# taz.de -- Sexualisierte Gewalt: Tatort Sport | |
> Eine Studie hat die sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in | |
> Sportvereinen untersucht. Die Ergebnisse sind erschreckend. | |
Bild: Wie sicher ist der Vereinssport? Die Studie geht von einer hohen Dunkelzi… | |
BERLIN taz | Entzaubert und entromantisiert den Sport! Klärt schonungslos | |
über Gewalt gegen Kinder und Jugendliche auf! Und führt einen radikalen | |
Systemwandel herbei, bei dem das Wohlergehen der Kinder und verletzlicher | |
Gruppen an erster Stelle steht! Dazu muss sich der organisierte Sport dem | |
Einfluss und der Kontrolle von unabhängigen Instanzen öffnen! | |
Das ist etwas vereinfacht zusammengefasst die wuchtige Botschaft, welche | |
die vier Verfasserinnen der Studie „Sexualisierte Gewalt und sexueller | |
Kindesmissbrauch im Kontext des Sports“ formulieren. „Abschließende | |
Empfehlungen“ nennen sie das. Wesentliches Ziel der Studie, so erklärte | |
Autorin Bettina Rulofs bei der Präsentation am Dienstag in Berlin, sei es | |
gewesen, [1][das positive Bild des Sports zu brechen]. Das Vorhaben darf | |
man getrost als eingelöst betrachten. Wer die 173 Seiten liest, wird | |
tatsächlich kaum noch an die segensreichen Versprechen des Sports, so | |
gesundheitsfördernd, persönlichkeitsbildend und sozial integrativ zu sein, | |
glauben. | |
Im Jahr 2019 hatte die vom Bundestag eingesetzte Unabhängige Kommission zur | |
Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs Betroffene von sexueller Gewalt im | |
Sport dazu aufgerufen, sich zu melden und ihre Geschichten zu erzählen. | |
Wissenschaftlich ausgewertet haben die Gespräche und Berichte nun vier | |
Autorinnen der Sporthochschule Köln. | |
„Das Besondere an der Studie ist, dass sie in die Tiefe der persönlichen | |
subjektiven Erfahrungen der Betroffenen hineinreicht“, sagte Heiner Keupp, | |
Mitglied der Aufarbeitungskommission bei der Präsentation. So etwas habe es | |
bislang nicht gegeben. In der Studie heißt es: „Das individuelle Leid der | |
einzelnen Betroffenen kann zwar nur annähernd erfasst werden, aber es | |
bekommt in dieser Studie ein besonderes Gewicht.“ Grundlage der | |
Untersuchung sind Geschichten von 61 Betroffenen und 11 Fällen, die von | |
Zeitzeug:innen dokumentiert wurden. Die meisten meldeten sich aus | |
Fußball- und Turnvereinen. Sportarten, die zu den mitgliederstärksten | |
Verbänden in Deutschland zählen. Etwa ein Viertel der Leidtragenden waren | |
männlich, drei Viertel weiblich. Und in vier von fünf Fällen wurde die | |
Gewalt von Trainer:innen verübt, wobei die Täter fast ausschließlich | |
männlich waren. | |
## Die Mauern des Schweigens scheinen besonders dick | |
Die Kosten der dunklen Seite des Sports sind gewaltig. So berichtet ein | |
Betroffener: „Die Liste meiner Beschwerden seit den schmerzhaften | |
Erinnerungen an die sexuellen Übergriffe ist lang. Neben Flashbacks mit dem | |
Gefühl, jemand liegt mit aller Gewalt und Macht auf mir und ich drohe zu | |
ersticken, leide ich auch unter Depressionen und einer posttraumatischen | |
Belastungsstörung, zudem habe ich einen Bandscheibenvorfall sowie starke | |
Scham- und Schuldgefühle. Aufgrund all meiner Erkrankungen habe ich eine | |
dauerhafte 50-Grad-Schwerbehinderung erhalten.“ Viele plagen sich mit Scham | |
und Schuldgefühlen, aber auch hohen finanziellen Belastungen durch | |
Psychotherapie | |
