienlagern vorantreibt] und Opfer | |
| besser unterstützt – in allen Lebenslagen. Das sollte dem Finanzminister | |
| wenigstens die kleine Summe wert sein, gegen die er bislang sein Veto | |
| eingelegt hat. | |
| 28 Mar 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kampagne-gegen-sexuellen-Missbrauch/!5972564 | |
| [2] /Kerstin-Claus-ueber-Schutz-vor-Missbrauch/!5860723 | |
| [3] /Konflikte-in-der-Ampelkoalition/!5994429 | |
| [4] /Antworten-zur-Kindergrundsicherung/!5981082 | |
| [5] /Sexualisierte-Gewalt/!5880198 | |
| [6] /EKD-Bericht-ueber-Missbrauch/!5984701 | |
| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
| ## TAGS | |
| Missbrauch | |
| Kindesmissbrauch | |
| sexueller Missbrauch | |
| Christian Lindner | |
| Lisa Paus | |
| sexueller Missbrauch | |
| Kinder | |
| sexueller Missbrauch | |
| Sexualisierte Gewalt | |
| Lisa Paus | |
| sexueller Missbrauch | |
| Soziale Medien | |
| Machtmissbrauch | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Missbrauchsgesetz liegt vor: Meilenstein im Kampf gegen sexualisierten Kindesmi… | |
| 15 Jahre nach dem Bekanntwerden der massenhaften Missbrauchsfälle in der | |
| Kirche liegt jetzt ein Gesetz vor, das sexuelle Gewalt bekämpfen soll. | |
| Sexualisierte Gewalt an Kindern: Notwendige Verbrechenserforschung | |
| Die Finanzierung der Forschung zu sexualisierter Gewalt läuft aus. Neben | |
| der Umsetzung der Ergebnisse sollte auch die Forschung fortgesetzt werden. | |
| Schutz Minderjähriger vor sexueller Gewalt: Endlich! | |
| Das Bundeskabinett beschließt das Missbrauchsgesetz. Das ist ein wichtiges | |
| Signal an Betroffene und für die Aufklärung von Missbrauchsfällen. | |
| Missbrauchsbeauftragte will neues Gesetz: Mehr Schutz für Betroffene | |
| Kerstin Claus fordert mehr Tempo beim Gesetz zur besseren Aufarbeitung | |
| sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Denn eigentlich sollte das längst | |
| beschlossen sein. | |
| Fonds für Opfer sexualisierter Gewalt: Wie lange noch, Frau Paus? | |
| Beim Fonds Sexueller Missbrauch klafft ein riesiges Finanzloch – nun droht | |
| die Abwicklung. Das Familienministerium weist jede Schuld von sich. | |
| Neues Missbrauchsgesetz: Ein Kompromiss, keine Zeitenwende | |
| Das neue sogenannte Missbrauchsgesetz schreibt Schutzkonzepte, Prävention | |
| und Forschung vor. Aber Betroffene warten noch immer auf einen Hilfsfonds. | |
| Social-Media-Nutzung bei Jugendlichen: Wie Kinder ohne Sicherheitsgurt | |
| Die sozialen Medien sind gesundheitsgefährdend, die Regierungen müssen | |
| handeln. Denn auch die Demokratie ist in Gefahr. | |
| Missbrauch in der evangelischen Kirche: Verstecken geht nicht mehr | |
| Lange stand sexualisierte Gewalt in der EKD im Schatten der katholischen | |
| Kirche. Nun ist es offiziell: Auch die EKD hat ein Missbrauchsproblem. | |
| Schutz geflüchteter Kinder vor Gewalt: Missbrauch gezielt vorbeugen | |
| In der Flüchtlingshilfe kommt es regelmäßig zu sexualisierter Gewalt an | |
| Kindern. Deren Schutz muss künftig Priorität haben. |