# taz.de -- Debatte um Gewalt im Sport: Freiheit und Quälerei | |
> Die Enthüllungen um Missbrauch im Schwimmsport sollten nicht folgenlos | |
> bleiben. Das Sportsystem und seine Fördergelder gehören auf den | |
> Prüfstand. | |
Bild: Bis zur Erschöpfung: Schinderei ist immanenter Teil des Sports | |
Es war eine merkwürdige Szene, die sich da abgespielt hat zu Beginn der | |
European Championships in München. Bei der Auftaktpressekonferenz wurde das | |
Gesicht des ansonsten beinahe so wie die Sonne über dem Olympiaberg | |
strahlenden bayerischen Innenministers Joachim Herrmann ganz ernst. | |
Er war gefragt worden, welche der neun Sportarten bei der Multi-EM er sich | |
denn aussuchen würde, wenn er als Sportler antreten müsste. Eigentlich eine | |
harmlose Frage. Doch der Minister reagierte stinksauer darauf. Müssen müsse | |
man gar nichts in unserer freiheitlichen Gesellschaft. Diese Zeiten seien | |
vorbei. Jetzt gebe es einen freien Sport, keinen wie früher in der DDR oder | |
der Sowjetunion. | |
Eine Woche später, nach den Enthüllungen um [1][Missbrauch und | |
Vergewaltigung unter dem Dach des Deutschen Schwimm-Verbands] stellt sich | |
die Frage, wie frei Sport überhaupt sein kann. Der Leistungssport, bei dem | |
die Quälerei annerkannter Teil der großén Erfolgsgeschichten ist, steht | |
dabei besonders im Fokus. Die Frage, ob Spitzensport wirklich frei sein | |
kann, steht im Raum. Die Äußerung Herrmanns, der sich selbst stolz als | |
naiven Sportfan inszeniert und in München von Veranstaltung zu | |
Veranstaltung pligert, wirkt am Ende dieser Woche, nur noch peinlich. | |
Auch all die Stimmen, die angesichts der schönen Bilder aus der | |
Europameisterschaftsstadt München [2][davon träumen, Olympische Spiele nach | |
Deutschland zu holen], müssen sich nach den ARD-Enthüllungen über den | |
Schwimmsport fragen, ob es nicht besser wäre, erst mal grundsätzlich über | |
die Sportstruktur im Lande nachzudenken, als gleich das ganz große Rad zu | |
drehen. | |
## Die Sache mit den Werten | |
Die Vereinigung Athleten Deutschland, ein von den großen Sportverbänden | |
unabhängiger Zusammenschluss von Sportlern, hat in der EM-Woche eine | |
gesellschaftliche Grundsatzdebatte über Sinn und Zweck der | |
Leistungssportförderung in Deutschland angeregt. Die braucht es wirklich. | |
Mehr als 370 Millionen Euro gibt der Bund im Jahr für den Leistungssport | |
aus, ermöglicht Kaderathleten über Jobs bei der Bundeswehr, beim Zoll oder | |
der Polizei ein Leben als Profi. Warum eigentlich? Diese Frage wird meist | |
mit der gesellschaftlichen Vorbildrolle von Sportlerinnen begründet. Sie | |
trügen mit ihren Erfolgen dazu bei, über den Sport Werte zu transportieren. | |
Fairness wird da immer genannt. | |
Manchmal wird das so dargestellt, als sei der Sport die Schule der | |
Demokratie und ein Katalysator für Integration. Kann das wirklich sein? | |
Wird Deutschland ein besseres, freieres Land, wenn seine Athletinnen bei | |
Olympia mehr Medaillen gewinnen? | |
Wer Kinder in einen Sportverein schickt, erfährt oft genug, dass der Sport | |
auch ganz unten als Träger von Werten versagt. Die sanfteste Soccermum | |
nimmt es oft hin, wenn ihr Süßer vom Fußballtrainer, der Coach im Verein | |
ist, weil er es schon immer war, angebrüllt wird. Der Basketballpapa sagt | |
nichts, wenn sein Kind, fast bis zum Erbrechen zu Linienesprints von einem | |
Hallenende zum anderen aufgefordert wird, weil es drei Minuten zu spät zum | |
Training gekommen ist. | |
## „Spitzenturnen mit Spaß“ | |
Und auch die misstrauischsten Eltern wissen nicht, wohin im Verein, im | |
Verband, in der Kommune sie sich wenden sollen, wenn die Trainerin ihnen | |
verboten hat, bei den Übungseinheiten in der Halle zuzuschauen. Nein, der | |
Sport ist nicht frei. In der Spitze ebensowenig wie an der Basis. | |
Den Sport so frei wie möglich zu gestalten, das sollte die Aufgabe der | |
Politik sein. Darauf sollte der Fokus der Sportförderung liegen. | |
Leistungssport kann dann immer noch möglich sein. Gerben Wiersma, der | |
Trainer der deutschen Turnerinnen, [3][die bei der EM zweimal Gold und | |
einmal Bronze] gewonnen haben, glaubt daran. „Spitzenturnen mit Spaß ist | |
möglich“, meint er. Es wäre doch schön, wenn er wirklich recht hätte. | |
19 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Rüttenauer | |
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