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# taz.de -- Systemische Gewalt im Turnen: „Du wurdest missbraucht!“
> Im Alter von sieben Jahren beginnt die Autorin im Turnverein zu
> trainieren. Sie erlebt Demütigungen und Gewalt. 28 Jahre später schreibt
> sie darüber.
Bild: Die Angst turnt mit: Training auf dem Balken
Tag 1: Heute ist der erste Tag, an dem … Ja, ich weiß es nicht, was ab
heute passieren wird, aber es wird sich etwas ändern, das weiß ich. Ich
heiße Nicole, bin 35 Jahre alt und ich war Turnerin. Ich komme gerade von
der systemischen Beratung, nicht das erste Mal, und doch das erste Mal in
Bezug auf dieses Thema.
Ich war sieben Jahre alt, als mich meine Mutter in diesen Turnverein
schickte. Ich wollte schon immer turnen, bin zu Hause dauernd mit den Füßen
die Wand hochgekrabbelt, sodass ich im Handstand stand, und ich liebte die
Bewegung. Ich war unbekümmert und freute mich wahnsinnig auf das
Turntraining. Schnell stellte sich heraus, dass ich nicht ganz untalentiert
war, und so erhöhten sich meine Trainingseinheiten nach und nach, von
einmal die Woche bis zu sechs Einheiten à dreieinhalb Stunden.
Die erste Begegnung mit dem Trainer, der mich dann 13 Jahre betreute, war
prägend: Ich machte Spagat mit dem vorderen Fuß auf einem ca. 40 cm hohen
Klotz. Mein Trainer kam und drückte mich bis auf den Boden. Ich versuchte
die Zähne zusammenzubeißen, doch es tat so weh, dass ich anfing zu weinen.
Er machte weiter. Alle anderen Erwachsenen in der Halle sahen das, und sie
machten … nichts. Also nahm ich an, dass das so in Ordnung ging, dass das
Verhalten normal war, dass es dazugehörte, wenn ich turnen möchte.
## Tapfere, kleine Nicole
Heute erst, 28 Jahre später, weiß ich, dass das nicht in Ordnung war. Heute
erst habe ich gespürt, dass mein Trainer mich missbraucht hat. Heute würde
ich der kleinen siebenjährigen Nicole sagen, dass er das nicht darf. Er
darf dir nicht wehtun. Er darf es nicht. Komm da raus und sage Mama und
Papa, was er gemacht hat. Ich will dich beschützen, weil niemand so mit dir
umgehen darf. Weil du einen Wert hast, den niemand kaputt machen darf. Doch
die kleine Nicole wollte tapfer sein und war es auch.
Das Bewusstsein für das Erlebte fing letzten Sommer mit dem [1][Film
„Athlete A“] an. US-Nationalturnerinnen schilderten ihr Training auf der
Karolyi-Ranch. Ich saß wie gebannt davor und dachte nur: „Hey, unser
Training war auch so. Wir wurden auch so behandelt.“ Wir wurden nie sexuell
misshandelt, und unser Trainer hat penibel darauf geachtet, dass er uns
nicht falsch anfasste, aber seine Trainingsmethoden hat er nie hinterfragt.
Diese Gedanken beschäftigten mich fortan. Ende November 2020 [2][klagte
unter anderem Pauline Schäfer] ihre ehemalige Trainerin an, sie im Training
erniedrigt und gedemütigt zu haben. Weitere Turnerinnen berichteten aus
ihrer Zeit, und ich las und las all diese Berichte. So viele Situationen
spiegelten meine Erlebnisse wider.
Ich kann nicht mehr einschlafen. Mein Kopf ist voll und gleichzeitig so
leer, ich bekomme meine Gedanken nicht mehr strukturiert. Warum wurde ich
so behandelt? Warum hat mir niemand geholfen? Ich war doch noch so klein.
Es ist so lange her, und doch tut es jetzt weh. Ich muss weinen und kann
nicht mehr aufhören.