Quantitative Aspekte von sexueller Gewalt im Sport sind ohnehin schwer zu | |
erfassen. Das Dunkelfeld ist groß. Zwar haben erste wissenschaftliche | |
Untersuchungen zu diesem Thema, wie die Safe Sport Studie im Jahre 2016, | |
deutliche Hinweise auf eine große Zahl von Betroffenen sexualisierter | |
Gewalt etwa im Profisport ergeben. Fünf Prozent der anonym befragten | |
Sportler:innen gaben damals beispielsweise an, körperliche sexuelle | |
Gewalt erfahren zu haben. Doch die Mauern des Schweigens scheinen im Kosmos | |
des Sports besonders dick zu sein. | |
Insgesamt haben sich bei der Aufarbeitungskommission trotz bundesweiter | |
Aufrufe nur 117 Betroffene aus dem Sport gemeldet. Über 1.500 Anhörungen | |
dagegen hat die Kommission in den letzten Jahren durchgeführt, als sie sich | |
mit Betroffenen befasste, die Missbrauch in Familien, Kirchen oder | |
staatlichen Institutionen der DDR erlebt haben. Keupp erklärte, man müsse | |
das Thema im Sport noch mehr in das öffentliche Bewusstsein rücken. Es | |
bewege sich aber auch schon manches. Die Recherchen und Berichte über | |
sexuelle Gewalt häuften sich. [2][Die jüngste Berichterstattung über den | |
sexuellen Missbrauchs des Wasserspringers und olympischen | |
Medaillengewinners Jan Hempel] hätten viele Menschen berührt. Und die | |
geringen Zahlen hätten natürlich auch mit den Strukturen, dem Fehlen | |
unabhängiger Anlaufstellen zu tun. „Wer meldet sich schon bei dem Verein, | |
wo er großen Missbrauch erlebt hat?“ | |
Der organisierte Sport in Deutschland hat in den letzten Jahren durchaus | |
erkannt, dass etwas getan werden muss. Es wird beispielsweise unter der | |
Federführung der Deutschen Sportjugend fleißig an Präventionskonzepten | |
gefeilt. Keupp spricht allerdings am Dienstag von einer „Flucht in die | |
Prävention“, wie sie auch bei den Kirchen beliebt sei. Die Beschäftigung | |
mit Geschehenem wird vermieden, weil sie mit einem großen Imageverlust und | |
einem sich daraus ergebenden Handlungsdruck verbunden ist. | |
## Geschildert wird die „Normalisierung des Sexismus“ | |
Es bräuchte mehr unabhängige Aufarbeitung von bekannten Fällen, auch um | |
Prävention präziser ausrichten zu können. Auch wenn die Zahl der | |
Betroffenen, die sich melden, gering ist, die aktuellen Auswertungen der | |
Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs | |
verdeutlichen an Einzelbeispielen eindrücklich, wie groß das Versagen des | |
organisierten Sports jeweils ist. Die Studie spricht von besonders | |
„riskanten Strukturen“ im Sport, die „in dieser Form und diesem | |
Zusammenspiel“ in anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht zu finden | |
sind, welche die Ausübung sexualisierter Gewalt ermöglichen. | |
Geschildert wird anhand zahlreicher Beispiele die „Normalisierung des | |
Sexismus“ im Sport, etwa wenn Trainer die Körper von Mädchen bewerten. | |
Hinzu kommen verbreitete homophobe Einstellungen, die es von sexueller | |
Gewalt betroffenen Jungen schwer machen, sich zu öffnen, weil sie nicht als | |
schwul stigmatisiert werden wollen. Große Wirkung übt auch die Macht der | |
Trainer durch das Prinzip der Auslese aus. Für eine Auszeichnung sind viele | |
Betroffene bereit, ihre Gewalterfahrung zu verschweigen. Und in den | |
familienähnlichen Strukturen der Vereine verschwimmt ohnehin das | |
Bewusstsein für Grenzen, was zu nah ist oder nicht. | |
Die Studie zeigt auch, dass Gewalterfahrungen von Opfern als normal und zum | |
