# taz.de -- Der Sport und der Globale Süden: Die Welt sind nur wir | |
> Bei der Turn-WM in Liverpool ist nur ein einziges Team aus Afrika | |
> vertreten. Europa durfte mit 13 Equipes anreisen. Der Weltverband will | |
> das so. | |
Bild: Die Multiperspektivität des Sports: eine chinesische Turnerin am Stufenb… | |
Es ist die erste richtige WM seit 2019, die nun in Liverpool stattfindet. | |
Die besten drei Teams qualifizieren sich schon hier für die Spiele in | |
Paris. Und doch fehlen viele: die Frauenteams aus Island oder Jamaika oder | |
auch Norwegen, das in der WM-Geschichte der Mannschaftskonkurrenz noch nie | |
gefehlt hatte. Die Pandemie, könnte man vermuten, doch weit gefehlt: Der | |
Umstand, dass nur gut halb so viele Teams angereist sind wie zu den | |
nacholympischen Welttitelkämpfen 2018, ist aus Sicht des Internationalen | |
Verbandes (FIG) keineswegs beunruhigend, er selbst hat es so beschlossen. | |
Zum ersten Mal steht [1][diese WM] nicht mehr der ganzen Welt offen. | |
Teilnehmen darf nur, wer sich über kontinentale Titelkämpfe oder | |
individuell über die Weltcup-Serie für ein einzelnes Gerät qualifiziert. So | |
Mali Neurater aus Norwegen, die für genau zwei Sprünge über den Tisch nach | |
Liverpool gereist ist. „Niemals“, lacht sie auf die Frage, ob sie erwartet | |
hätte, sich für die WM zu qualifizieren, „das war die größte Überraschun… | |
Denn Mali ist keine Gerätespezialistin, an einen Einzug ins Sprungfinale | |
der besten acht ist überhaupt nicht zu denken. Erst vor zwei Wochen bekam | |
ihr Verband die Botschaft, dass sie nachrücken darf. | |
Andere Turnerinnen, etwa aus Vietnam oder Marokko, hatten auf ihren | |
Startplatz verzichtet. Wenig verwunderlich, wenn man Aufwand und Kosten | |
betrachtet, denen im Sprung dann zirka 15 Sekunden reine Wettkampfzeit | |
gegenüberstehen. Antonio Egri, Trainer der norwegischen Frauen, sagt: „Es | |
war nicht leicht, die Logistik, das Budget, überhaupt noch ein Hotelzimmer | |
zu finden. Ideal ist das nicht.“ | |
Doch die Auswirkungen der Reform des WM-Modus sind schwerwiegender als die | |
Frage, ob es kurzfristig für eine norwegische Turnerin ein Hotelzimmer | |
gibt. Hardy Fink, ehemaliger Chef des Programms zur weltweiten Entwicklung | |
des Turnens, bezeichnete die Reform in einem Positionspapier als | |
„eurozentristisch“, „an den Wohlhabenden orientiert“ beziehungsweise �… | |
restliche Welt ignorierend“. Für diese Position gibt es eine ganze Latte an | |
Gründen, zum Beispiel die Tatsache, dass etliche Nationen aus dem Globalen | |
Süden schlicht nicht über die Mittel verfügen, in ihren flächenmäßig | |
riesigen Kontinentalverbänden mit einem kompletten Team zu internationalen | |
Ausscheidungen zu fahren. | |
## „Ein neues Problem geschaffen“ | |
Der eigentliche Skandal – ein Wort, das manch eine hinter vorgehaltener | |
Hand in den Mund nimmt – aber ist die Quotierung als solche: Der | |
[2][afrikanische Kontinent], mit 25 nationalen Verbänden, darf exakt ein | |
Team entsenden, ebenso wie Ozeanien, dem just zwei Verbände angehören. | |
Europa hat es mit 13 Quotenplätzen gut getroffen. | |
Auf die Frage, auf welcher Grundlage die Quotierung vorgenommen wurde, | |
erklärt FIG-Generalsekretär Nicolas Buompane: „Auf früheren Ergebnissen.“ | |
Und er fügt eine erstaunliche Erkenntnis an: „Aber die Zeit fliegt. Heute | |
wäre es nicht mehr das Gleiche, wenn man die jüngsten Ergebnisse anschaut.“ | |
Er gibt zu, man habe „ein Problem gelöst und so ein anderes geschaffen“. | |
Grundsätzlich gelte es, ein „interessantes Produkt für das Fernsehen“ zu | |
generieren. Seit Jahrzehnten argumentiert die FIG, ihre Wettbewerbe seien | |
aufgrund der Länge unattraktiv und daher schlecht vermarktbar. Die Krux | |
dieser Argumentation: Finalwettbewerbe werden dadurch nicht verkürzt, und | |
nur die sind für die Medien interessant. Erst im Frühjahr hat die FIG eine | |
Kommission „New and Developing Countries Support Commission“ geschaffen. | |
Die kann ja erforschen, was das Fehlen etlicher Verbände bedeutet. | |
Für die Norwegerinnen ist die Situation übrigens besonders kurios: Sie | |
haben sich nicht als Team qualifiziert, aber fünf Einzelturnerinnen, so | |
viele, wie in einem Team stehen. „Natürlich werden wir dann mal | |
zusammenrechnen, wo wir gelandet wären“, lacht Antonio Egri, „aber das ist | |
nicht die Realität.“ | |
31 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Historische-Medaille-im-Turnen/!5871603 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=e76jek_yBZQ | |
## AUTOREN | |
Sandra Schmidt | |
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