Tag 2: Die Tränen von gestern haben ein wenig geholfen. Ich hatte heute
Vormittag Zeit nur für mich und habe geatmet. Zurück zur kleinen Nicole:
Mein Trainingsalltag war nun bestimmt von Demütigung und Erniedrigung. Wir
wurden oft sehr laut angeschrien. Ich erinnere mich an diesen boshaften
Blick meines Trainers, er zog immer einen Mundwinkel hoch, verschränkte die
Arme und schaute einen von oben herab an, als ob er sonst was mit einem
machen wollte.
Irgendwann mal, ich war, glaube ich, acht Jahre alt, musste ich für den
Rest des Trainings meine Arme gestreckt über meinem Kopf halten, weil ich
nach der Radwende die Arme fallen ließ und nicht nach oben streckte. Meine
Arme schmerzten, und ich hoffte nur auf das Ende des Trainings. Einmal habe
ich mich getraut, die Arme ein wenig abzusenken, doch ich wurde so
angeschrien, dass ich das kein zweites Mal wagte. Wir weinten viel, aber es
interessierte keinen, weil es normal war. In diesem Alter konnte ich abends
kaum einschlafen. Mir war schwindelig, sodass sich mein Bett drehte oder
schwamm.
Meine Eltern ließen alles an mir untersuchen, auch meinen Kopf und mein
Herz, bis am Ende herauskam, dass ich meistens unterzuckert war. Durch die
vielen und anstrengenden Trainingseinheiten hatte ich oft keinen Appetit.
Als ich mit neun Jahren Flickflack auf dem Balken lernte, der so hoch war
wie ich groß, wurde wie folgt verfahren: Nachdem ich das Element auf dem
Boden und dem kleinen Balken erlernt hatte, durfte ich mich auf den großen
Balken stellen, es wurde von drei auf null runtergezählt, und wenn ich
nicht gesprungen war, weil ich Angst hatte, musste ich mich am Tau
hochhangeln. Danach ging das Spielchen wieder von vorne los, bis ich
gesprungen bin, unabhängig davon, wie viel Kraft ich noch hatte.
## Angst vor Strafe
Ich hatte Angst, Angst vor Bestrafung. Angst, etwas falsch zu machen und
angeschrien zu werden. Angst, meinen Eltern etwas von alldem zu sagen, weil
sie zum Trainer gegangen wären und ich Angst hatte, dass ich dann von ihm
bestraft werde. Ich bekam Albträume. Wenn ich tagsüber ein
Freundschaftsband knüpfte, träumte ich nachts, dass ich eine Million
Freundschaftsbänder knüpfen muss, und wenn ich das nicht schaffte,
passierte etwas Schlimmes. Ich bin schreiend aufgewacht, weil ich solch
eine Angst hatte. Damals hätte ich niemandem sagen können, dass ich Angst
hatte, weil mir alldas überhaupt nicht bewusst war.
Mit zehn Jahren habe ich dann gesagt, ich wolle mit dem Leistungssport
aufhören und nur noch zum Spaß turnen. Niemand verstand mich, ich mich auch
nicht, aber ich wollte nicht mehr. Auf einmal wurde ich weniger angeschrien
und netter behandelt, aber meine Entscheidung, die in der Halle niemand
akzeptieren wollte, stand fest. Nach den Weihnachtsferien ging ich in die
Gruppe, die nur dreimal die Woche trainierte. Der Kommentar meines Trainers
dazu: „Du bist ganz schön feige.“ Doch ich war befreiter, weil der Druck
abfiel und ich nicht mehr funktionieren musste. Das Turnen fing mir an Spaß
zu machen.
Tag X: Es sind jetzt ein paar Wochen vergangen. Ich brauchte Abstand. Die
ständige Konfrontation mit dem Erlebten ist wahnsinnig anstrengend, und ich
war manchmal froh, nicht immer daran denken zu müssen und zu verarbeiten.