System gehörig betrachtet werden, weil Vereinsmitglieder häufig nicht | |
einschreiten, obwohl sie Überschreitungen mitbekommen. Zwei Betroffene etwa | |
haben der Aufarbeitungskommission über ihren Trainer erzählt: „Er hat | |
abgefragt: ‚Wer von euch ist denn hier noch Jungfrau? – Ach, du bist noch | |
Jungfrau, dem können wir Abhilfe schaffen, ich weiß genau, was Männer | |
wollen, wir können das erste Mal haben‘, und so. Das hat er mit 13-Jährigen | |
gemacht in der Turnhalle, wo noch andere Leute waren.“ | |
Es sind viele Faktoren, die im Sport sehr spezifisch und toxisch | |
zusammenwirken und zu einem erhöhten Risiko führen, Opfer von sexueller | |
Gewalt zu werden. Ein Sonderkapitel der am Dienstag vorgestellten Studie | |
widmet sich dem Sport in der DDR, wo das noch deutlich härtere | |
Auslesesystem verbunden mit der politischen Bedeutungsaufladung des Sports | |
besonders schreckliche Leidensgeschichten hervorbrachte. | |
## Kein Beitrag des Deutsche Olympischen Sportbunds | |
Doch was folgt aus all diesen Erkenntnissen? Diejenigen, die sich mit ihren | |
Geschichten der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen | |
Kindesmissbrauchs geöffnet haben, betonen zuvorderst die Notwendigkeit | |
einer unabhängigen Anlauf- und Aufarbeitungsstelle. | |
In kleinerem Maßstab hat das bereits die Vereinigung „Athleten Deutschland | |
e.V.“ auf den Weg gebracht. Der Verein, der für die Interessen der | |
nationalen Kaderathleten verantwortlich ist, setzt sich seit geraumer Zeit | |
– mitunter auch gegen Widerstände des Deutschen Olympischen Sportbundes – | |
für ein solch unabhängiges Zentrum ein und hat im Mai 2022 eine | |
Anlaufstelle „Anlauf gegen Gewalt“ in Betrieb genommen. Sie soll zumindest | |
kurzfristig bei Notfällen helfen. | |
Langfristig wirbt die politisch gut vernetzte Athleten-Vereinigung für ein | |
unabhängiges, besser ausgestattetes und themenoffeneres Zentrum Safe Sport. | |
Eigentlich hat sich dieser Initiative und diesem Projekt auch die | |
Ampelkoalition im Bundestag verschrieben. Im Koalitionsvertrag ist für | |
diese Legislaturperiode die Gründung eines unabhängigen Zentrums Safe Sport | |
vorgesehen. Bei der Umsetzung scheint die Frage nach einer ausreichenden | |
Finanzierung derzeit allerdings das Hauptproblem zu sein. [3][Angela | |
Marquardt], die im Betroffenenrat der Unabhängigen Beauftragten für Fragen | |
des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung sitzt und in | |
Berlin am Dienstag auf dem Podium saß, findet es besonders kurios, dass der | |
Deutsche Olympische Sportbund sich bislang gar weigert, seinen Beitrag dazu | |
zu leisten. Die Maßgabe wäre wohl „Wasch meinen Pelz, aber mach mich nicht | |
nass!“. | |
Den Tag der Studienpräsentation nutzte Marquardt zu einem eindringlichen | |
Appell. Die Ergebnisse der Studie hätten sie nicht wirklich überrascht. Es | |
müsse aber nun endlich gehandelt werden. So gefiel ihr auch die Frage nach | |
den wenigen Meldungen von Betroffenen sexueller Gewalt im Bereich des | |
Sports nicht, weil damit, wie sie erklärte, die Verantwortung, dass etwas | |
geschehe, diesen zugeschoben werde. „Wir haben viele Geschichten auf dem | |
Tisch. Es geht nicht darum, noch die zweihundertste oder dreihundertste | |
Geschichte zu hören.“ | |
27 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Johannes Kopp | |
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