# taz.de -- Systemische Gewalt im Sport: Missbrauch für Medaillen | |
> Der Ex-Wasserspringer Jan Hempel wirft seinem ehemaligen Trainer | |
> Vergewaltigung vor. Es ist dies nur einer von vielen Gewaltskandalen im | |
> Sport. | |
Bild: Jahrelang missbraucht: Jan Hempel, einer der erfolgreichsten deutschen Wa… | |
BERLIN taz | Es ist vielsagend, wenn eine Recherche niemanden überrascht. | |
Schon wieder ist massive sexualisierte Gewalt und Vertuschung im | |
Spitzensport ans Licht gekommen. Wieder wurde zuvor intern geschwiegen, | |
abgewiegelt, ignoriert. Business as usual im organisierten Sport. Im Fokus | |
des neuerlichen Skandals steht der Deutsche Schwimm-Verband (DSV). Eine | |
monatelange ARD-Recherche, die [1][seit Donnerstag in der Mediathek] | |
einsehbar ist, präsentiert als Kronzeugen den ehemaligen | |
Weltklasse-Wasserspringer Jan Hempel, der 1996 Silber und 2000 Bronze bei | |
Olympia holte. Hempel gibt an, 14 Jahre lang von seinem Trainer Werner | |
Langer schwer sexuell missbraucht worden zu sein, zum ersten Mal mit elf | |
Jahren. | |
Langer beging 2001 Suizid. Schon 1997 hatte Hempel sich nach eigenen | |
Angaben der damaligen Bundestrainerin Ursula Klinger anvertraut. Zwar | |
wurde der Trainer daraufhin entlassen, allerdings unter dem Vorwand seiner | |
Stasi-Vergangenheit. Er durfte unfassbarerweise weiter im Schwimmsport | |
arbeiten – beim österreichischen Verband. Unter anderem der heutige | |
Bundestrainer der Wasserspringer, Lutz Buschkow, soll die Vorwürfe gekannt | |
und vertuscht haben. | |
Kein Einzelfall, belegt die ARD: Schwimmtrainer Stefan Lurz durfte, trotz | |
mehrerer mutmaßlicher sexueller Übergriffe gegen Schwimmerinnen, | |
Bundestrainer werden. Und auch nach rechtskräftiger Verurteilung und einer | |
Anweisung des Amtsgerichts, dem Schwimmsport fernzubleiben, arbeitet er | |
offenbar weiter beim Schwimmverein Würzburg 05, wo sein Bruder Thomas Lurz | |
Präsident ist, als kaufmännischer Angestellter. | |
„Ich habe es viele Jahre am eigenen Leibe spüren müssen, dass dem DSV nur | |
der sportliche Erfolg wichtig ist“, so Jan Hempel. „Es wird einfach über | |
Leichen gegangen und wenn man nicht mitzieht, fliegt man raus.“ Dass ein | |
derart prominenter Sportler mit Klarnamen spricht, ist bemerkenswert. Und | |
keine Ausnahme mehr. In jenem riesigen Sumpf sexualisierter Gewalt im | |
US-Turnen, wo seit 2016 insgesamt 265 Frauen dem Teamarzt Larry Nassar | |
sexuelle Übergriffe vorwarfen, haben Olympiasiegerinnen wie Gabby Douglas, | |
McKayla Maroney und Superstar Simone Biles öffentlich gemacht, dass Nassar | |
sie missbrauchte. | |
## Anhaltende Quälerei | |
In Deutschland machten 2020 Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz und andere | |
Turnerinnen psychischen Missbrauch, Schikane und körperliche Quälerei durch | |
Trainerin Gabriele Frehse in Chemnitz publik. Frehse wurde erst gekündigt, | |
dann wies das Arbeitsgericht die Verdachtskündigung wegen handwerklicher | |
Fehler ab. Der Verein und einige Eltern und Sportlerinnen stellten sich | |
hinter die Trainerin. | |
So zahlreich sind die Fälle sexualisierter, körperlicher und psychischer | |
Gewalt, dass viele Beobachter:innen das System Sport mit jenem der | |
katholischen Kirche vergleichen. Patriarchale Monopol-Organisationen, in | |
denen fast ausschließlich Männer die Macht halten, wo | |
Wagenburg-Mentalität, vielfache Abhängigkeitsverhältnisse, große | |
persönliche Nähe durchs Ehrenamt und wenig Einblick von außen herrschen. | |
Hinzu kommen [2][spezifische Charakteristika des Sports]: Viel | |
Körperkontakt bei Übungen, autoritäre Kultur im Training, Karriererisiken | |
in einer ohnehin kurzen Laufbahn bei Nestbeschmutzung und Trainer:innen, | |
die gewohnheitsmäßig über die Körper der Athlet:innen verfügen. Dass | |
dabei sexualisierte und andere Gewaltformen häufig zusammengehen, zeigt | |
etwa der Fall der französischen Spitzenschwimmerin Casey Legler, die 2019 | |
von sexuellem Missbrauch durch einen Physiotherapeuten, aber auch von | |
rücksichtslosem Zwang zum Weitermachen trotz Verletzungen und Wegschauen | |
etwa bei Essstörungen und Doping berichtete. Ein vielfaches Zurichten. | |
## Jede:r dritte Kaderathlet:in betroffen | |
Vor allem der Skandal im US-Turnen und der große Missbrauchsskandal im | |
englischen Männerfußball, die beide 2016 publik wurden, haben den zuvor oft | |
angemahnten, aber weitgehend ignorierten [3][Eisberg sexualisierter Gewalt | |
im Sport] ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Die Soziologin Bettina | |
Rulofs hat für das von 2014 bis 2017 laufende Projekt „Safe Sport“ in einer | |
Studie unter anderem 1.800 Kaderathlet:innen zu sexualisierter Gewalt | |
befragt. | |
Jede:r Dritte gab an, im Sport sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. | |
Endlich nun bewegt sich etwas. Auch, weil Betroffene durch Vorbilder den | |
Mut fassen, zu sprechen, sind lawinenartig Systeme von Missbrauch weltweit | |
publik geworden. Durch Social Media können Athlet:innen zudem verstärkt | |
Plattformen außerhalb der Kontrolle von Vereinen nutzen. | |
[4][Das unabhängige Zentrum für Safe Sport], das das Bündnis Athleten | |
Deutschland e.V. seit langem fordert und das mittlerweile auch im | |
Koalitionsvertrag verankert ist, begrüßt nun endlich auch der Deutsche | |
Olympische Sportbund (DOSB). Es droht allerdings die Gefahr der | |
Unterfinanzierung: In der Machbarkeitsstudie des Bundes ist nur ein | |
sechsstelliger Betrag vorgesehen, im Vergleich zu 23 Millionen Dollar beim | |
US-Vorbild. Der DOSB betont zudem, „die originäre Verantwortung“ beim | |
Schutz vor Gewalt sehe man weiterhin beim Sport. Gut, dass sie bald nicht | |
mehr ausschließlich da liegt. | |
18 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.ardmediathek.de/video/sportschau/missbraucht-sexualisierte-gewa… | |
[2] /Sexualisierte-Gewalt-im-Verein/!5813225 | |
[3] /Frauenfussball-und-sexuelle-Gewalt/!5866324 | |
[4] /Anlaufstelle-fuer-Gewaltopfer-im-Sport/!5852496 | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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