Nachdem ich mit dem Leistungssport aufhörte und nur noch dreimal die Woche
in die Halle ging, wollte ich auch nichts mehr mit dem Leistungsprinzip zu
tun haben. Ich verweigerte all die Elemente, die ich damit verband, und so
machte ich beispielsweise erst mal kein Flickflack mehr auf dem Balken. Ich
glaube heute, dass ich keine Angst mehr verspüren wollte. Ich turnte
weitere elf Jahre für den Verein und unter meinem Trainer. Im Laufe der
Jahre veränderte sich das Training zum Positiven, und es wurde unter
anderem nicht mehr so oft in der Halle geschrien.
Das Thema Ernährung und Gewicht spielte auch bei uns eine Rolle. Als ich
etwa 13 Jahre alt war, hatten wir ein Trainingslager, bei dem es verboten
war, Süßigkeiten mitzunehmen. Bis auf eine ältere Turnerin hielten sich
alle daran. Sie aber hatte sich getraut, zwei Packungen Schokoladenkekse
mitzunehmen. Am ersten oder zweiten Abend saßen wir alle zusammen auf
unserem Zimmer in der Jugendherberge und aßen die Kekspackungen und freuten
uns wie Könige. Wahrscheinlich bekam jeder zwei Schokoladenkekse.
## Gestörtes Körperbild
Am nächsten Morgen kontrollierte unser Trainer den Mülleimer und sah die
leeren Verpackungen. Er war stinksauer und erhöhte kurzerhand unsere
Trainingseinheit von dreieinhalb auf fünf Stunden. Danach klappte ich,
wieder einmal unter der Aufsicht meiner Trainers, zusammen, weil ich
unterzuckert war.
Mitten in der Pubertät hatte ich ein kurzes Trikot an. Mein Trainer packte
mit seinen Fingern meine Haut zwischen Trikot und Armbeuge und meinte: „Du
bist aber ganz schön dick geworden.“ Solche Kommentare gingen nicht spurlos
an mir vorbei und führten unweigerlich zu einem gestörten Körperbild.
Nachdem ich meiner Beraterin die Dinge schilderte, die ich erlebte, sagte
sie ganz klar und deutlich: „All das, was du berichtest, ist körperlicher
und seelischer Missbrauch. Du wurdest missbraucht!“ Seitdem ich Athlete A
geschaut hatte und alle anderen Berichte verfolgte, hatte ich schon eine
Vermutung, aber irgendwie ist dieser Gedanke des Missbrauchs so surreal,
dass diese zwei Sätze mich schockierten, traurig, wütend und sprachlos
machten, bestürzten.
Es gibt viele Situationen, die ich jetzt besser verstehe. Ich weiß jetzt,
warum ich eine Zeit lang keinen Wert besaß und auch immer wieder damit
hadere. Ich weiß jetzt, warum ich nach außen hin immer stark war, egal wie
es in mir aussah. Ich weiß jetzt auch, warum ich mich nie freute, meinen
Trainer nach meiner aktiven Turnzeit zu sehen.
Dies alles ist lange vorbei, und dennoch ist es ein Missbrauch, den ich
seit 28 Jahren mit mir herumtrage. Dies und die Tatsache, dass solche
Zustände auch heute noch präsent sind, lassen mich diesen Bericht
schreiben. Muss Leistungsturnen mit Demütigungen und Erniedrigungen kleiner
Kinder einhergehen? Sollten diese Kinder nicht von den Erwachsenen
geschützt werden? [3][Wie kann der Deutsche Turner-Bund eingreifen?] Nicht
nur an den Stützpunkten. Wir waren kein Stützpunkt. Ich wünsche allen
kleinen Turnerinnen und Turnern, dass sie diese einzigartige und schöne
Sportart behutsam erlernen dürfen. Dass sie Trainer haben, die sie
beschützen und sich bewusst sind, wie wertvoll jedes Kind ist, unabhängig
davon, ob es erfolgreich ist oder nicht.
2 May 2021
## LINKS
[1] /Sexuelle-Gewalt-im-US-Sport/!5694139
[2] /Turn-Weltmeisterin-Schaefer-ueber-Gewalt/!5728807
[3] /Anklage-gegen-Turntrainerin/!5750644
## AUTOREN
Nicole Kron
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