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# taz.de -- Erzieher wegen Missbrauch vor Gericht: Dem Hausvater ausgeliefert
> In Lüneburg gesteht ein Kinderdorf-Erzieher vor Gericht, dass er über
> zwanzig Jahre hinweg Jungen missbraucht hat. Viele Fragen bleiben
> unbeantwortet.
Bild: In einem Kinderdorf bei Lüneburg hat ein Erzieher die ihm anvertrauten J…
Lüneburg taz | 116 einzelne Missbrauchstaten listet die Anklage auf. Über
einen Zeitraum von 20 Jahren hinweg soll Rainer L. mindestens sechs Jungs
im Alter von 7 und 13 Jahren missbraucht haben, die ihm als Erzieher und
„Hausvater“ eines Kinderdorfes bei Lüneburg [1][anvertraut waren]. Und das,
obwohl es schon 2001 eine Anzeige gegen ihn gegeben hatte – damals stellte
die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein.
Jetzt muss er sich doch noch vor dem Landgericht Lüneburg verantworten.
Aber schon am ersten Prozesstag am vergangenen Freitag wird deutlich, dass
diese Gerichtsverhandlung mehr Fragen aufwirft, als sie beantworten kann.
Die Anklage beruht im Wesentlichen auf den Angaben des jetzt 63-Jährigen.
Nachdem sich einer der Jungen, sein letztes und jüngstes Opfer, einem
anderen Mitarbeiter anvertraut hatte und sein Arbeitgeber ihn mit den
erneuten Vorwürfen konfrontierte, entschloss sich Rainer L. zur
Selbstanzeige.
Die Anklageschrift kleidet das alles in nüchternen Juristensprech, viele
Taten sind nur auf ungefähre Zeiträume zu datieren. Und trotzdem ergibt
sich ein schwer erträgliches Gesamtbild. Wenn das alles auf seinen Angaben
beruht, dann scheint Rainer L. noch ziemlich genau zu wissen, was er wann
mit wem gemacht hat. Und bei welchem Kind er wie weit gehen konnte.
## Nirgendwo scheinen die Kinder sicher gewesen zu sein
Im Gemeinschaftsraum beim Fernsehgucken, beim abendlichen Vorlesen, im Bad,
im Bett des Hausvaters oder im Bett des Kindes, bei einem Besuch zu Hause
beim Vater oder im Zeltlager im Harz – nirgendwo scheinen diese Kinder
sicher gewesen zu sein. Kinder, die ohnehin schwer belastet waren, aus
zerrütteten Familien stammten.
Und obwohl sich aus der Anklage schon ein ziemlich deutliches Bild von
Rainer L.s sexuellen Vorlieben ergibt, beantragt sein Verteidiger
anschließend erfolgreich den Ausschluss der Öffentlichkeit.
Sein Mandant will sich erklären, er erspart den Opfern damit, vor Gericht
erscheinen zu müssen. Es heißt zur Begründung, es ginge dabei um seine
sexuellen Erfahrungen, seine Entwicklung und Identitätsfindung, auch
innerhalb seiner gescheiterten Ehe, mithin „Tatsachen aus der absoluten
Intimsphäre“. Die seien zwar zum Verständnis der Taten unerlässlich, hätt…
aber in der Öffentlichkeit nichts zu suchen.
40 Minuten müssen Publikum und Presse draußen warten, dann lässt man sie
wieder in den Saal – zur Einführung der Zeugenaussagen der mutmaßlichen
Opfer, in Form von Videovernehmungen. Auf deren Intimsphäre pocht hier
niemand.
Von der ersten Zeugenaussage gibt es kein Video, die Richterin liest ein
Vernehmungsprotokoll vor. Es handelt sich um die Aussage des Jungen, der
2001 Anzeige erstattete. Dass ihm nun doch noch geglaubt wird, kann er
nicht mehr miterleben: Er ist tot.
Von zwei weiteren kindlichen Zeugen werden Vernehmungsvideos vorgespielt,
das des Siebenjährigen, der das Verfahren ins Rollen brachte, und eines
heute 20-Jährigen. Es ist schwer zu ertragen, wie sie sich winden und ihnen
die Worte fehlen, um auch nur annähernd das zu bezeichnen, was ihnen
geschehen ist. Vor allem, wenn man weiß, wie Jungs in diesen Altersstufen
sonst so reden und aus Freude an der Provokation mit Vulgaritäten um sich
werfen.
