# taz.de -- Historiker über Leistungssport: „Kinder werden manipuliert“ | |
> Der Historiker Alexander Rothenberg vergleicht Profifußball mit | |
> Elite-Sklaverei – und erklärt, was Sport mit Körpern und Träumen von | |
> Kindern macht. | |
Bild: Traumfabrik Spitzensport: Turnerin beim Training | |
taz: Herr Rothenberg, fast täglich erschüttern neue Gewaltvorwürfe den | |
[1][deutschen Turnsport]. Sie selbst haben zu Parallelen zwischen | |
Elitesklaverei und modernem Leistungssport promoviert. Es gibt ein Zitat | |
von Turnerin Lara Hinsberger: „In Stuttgart wurde ich behandelt wie ein | |
Gegenstand. Ich wurde benutzt, und das so lange, bis ich körperlich und | |
geistig so kaputt war, dass ich für die Trainer (und irgendwann auch für | |
mich selbst) sämtlichen Wert verlor.“ Was haben Sie dabei gedacht? | |
Alexander Rothenberg: Erst mal muss ich sagen, ich kriege Gänsehaut bei so | |
einem Zitat. Ich finde sämtliche Zitate, die veröffentlicht wurden, extrem | |
reflektiert und hege große Bewunderung für den Mut, das auszusprechen. Wenn | |
man sich als Ding empfindet, dann sind wir wirklich von Sklaverei nicht | |
weit entfernt. | |
taz: Was ist denn überhaupt Elitesklaverei? | |
Rothenberg: Kinder wurden in vielen Gesellschaften geraubt, verkauft, | |
isoliert, lange ausgebildet und dann in hohen Positionen eingesetzt. Etwa | |
im Militär, als Palasteunuchen oder als Konkubine, die irgendwann die | |
Sultansmutter werden konnte. Und genau das ist der Vergleich, den man | |
ziehen kann. Wir können nicht klar definieren, ob ein Mensch versklavt oder | |
frei ist. Deshalb geht es heute im Bonn Center for Dependency and Slavery | |
Studies (BCDSS) viel stärker um Abhängigkeiten. Ist jemand abhängig und in | |
welchem Grad? Und dann wird es beim Sport total spannend. [2][Per | |
Mertesacker] hat zu seinem Abschiedsspiel gesagt, er werde mit über 30 | |
Jahren zum ersten Mal in seinem Leben frei sein. | |
taz: Wieso? Leistungssport ist doch freiwillig. | |
Rothenberg: In Akademien und Stützpunkten gibt es ein systemisches | |
Machtgefälle, das auch massive Auswirkungen auf den Körper hat. Da sind | |
Gewalt und sexualisierter Missbrauch gang und gäbe. Es gibt ganz heftige | |
Interviews, wo zum Beispiel Ex-Fußballer Max Noble von Grooming spricht, | |
also eine Parallele zieht zum Anbahnen von Kindesmissbrauch. Er sagte: „Man | |
hat uns einen Traum versprochen, damit hält man uns bei der Stange, bis man | |
den platzen lässt.“ Je länger man einen bestimmten Pfad beschreitet, desto | |
schwieriger ist es, alles aufzugeben. Vielleicht hat man mit 16 Jahren | |
keinen Spaß mehr, aber denkt sich: Ich habe zehn Jahre investiert, das kann | |
ich jetzt nicht einfach aufgeben. Zumal man im Umfeld sehr viel positive | |
Verstärkung bekommt. Man möchte dann auch die Eltern nicht enttäuschen. Es | |
gibt ganz wenige Spitzensportler:innen, die freiwillig aussteigen. | |
taz: Funktioniert der Sklavereivergleich so pauschal? Im Turnen war kaum | |
jemand von den Vorwürfen überrascht. Wenn sich aber ein Topskater | |
eigenständig eine Marke aufbaut und nebenher an Olympia teilnimmt, ist das | |
ein Unterschied. | |
Rothenberg: Total. In meiner Arbeit habe ich mich vor allem auf die | |
Sportarten gestützt, wo richtig Geld drinsteckt, die großen US-Sportarten | |
und Fußball. Da gibt es oft große Probleme. Dann geht es aber auch darum, | |
welcher Sport besonders körperintensiv ist. Und dann gibt es noch | |
Sportarten, die man nur mit viel Geld machen kann, Motorsport oder Segeln | |
zum Beispiel, wo es noch mal um andere Abhängigkeiten geht, weil Menschen | |
