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# taz.de -- Sexuelle Gewalt im DDR-Sport: Abwehr gegen die eigene Geschichte
> Bei der Fachtagung zu sexuellem Kindesmissbrauch im DDR-Sport steht der
> DOSB in der Kritik. Die Betroffenen wünschen sich einen aktiveren
> Sportbund.
Bild: Bitte keine Wellen machen: der Sport hat ein Problem im Umgang mit seinen…
„Wie kannst du damit jetzt an die Öffentlichkeit gehen?“ Das hat der letzte
Trainer von Jan Hempel gefragt, nachdem dieser vergangenes Jahr erstmals
[1][in einer Doku der ARD über die massive sexuelle Gewalt berichtete], die
er als Leistungssportler erfahren hatte. Angefangen hatte der Missbrauch zu
DDR-Zeiten und dauerte 14 Jahre bis 1996 an. Täter war sein damaliger
Trainer Werner Lange, der sich später das Leben nahm.
Die Geschichte erzählte Hempel, einer der erfolgreichsten deutschen
Wasserspringer, am Mittwoch in Schwerin beim Fachgespräch „Sexueller
Kindesmissbrauch in der DDR – Fokus Sport.“ Die Unabnhängige Kommission zur
Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs hatte mit Andrea Drescher, der
Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der
SED-Diktatur, zu der Veranstaltung eingeladen.
Die Biografie von Hempel zeigt, wie Täter der Medaillen wegen unhinterfragt
in den Strukturen des gesamtdeutschen Sports willkommen geheißen wurden.
Und seine Anekdote veranschaulichte, was zuvor drei weitere Betroffene von
sexualisierter Gewalt im DDR-Sport auf dem Podium berichtet hatten. [2][Die
Abwehrreflexe des organisierten Sports], sich mit diesem dunklen Kapitel zu
beschäftigen, sind auch fast 34 Jahre nach Mauerfall groß.
Der stets aufs Neue formulierte Wunsch der Betroffenen nach
Verantwortungsübernahme des Deutschen Olympischen Sportbundes und einer
Entschuldigung zog sich wie ein roter Faden durch die Fachtagung. Eine
ehemalige Leichtathletin, die unter dem Pseudonym Karin an der
Veranstaltung teilnahm, berichtete, sie habe an eine DOSB-Vertreterin wegen
der Untätigkeit des Dachverbands in einer Mail um ein Gespräch gebeten und
ihre Mitarbeit als Betroffene angeboten.
Eine Antwort bekam sie nicht. DOSB-Präsident Thomas Weikert habe in einem
späteren Videogespräch dazu gesagt, er könne sich nicht alle Fehler seiner
Mitarbeiter auf den Tisch ziehen.
## „Ich werde zurückkommunizieren“
In Schwerin war mit Elena Lamby, die in der Unterorganisation Deutsche
Sportjugend für „Kinder und Jugendschutz“ zuständig ist, die Fachfrau vor
Ort. Aus der DOSB-Führung zeigte aber niemand Interesse als Zuhörer der
Tagung, diesem Thema eine größere Bedeutung zu verleihen. Lamby versprach:
„Ich nehme alles mit und werde es zurückkommunizieren, damit es nicht
verloren geht.“
Von einem Sportsystem der „Mehrfachverwundungen“ in der DDR sprach Bettina
Rulofs von der Sporthochschule Köln. Zu emotionaler Gewalt, körperlicher
Gewalt durch extensives Training und Zwangsdoping kam in etlichen Fällen
die sexualisierte Gewalt hinzu. Die spezifischen Strukturen in der DDR wie
die frühe Selektion und Internatssportschulen hätten Missbrauch begünstigt.
[3][Für die Auswertung von Anhörungen der Unabhängigen Kommission zur
Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch] hat Rulofs mit 12 Fällen aus
dem Kontext des DDR-Sports zu tun gehabt. Doch es gibt mehr Fragen als
Antworten. Ein großes Problem, so Rulofs, seien die fehlenden Studien.
Lange konzentrierte sich die Forschung auf das Thema Doping. 2017
berichtete der Doping-Opfer-Hilfeverein, die Menschen, die sich meldeten,
würden zunehmend auch über Erfahrungen sexualisierter Gewalt erzählen.
Die Zahl der Betroffenen ist nur schwer abschätzbar. Wie herausfordernd es
für diese ist, ihre Geschichten nach außen zu kehren, war auch in Schwerin
spürbar. Beklagt wurde, dass im extrem bürokratischen Kampf um
Entschädigungszahlungen dies immer wieder aufs Neue verlangt würde, selbst
wenn die eigene Lebensgeschichte an anderer Stelle schon Anerkennung
erhalten habe.
Das Fehlen flächendeckender Anlaufstellen für Missbrauchsopfer im DDR-Sport
sowie die Schwierigkeit, geeignete Therapeuten zu finden, die mehr als nur
ein sehr begrenztes Stundenkontingent zu bieten haben, wurde ebenfalls
beklagt. Carsten Spitzer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie,
schlug vor, der organisierte Sport könne auch in diesem Bereich
Verantwortung übernehmen, wie das Berufsgenossenschaften bei
Arbeitsunfällen tun.
Die abschließende Frage war, wie Aufarbeitung künftig gestaltet werden
soll. Angela Marquardt, die im Betroffenenrat für Fragen des sexuellen
Kindesmissbrauchs sitzt, sagte: „Solange der Sport nicht bereit ist, sich
selbst und seine Kultur in Frage zu stellen, kannst du 100.000
Aufarbeitungskommissionen machen.“ Das würde wenig bringen, weil sich diese
immer nur am individuellen Fall entlanghangeln und nicht am System.
Systemfehler im gesamtdeutschen Sport rühren aus ost- und westdeutscher
Vergangenheit. Steffen Sindulka, Kinderschutzbeauftragter im Thüringer
Sport, äußerte sich deutlich zur provokanten Frage, ob aktuell
Leistungssport und Kinderschutz miteinander vereinbar seien. Er sagte: „So
wie derzeit die Strukturen sind, schließt sich das aus.“
27 Apr 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Johannes Kopp
## TAGS
Sexualisierte Gewalt
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