# taz.de -- Buch über DDR-Geschichte: Mit Mutti zum Kaffee bei Egon Krenz | |
> Zu Gast bei der ostdeutschen Volksgemeinschaft: Katja Hoyers viel | |
> diskutiertes und seltsames Buch „Diesseits der Mauer“. | |
Bild: Ein Volk, ein Trabi? | |
Am Ende dieses Buchs, das der Verlag als „Eine neue Geschichte der DDR“ | |
anpreist, finden sich unter den Danksagungen, die unter anderem dem Agenten | |
und der PR-Managerin der Autorin sowie „meiner Twitter-Community“ gelten, | |
auch diese Sätze: „Mutti opferte für mich ihr Wochenende und fuhr mich zum | |
Kaffeetrinken mit [1][Egon Krenz] an die Ostsee. Papa durchstreifte mit mir | |
einen Tag lang die Waldsiedlung, wo wir gemeinsam zuordneten, wo einst | |
welcher Politiker gewohnt hatte.“ | |
Mutti war zu DDR-Zeiten Lehrerin gewesen, Papa ein NVA-Offizier; die | |
Tochter, Jahrgang 1985, lebt indessen seit langem in Großbritannien, | |
kommentiert für die BBC, schreibt für die Washington Post und forscht am | |
Londoner King’s College. Katja Hoyer sieht sich dabei wohl eher als | |
meinungsstarke Historikerin denn als skrupulöse Soziologin, was ihrem | |
zuerst auf Englisch und nun auch in deutscher Übersetzung erschienenem Buch | |
„Diesseits der Mauer“ nicht unbedingt gut tut. | |
Die Tochter eines Systemträger-Ehepaars schreibt nämlich keine ostdeutsche | |
Version von Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ oder gar ein | |
Post-DDR-Pendant zu Bernward Vespers 1977 posthum veröffentlichtem Kultbuch | |
„Die Reise“, in dem mit der NS-Elterngeneration vernehmlich abgerechnet | |
worden war. | |
Mutti und Vati und deren Milieuprägungen werden nicht im Geringsten | |
kritisch befragt, stattdessen findet sich über den einst in Strausberg | |
stationierten Militär folgendes: „Alles in allem machte Frank seine Arbeit | |
Spaß, aber es war auch klar, dass sie zunehmend politisiert wurde.“ | |
## Deutsche Rechtfertigungskontinuität | |
Sieh an: „Zunehmend politisiert“ – und das in der NVA! Vielleicht könnten | |
ja zukünftige Mentalitätshistoriker fündig werden angesichts solch | |
deutscher Rechtfertigungskontinuität: Die Armee als mehr oder minder | |
„sauber“, wäre da nur nicht die vermaledeite Politik und das intrigante | |
Treiben derer da oben, in deren Fänge dann ein bisschen sogar Mutti und | |
Papa geraten waren. | |
Dabei lässt es Katja Hoyer durchaus nicht an Anklage fehlen: „Geschichte | |
wird von Siegern geschrieben, auch die der DDR.“ In immer neuen | |
Formulierungen wird einem nicht näher spezifizierten Westen der Vorwurf | |
gemacht, die DDR bislang nur als graue russische Kolonie wahrgenommen zu | |
haben. Quellenangaben zu diesem Pauschalvorwurf sucht man vergebens. | |
Dabei wäre es im Gegenteil reizvoll gewesen, jenes permanente | |
national-konsensuale Schönreden des SED-Staats zu dokumentieren – von den | |
Weichzeichnereien der einstigen bundesdeutsch-linksliberalen | |
Starpublizisten Günter Gaus und Marlies Menge bis hin zu den gegenwärtigen | |
Auslassungen der AfD, wo man die „preußische Zucht und Ordnung“ des | |
Mauersystems weiterhin ganz formidabel findet. | |
Nicht zu vergessen Bundeskanzler Kohls und seines damaligen Innenministers | |
Schäuble Skepsis gegenüber der Öffnung der Stasi-Akten, die dann | |
schließlich vor allem von ostdeutschen Bürgerrechtlern durchgesetzt wurde. | |
