# taz.de -- Buch über Verteidiger der Demokratie: Ketzer, keine „Querdenker�… | |
> Der Autor Marko Martin porträtiert in seinem Buch „Brauchen wir Ketzer?“ | |
> Intellektuelle, die die Freiheit des Einzelnen hellsichtig verteidigt | |
> haben. | |
Bild: Ketzer der Macht bringen Licht ins Dunkel | |
Marko Martin setzt in seinem neuen Buch ein schriftstellerisches | |
Unternehmen fort, das mit seinen Reiseromanen und -berichten in | |
unterschwelliger Verbindung steht: die Wiederentdeckung einer Ahnengalerie | |
antitotalitärer intellektueller Vorbildgestalten. | |
Ihn interessieren seit Jahrzehnten jene freiheitlichen Solitäre, die in den | |
verschwisterten Fluten des Nationalsozialismus und des Stalinismus | |
untergingen und von denen viele außerhalb des politischen Diskurses | |
geblieben sind. Diese großen Vereinzelten treiben ihn innerlich und | |
äußerlich um. Er besuchte sie, sofern sie noch lebten. Er bringt sie und | |
ihre Bücher in essayistisch-biografischer Feinmalerei einem deutschen | |
Publikum nah. | |
Aharon Appelfeld, Horst Bienek, Albert Camus, Jürgen Fuchs, André | |
Glucksmann, Václav Havel, Gustaw Herling, Edgar Hilsenrath, Pavel Kohout, | |
[1][Arthur Koestler], Czesław Miłosz, Raissa Orlowa-Kopelewa, Hans Sahl, | |
Manès Sperber bevölkern das Museum einer intellektuellen Generation, die | |
„jenseits von Reaktion und Revolution auf der Machbarkeit reformerischen | |
Fortschritts beharrte(n)“. Marko Martins work in progress solcher | |
Lebensbilder knüpft erkennbar an John F. Kennedys berühmte „Profiles in | |
Courage“ an. | |
Das neue Buch vervollständigt das progressistische Pantheon um jene, die | |
nicht auf dem Umweg über eine kommunistische Verirrung auf Reformpositionen | |
gelangt sind. Sein Schwerpunkt liegt vielmehr auf Menschen, die von | |
vornherein wussten, was freie Denkerinnen und Denker von den Iossif | |
Dschugaschwilis, Lawrenti Berias und Walter Ulbrichts dieser Welt zu | |
gewärtigen hatten und was den Demokratien heute von den Wladimir Putins und | |
Sergej Lawrows droht. | |
## Vorbilder einer demokratischen Gesellschaft | |
Es geht um Ludwig Marcuse, Alice Rühle-Gerster und ihren Mann Otto, um | |
Hermann Broch, Primo Levi, Jean Améry, Fritz Beer, Hilde Spiel, Hans Habe, | |
Friedrich Torberg. Aber auch die Kommunistin Anna Seghers und der Kommunist | |
Leo Lania werden in deren Reihe gestellt. | |
In angenehmem Parlando, versetzt mit vielfältigen Hinweisen aufs politisch | |
Aktuelle, bringt Marko Martin der Leserin zu lebendiger Anschauung, | |
mithilfe welcher Erfahrungen, durch welche Intuitionen und Impulse diese | |
vergessenen Vorbilder einer demokratischen Gesellschaft auf ihre | |
Freiheitspositionen gelangt sind. | |
Eine der zahlreichen geistesgeschichtlichen Überraschungen, mit denen sein | |
Buch aufwartet, ist die verschwiegene Rolle, die der american pragmatism im | |
Motivgeflecht dieser Generation gespielt hat. Die Ideen William James’ | |
haben im amerikanischen Exil Ludwig Marcuse inspiriert, der große | |
Pragmatist James Dewey hat, als Vorsitzender der internationalen Kommission | |
zur Verteidigung Leo Trotzkis, in Mexiko Otto Rühle und Alice Rühle-Gerster | |
beeindruckt. | |
Zusammen mit der „Kritischen Theorie“ und vielen Exilierten aus jener | |
Generation ist die amerikanische Freiheitsphilosophie nach 1945 ins | |
re-education-Deutschland gereist, wurde hier dann aber im Gegensatz zu | |
Horkheimer und Adorno bald vergessen. Erst in den Jahren um 1989 hat sie | |
durch [2][Richard Rorty] wieder ein Gastspiel gegeben. | |
Die Frage des Titels, „Brauchen wir Ketzer?“, ist rhetorisch. Wir brauchen | |
sie dringend, versteht man nach der Lektüre, und nicht in jenem | |
banalisierenden Sinn eines „Querdenkertums“, das seinen Opportunismus in | |
den letzten Jahren politisch offenbart hat, sondern im Verstand eines | |
Denkens, das den freien einzelnen Menschen in den Mittelpunkt politischen | |
Handelns stellt. | |
17 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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