sich vielleicht verschulden. Es ist also nicht so einfach. | |
taz: Ist Profisport eine schlechte Idee? | |
Rothenberg: Profisport kann schon auch sehr viel geben. Ich glaube, dass | |
wir einfach zu früh zu großen Einfluss auf Kinder nehmen. Da geht es um | |
Kontrolle von Körpern und darum, Kinder zu manipulieren, damit sie | |
dabeibleiben. Das betrifft nicht nur den Profisport, sondern auch die | |
Popkultur, zum Beispiel [3][Britney Spears], auch in der klassischen Musik | |
ist es total verbreitet. Der Gedanke, Kinder systematisch für | |
Höchstleistung auszubilden, um aus ihnen Kapital zu generieren, ist das | |
Hauptproblem. | |
taz: In Grundzügen war der Missbrauch im Turnen längst bekannt. Warum lässt | |
die Gesellschaft so ein System zu? | |
Rothenberg: Da wird ein Traum verkauft, der ist einfach zu groß. Das ist | |
ein American Dream 2.0, wo jede:r entdeckt werden und damit aus dem Alltag | |
entfliehen kann. Das ist ganz tief im Kapitalismus verwurzelt. Dieser Traum | |
wird gerade im Spitzensport auch von Trainer:innen ganz stark verkauft: | |
Ich weiß, es ist heute hart, aber wenn du das geschafft hast, dann kommst | |
du an. Da findet eine Verbrüderung oder Verschwesterung statt. | |
taz: In den letzten Jahren haben weltweit ungewöhnlich viele Athlet:innen | |
Missbrauch und Gewalt im Sport öffentlich gemacht und mehr Mitsprache | |
gefordert. Ändert sich gerade wirklich was? | |
Rothenberg: Ich habe den Missbrauchsskandal um [4][Larry Nassar] als einen | |
Startschuss wahrgenommen, durch den diese Themen global stärker in den | |
Fokus gerückt sind. Viele Sportverbände haben mit Schutzkonzepten, | |
unabhängigen Meldesystemen und Kontrollmechanismen reagiert. Gleichzeitig | |
treten Athlet:innen mehr und mehr organisiert auf und fordern ihre | |
Rechte ein. Trotz dieser Fortschritte bleibt sehr viel zu tun, besonders in | |
der Struktur. Doch die zunehmende Offenheit und die Solidarität sind ein | |
toller Anfang. | |
taz: Als in Chemnitz das Ermittlungsverfahren gegen die Turntrainerin | |
[5][Gabriele Frehse] eingestellt wurde, hieß es in der Begründung: | |
„Seelischer Druck ist im Profisport bedauerlich, aber normal.“ Viele Eltern | |
und Turnerinnen stellten sich hinter Frehse. Oft gibt es einen Aufschrei, | |
wenn vermeintlich Leistung abgeschafft wird, sei es im Kinderfußball oder | |
bei den Bundesjugendspielen. Ist es am Ende ein System, was ganz viele so | |
wollen? | |
Rothenberg: Die Struktur ist da, und sie führt dazu, dass wir denken: Das | |
muss so funktionieren. Ich würde nicht behaupten, dass wir alle es so | |
wollen. Aber natürlich erhalten wir es alle am Leben, indem wir | |
Leistungssport konsumieren und indem wir unsere Kinder immer wieder mit | |
diesen Idolen konfrontieren. Und mit Druck lassen sich Kinder einfach | |
extrem gut formen. Nicht umsonst hat man in der Elitesklaverei gerade | |
Kinder geraubt, weil man ihnen von klein auf eine Ideologie einbläuen | |
konnte. Es gab übrigens auch damals Fälle, wo Eltern ihr Kind freiwillig | |
gegeben haben, damit es das Kind mal besser hat. | |
taz: Trotzdem hat Leistungssport auch eine sehr selbstermächtigende | |
Komponente. Letztens gab es bei Olympia das berühmte [6][Bild, als mit | |
Rebeca Andrade, Simone Biles und Jordan Chiles] erstmals drei schwarze | |
Turnerinnen auf dem Podium standen und einander dafür gefeiert haben. | |
Gerade marginalisierte Gruppen erringen hier wichtige Siege, etwa die | |
Williams-Schwestern im Tennis oder [7][Imane Khelif] im Boxen. | |
Rothenberg: Ja, es ist ambivalent, Simone Biles ist dafür ja das beste | |
