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# taz.de -- Trainer Wiersma über Turnen und Qual: „Spitzenturnen mit Spaß m…
> Bundestrainer Gerben Wiersma spricht vor den Deutschen Meisterschaften
> über Grenzüberschreitungen. Und er erzählt, welche Fehler er gemacht hat.
Bild: Mit gestreckter Faust: Gerben Wiersma freut sich über die Vorstellung vo…
taz: Herr Wiersma, Sie sind seit Februar im Amt. Was liegt hinter Ihnen?
Gerben Wiersma: Es war wie eine Achterbahnfahrt, bei der hinter jeder Kurve
ein Meeting stattfand. Ich war auf Wettkämpfen, habe viele Gespräche mit
Turnerinnen und Trainern geführt, versuche, das Sportsystem hier zu
durchblicken und jeden Tag etwas Deutsch zu lernen.
Ist es von Vorteil, dass Sie selbst keine Turnerin täglich betreuen werden?
Deutschland hat ein dezentralisiertes System und ich bin überzeugt, dass es
wichtig ist, an verschiedenen Orten gute Trainer, gute Bedingungen und
Top-Turnerinnen zu haben. Meine Hauptaufgabe wird es sein, dazu
beizutragen. Im Idealfall kommen alle einmal im Monat bei Lehrgängen
zusammen. Ich bin gespannt, ob das klappt. In den Niederlanden fährt man in
anderthalb Stunden quer durch, Deutschland ist vergleichsweise riesig.
Sie sind gerade 45 geworden und waren sehr erfolgreich:
Stützpunkt-Cheftrainer in Heerenveen, Nationalcoach, seit 2016 Cheftrainer
des Gesamtprogramms. Für Rio 2016 hat sich nach 40 Jahren erstmals ein
niederländisches Team qualifiziert, Sanne Wevers gewann Gold. Was ist Ihnen
rückblickend wichtig?
Die Olympiaqualifikation war schon außergewöhnlich, aber es gab viele gute
Ergebnisse. Wir haben viel anders gemacht, wir nannten es „einen neuen Stil
im Frauenturnen“, und das betraf nicht nur unsere Choreografien. Trainer
und Turnerinnen haben kooperiert, es gab eine besondere Verbindung, auf die
ich auch stolz bin.
Auch in den Niederlanden sind im Kontext der [1][#gymnastAlliance-Bewegung]
Schilderungen grenzüberschreitender Trainingspraktiken ehemaliger Aktiver
öffentlich geworden. Sie und das Trainerteam wurden 2021 suspendiert,
obschon das Team sich hinter Sie stellte. Warum sind Sie während der
Untersuchungen zurückgetreten?
Ich trage die Verantwortung, wenn Turnerinnen negative Erfahrungen gemacht
haben. Ich habe mich bei ihnen entschuldigt. Für den Rücktritt gab es
persönliche und berufliche Motive. Ich habe mir in der Zeit eine Menge
Fragen gestellt. Wir standen kurz vor den Spielen und ich weiß, wie viel
Enthusiasmus, Hingabe und Energie die Führung eines Olympiateams erfordert.
Ich erwarte hundert Prozent von den Turnerinnen und von mir selbst – die
konnte ich in dieser Situation nicht geben.
Sie wurden von der niederländischen Sportgerichtsbarkeit erst
freigesprochen, im Berufungsverfahren in Teilen für schuldig befunden,
gegen Disziplinarvorschriften verstoßen zu haben. Worum ging es?
Die Berufung hat festgehalten, dass mein Verhalten bei einigen Turnerinnen
dazu geführt hat, dass sie sich missverstanden, aus der Gruppe
ausgeschlossen und ignoriert gefühlt haben. Darin besteht die Verletzung
der Vorschriften. Es wurde keine Strafe ausgesprochen, da – so die
Begründung – ich das nicht mit Absicht provoziert habe, es um wenige und
nicht schwere Fälle ging. Sie stammten alle aus den Jahren 2010/2011. Es
wurde festgehalten, dass ich seit 2012 einer der Initiatoren des
Kulturwandels war und selbstkritisch und transparent mit den Vorwürfen
umgegangen bin.
Liest man die nun vorliegenden Untersuchungsergebnisse aus verschiedenen
Ländern, gewinnt man den Eindruck, [2][Spitzenturnen ist die reine Qual.]
Ich bin überzeugt, dass Spitzenleistungen mit Respekt, Spaß und Freude Hand
in Hand gehen können. Aber es steht auch außer Frage, dass es, um auf
diesem Niveau besser zu werden, notwendig ist, die Komfortzone zu
verlassen. Über diese Situationen müssen wir sprechen: Es gibt einen
Graubereich, denn außerhalb der Komfortzone ist es nicht immer freudvoll –
was aber nicht gleichbedeutend mit missbräuchlichem Verhalten ist. Es ist
extrem wichtig, dass wir Trainer in den Spiegel schauen und brutal ehrlich
sind.
Immer wieder ist von einer „Kultur der Angst“ die Rede und es scheint, dass
Überzeugungen, wie Turntraining zu Erfolg führt, von Generation zu
Generation unhinterfragt weitergegeben werden. Wie kann sich das ändern?
Ich bin zum Beispiel für die Anhebung des Startalters von 16 auf 18 Jahre,
das junge Alter ist Teil des Problems. Der Aspekt unhinterfragter
Überzeugungen ist ein ganz wichtiger: Wir müssen reflektieren, was wir tun.
Der zweite Aspekt ist die Professionalisierung: Wir brauchen Teams von
Experten, nicht eine Person, die für alles zuständig ist.
Als Cheftrainer besuchen Sie die Stützpunkte – auch Chemnitz, wo sich die
suspendierte Stützpuntkleiterin [3][Gabriele Frehse, gegen die Ende 2020
schwere Vorwürfe erhoben wurden,] in einer arbeitsrechtlichen
Auseinandersetzung befindet. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Ich werde keine Frage zu anderen Trainern beantworten, da bitte ich um
Verständnis. Ich war in Chemnitz und arbeite mit den jetzigen Akteurinnen
dort zusammen. Aber letzten Endes kann ich nur für mich sprechen und ich
würde gern mit gutem Beispiel vorangehen.
Ihr Vertrag läuft bis zu den Spielen 2024 – wie sehen die sportlichen
Zielsetzungen aus?
Das Ziel ist recht klar: Die Top 8 in der Welt, also das Teamfinale in
Paris. Ich bin sehr froh, dass die erfahrenen Turnerinnen, die schon in Rio
und Tokio geturnt haben, noch dabei sind, und hoffe, ich kann sie
motivieren, weiter dabeizubleiben. Jetzt bin jetzt erst mal neugierig, wie
die anstehenden Wettkämpfe dieses Jahr laufen.
21 Jun 2022
## LINKS
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[3] /Schikanierung-von-Turnerinnen/!5743449
## AUTOREN
Sandra Schmidt
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