Am Rande des Prozesses gibt es noch jemanden, der um Worte ringt. Ein
Sprecher der Einrichtung verfolgt den Prozess aus dem Zuschauerraum heraus,
auch mehrere Ex-Kollegen sind gekommen. Die Einrichtung versucht, den
Vorwürfen und Fragen, die sich nun unweigerlich stellen, mit Offenheit zu
begegnen. Auch der Geschäftsführer Andreas Olszewski hat im Vorfeld schon
mehrere Interviews gegeben. Alle versuchen zu erklären, was kaum jemand
nachvollziehen kann. Wie konnte so lange niemand etwas merken? Wieso hat
man dem Angeklagten nach der ersten Anzeige so blind vertraut?
Als großartiger Pädagoge galt Rainer L., als toller Kollege, von dem man
was lernen kann. Die Kollegen und Kolleginnen, die mit ihm eng zusammen
gearbeitet hätten, seien immer noch geschockt, wütend, einige sogar krank
geworden, sagt der Sprecher Dirk Schneider.
Das Verfahren damals ist auch nicht schnell eingestellt worden, erklärt er.
Es gab Ermittlungen, aber keine weiteren Opfer, die sich offenbarten.
Möglicherweise hatte die Staatsanwaltschaft nach einem
aussagepsychologischen Gutachten Zweifel an der Belastbarkeit des
Opferzeugen. Aber das weiß er nur aus zweiter Hand und den Akten – die
Staatsanwaltschaft äußert sich grundsätzlich nicht.
## Staatsanwaltschaft wies Beschwerde zurück
Die Stiefmutter und das mutmaßliche Opfer legten damals Beschwerde ein, als
die Staatsanwaltschaft entschieden hatte, den Fall nicht vor Gericht zu
bringen. Die Generalstaatsanwaltschaft in Celle wies sie zurück.
„Es ist leider so, dass in diesem Arbeitsbereich auch mal falsche
Verdächtigungen ausgesprochen werden“, versucht Schneider zu erklären.
Davon seien die Kollegen wohl auch in diesem Fall ausgegangen.
Immerhin gab es – in Absprache mit der Heimaufsicht – ein paar
Einschränkungen. Die Kinder sollten die Wohnung des Hausvaters nicht
betreten, gemeinsames Übernachten in einem Bett war untersagt. Rainer L.
hielt sich allerdings nicht daran, eine effektive Kontrolle gab es nicht.
Das hat auch mit dem pädagogischen Konzept zu tun: Die Unterbringung in
„familienähnlichen“ Gruppen soll den Kindern die Möglichkeit geben,
positive Bindungserfahrungen nachzuholen, stabile, belastbare Beziehungen
zu Erwachsenen zu erfahren, Halt zu bekommen – Dinge, an denen es in ihren
Familien oft mangelt. Das gilt als wirksames und gutes Konzept. Die
zentrale Rolle des Hausvaters oder der Hausmutter macht es aber auch
anfällig für Machtmissbrauch.
Die Frage, ob Rainer L. nun so ein meisterhafter Manipulator war, der alle
getäuscht hat oder ob nicht [2][vielleicht doch jemand weggesehen] hat,
wird bleiben. Sie ist auch erst einmal nicht der Gegenstand dieses
Prozesses. In dem geht es nur um Rainer L.s Schuld. Zwei weitere
Verhandlungstage sind angesetzt, um die zu klären. Möglicherweise wird
bereits in dieser Woche ein Urteil fallen.
3 Jul 2023
## LINKS
[1] /Sexuelle-Gewalt-im-DDR-Sport/!5927732
[2] /Missbrauch-im-Erzbistum-Freiburg/!5931312
## AUTOREN
Nadine Conti
## TAGS
Landgericht
Lüneburg
Kindesmissbrauch
sexueller Missbrauch
Erzieher
GNS
Kindesmissbrauch
Katholische Kirche
Sexualisierte Gewalt
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