Beispiel. Das macht das Ganze auch so schwierig. Sonst könnte man ja | |
einfach sagen: Okay, wir verbrennen da Körper, wir müssen jetzt echt damit | |
aufhören. Es gibt natürlich gute Gründe, Profisport zu mögen. Wenn jemand | |
es aus der größten Armut heraus in diese Sphären schafft, ist das erst mal | |
total selbstermächtigend. Die Person gewinnt auch Handlungskompetenz und | |
agency – so wie in den genannten Fällen von Elitesklaverei. Aber was immer | |
vergessen wird: Wie viele fallen denn runter? Und diese | |
Nichtselbstermächtigung, davon erzählen wir selten. | |
taz: Geht Leistungssport mit Spaß zusammen? | |
Rothenberg: Es ist spannend, darüber nachzudenken. Es gibt erst mal einen | |
ganzen Haufen Reformen, die von klugen Köpfen vorgeschlagen wurden. Und | |
dann muss meines Erachtens noch weitergedacht werden: Was machen wir in | |
unserer Gesellschaft mit Kindern? Mein persönlicher Wunsch wäre, dass man | |
die ganzen Akademien und Stützpunkte in der derzeitigen Form abschafft, | |
vielleicht auch nationale Meisterschaften abschafft. Und mit der | |
Volljährigkeit kann man selbstbestimmt mit Spitzensport starten. Aber mir | |
ist bewusst, dass das nicht so einfach geht. | |
taz: Damit würden Sie eine Menge Sportfans und Sportler:innen gegen sich | |
aufbringen. Es wäre das Ende des Hochleistungssports. | |
Rothenberg: Im Gespräch mit Fußballfans sagen schon viele: Ich gehe jetzt | |
lieber wieder auf den Kreisligaplatz, der ganze Kommerz nervt mich. Da | |
könnte man durchaus argumentieren: Was dich wirklich reizt, ist das Spiel. | |
taz: Sie haben mit vielen Ex-Sportler:innen gesprochen, vor allem mit | |
Fußballern. Wie blicken die auf das Thema? | |
Rothenberg: In aller Regel waren die Menschen sicher, dass sie bewusst | |
ihren Traum gelebt haben. Sie waren sehr dankbar für alles, was Fußball, | |
also Profisport, ihnen gegeben hat. Es gibt Momente der Transzendenz im | |
Sport, die man wahrscheinlich nirgendwo anders bekommt. Oft war aber auch | |
unklar: War das wirklich Dankbarkeit gegenüber dem Profisport oder | |
gegenüber dem Spiel? Ganz häufig ist im Laufe des Gesprächs eine Reflexion | |
passiert: Klar, so eine richtige Jugend hatte ich eigentlich nicht. Manchen | |
fehlte auch während der Karriere ein Freundeskreis, weil sie das Gefühl | |
hatten, sie könnten niemandem mehr vertrauen. Auch erlittene Verletzungen, | |
körperlich wie mental, waren Thema. Aber dann fiel in der Regel auch immer | |
wieder der Satz: Na ja, für diesen Traum Profifußball hat sich das schon | |
gelohnt. Das war eine total ambivalente Haltung. Ich finde, am | |
einleuchtendsten ist die Metapher des goldenen Käfigs. | |
taz: Würde es dem Sportsystem helfen, wenn genau diese Debatte öffentlich | |
stattfände? | |
Rothenberg: Klar, so was hilft immer. Die Frage ist eher: Schaffen wir es, | |
denen Gehör zu verschaffen, die sich äußern wollen? | |
taz: Sie haben eben Britney Spears angesprochen. In der Popindustrie gibt | |
es ganz zaghaft eine Systemdebatte über Kinder. Was hält viele | |
Ex-Sportler:innen ab? | |
Rothenberg: Ich glaube, die Stimmen sind einfach leiser. Gesellschaftlich | |
oder medial interessieren wir uns nicht genug für Ex-Sportler:innen im | |
Vergleich zu einem Popstar. Die sind einfach verschwunden, außer den | |
wenigen, die in Fußball-Talkrunden sitzen oder im „Dschungelcamp“ landen. | |
Die haben diese Stimme nicht. Und im besten Fall müssten wir sie ihnen | |
geben. | |
20 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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