## Eine Verschwörungstheorie | |
Hoyers schräge Verschwörungstheorie wird dann freilich von ihr selbst auf | |
nahezu jeder Seite widerlegt, denn „neu“ an ihrem Parcours zur | |
DDR-Geschichte ist lediglich die Form: Ein Buch nämlich, das sich in seinen | |
Fakten und Daten auf zahlreiche und bereits seit Langem veröffentlichte | |
Forschungen stützt – und zwar aus Ost und West. | |
Von einem dreisten Plagiat lässt sich dennoch nicht sprechen, denn die | |
Quellen werden am Schluss durchaus genannt: Von Wolfgang Leonhards „Die | |
Revolution entlässt ihre Kinder“ und Andreas Petersens Untersuchung über | |
die stalinistischen Täterbiografien der aus Moskau nach Ostberlin | |
übergewechselten ersten Generation der SED-Elite bis hin zu den | |
Alltagsanalysen des (ostdeutschen) Historikers Stefan Wolle. | |
Selbst die recht vergnüglich zu lesende Passage über DDR-Jeans bezieht ihre | |
Details aus einem anderen Buch, das bereits vor Jahren im Christoph Links | |
Verlag erschienen war. | |
Die chronologische Darstellung der vier DDR-Jahrzehnte ist damit weder neu | |
noch originell, jedoch auch – zumindest solange sich die Autorin an die | |
Veröffentlichungen anderer hält – keineswegs verharmlosend. Stasi, fehlende | |
politische Grundrechte und staatliche Repression werden sehr wohl | |
thematisiert, wenngleich in geradezu mechanischer Eilfertigkeit mit einer | |
vermeintlichen Systemlogik des Kalten Kriegs erklärt oder in Beziehung | |
gesetzt zur Tatsache, dass unter allen kommunistischen Staaten in der DDR | |
immerhin der materielle Lebensstandard am höchsten war. | |
## Staatlicher Rassismus | |
Dabei wird allerdings, als lägen hier nicht bereits zahlreiche | |
Forschungsergebnisse vor, der Rassismus gegenüber den auf Staatsbefehl | |
isoliert lebenden ausländischen VertragsarbeiterInnen ebenso geleugnet wie | |
vom hohen Frauenanteil in der „sozialistischen Produktion“ auf eine | |
wirkliche Emanzipation kurzgeschlossen wird. | |
Die InterviewpartnerInnen, die Katja Hoyer – offenbar nun in Eigenregie – | |
gefunden hat und die von ihr im Guido-Knopp-Stil am Beginn eines jeden | |
Kapitels in ihren Lebensabschnitten vorgestellt werden, sprechen dann von | |
all dem: Von Freud und Leid der Nichtprominenten, von beruflichen | |
Aufstiegschancen und ökonomischer Malaise, hinzu kommen noch die | |
Erinnerungen des DDR-Schlagerstars Frank Schöbel. | |
Die Autorin selbst zieht folgendes Resümee: „Die Bürger der DDR lebten, | |
liebten, arbeiteten und wurden alt.“ Diese himmelstürzende Erkenntnis | |
möchte die Autorin nun endlich auch im wiedervereinigten Land implementiert | |
wissen, „um die deutsche Vergangenheitsbewältigung abzuschütteln“. | |
Dem bisherigen Medienecho zufolge, in dem diese in entscheidenden Passagen | |
völlig unreflektierte Publikation als „wichtiger Debattenbeitrag“ gelabelt | |
wird, scheint die Freude aufs Abschütteln jedenfalls enorm zu sein. | |
Vielleicht sollte der publicity-emsige Verlag als Spoiler noch hinzufügen: | |
Für alle LeserInnen von Sahra Wagenknecht und Richard David Precht. | |
13 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.hdg.de/lemo/biografie/egon-krenz.html | |
## AUTOREN | |
Marko Martin | |
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