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# taz.de -- Turnen und aufs Maul fallen: Ästhetik des Scheiterns
> Tiktok-Star Nile Wilson war früher ein Spitzenturner. Heute zeigt er mit
> anderen Jungs, wie Stunts eben auch danebengehen können.
Bild: Nile Wilson, als Scheitern für ihn noch keine Option war: Turnwettbewerb…
Wenn man auf Nile Wilsons [1][TikTok] guckt, passieren in der Regel drei
Dinge: Und dann packt sich Nile Wilson aufs Maul. Und dann stöhnt Nile
Wilson. Und dann steht Nile Wilson wieder auf. Es ist gar nichts Heroisches
daran, er hält sich den Rücken oder das Knie, egal worauf er gerade
gefallen ist, jammert kurz, lacht ein bisschen, und versucht es nochmal.
Was versucht er? Er versucht Stunts nachzubauen, die er auf TikTok gesehen
hat. In seinem Gym versucht er das, von dem man auch aus der Ferne ahnen
kann, dass es nach Schweiß und Kunststoff riecht; dass nichts Glorreiches
hier jemals wird stattfinden könne. Und eigentlich müsste Nile Wilson das,
was er da versucht, auch können (denkt der Laie, der ich bin): Schließlich
ist Nile Wilson professioneller [2][Kunstturner], gehörte zur Weltelite
dieser Art der Körperertüchtigung. Sein größter Erfolg: die Bronzemedaille
am Reck bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro. Aber vieles von
dem, was er da versucht, kann er nicht. Aus zwei Gründen kann er es nicht:
er ist mit 29 Jahren jetzt schon ein bisschen älter, erstens, und zweitens
können die Leute immer viel weniger als man denkt.
Das sieht man aber selten auf TikTok oder auf YouTube, wo viele
Gymnast*innen und Tänzer*innen ihre Moves und Tricks vorführen: Da
scheint so oft alles so perfekt zu sein, das ideale Gegenlicht, ein
malerischer Hintergrund, eine perfekte, hollywoodeske Performance. Was Nile
Wilson vorführt, ist das Gegenteil, es ist sozusagen der postmoderne
Kommentar. Er zeigt die Arbeit am Stunt, und vor allem tut er das nicht
allein, sondern zusammen mit seinen Kompagnons Luke Stoney und Ashley
Watson. Ganz erstaunlich daran ist, dass diese Truppe zusammengestellt
scheint wie von einem mäßig begabten Serienproduzenten.
Ihre Körper sind ganz unterschiedlich gebaut, Nile Wilson zum Beispiel ist
klein und drahtig, Luke Stoney – der Beau der Gruppe – groß und auch breit,
und Ashley Watson hingegen ist ein bisschen chubby, rund und gedrängt. Es
ist – für den Laien, der sich dafür bisher kaum interessiert hat – gerade…
unglaublich zu sehen, welcher Stunt wem schneller und besser gelingt. Die
Kanäle dieser drei sind nicht zuletzt auch eine Feier der Vielheit der
Körper.
## Spaß an der Freud
Vor allem aber haben sie Spaß an dem, was sie tun – wobei auch das eine
Feier der Vielheit ist, denn diese Halle, in der sie da herumturnen, hat
nichts Glamouröses, nichts an ihrem Tag ist beneidenswert außer, dass sie
Spaß haben. Und den haben sie, und das sollte auch der letzte Sinn des
Sports sein; das zu zelebrieren ist vielleicht die letzte hohe Kunst des
Barrens und der Ringe. Anders als [3][Turnvater Jahn] es einst predigte,
geht es nicht um Fitness oder Wehrertüchtigung, sondern schlicht darum,
etwas zu tun. Insofern ist Turnen, wie Nile Wilson und seine Bande es
praktizieren, Kunst. Es nimmt dieser Ertüchtigung das Militärische, ohne
das Kameradschaftliche herauszudestillieren. Es ist Spaß an der Freud. Und
es macht Freud, Leuten dabei zuzusehen, wenn sie Spaß haben.
Nile Wilson ist einer der wenigen Männer, die über [4][Missbrauch in seiner
Disziplin] gesprochen haben. Er hat – auch in Dokumentationen – berichtet,
dass er glaubt, misshandelt worden zu sein und hat die „Kultur des
Missbrauchs“ im Leistungssport angeprangert. Seinen Videos, seiner ganzen
Herangehensweise sieht man an, dass er versucht, die Dinge anders
anzugehen: Scheitern als Chance, nicht unbedingt als Chance, um zu obsiegen
und zu gewinnen, sondern als Chance, umarmt zu werden und über die eigene
Fehlbarkeit zu lachen.
Es ist sehr bedauerlich, gehört aber zu Nile Wilson dazu, dass er zugleich
immer wieder sexistische Ansichten äußert und zum Beispiel [5][Andrew Tate]
verherrlicht. Auf seinem Kanal tut er das nicht, was vermutlich damit
zusammenhängt, dass der kreative Kopf hinter den Videos seine Schwester
(und die Partner*in seines Kompagnons Ashley Watson) ist. Sie ist
sozusagen Editor-in-Chief der Videos und vielleicht sogar – wer weiß es –
das Herzstück der Truppe. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass
diese Combo ohne sie zusammenbrechen würde. Sie zieht die Männlichkeit aus
der Selfperformance der Männer heraus, als würde sie einen Schlangenbiss
aussaugen.
Genau dadurch macht sie das, was „die Jungs“ performen, enjoyable. Man
wünschte, es gäbe eine Serie, deren Figuren so undurchschaubar, aber auch
nachvollziehbar wären wie jene drei, die da vor sich hinturnen, aufs Maul
fallen, ständig scheitern und dabei doch erfolgreich sind. In Staffel vier
wird Nile entweder verstehen, warum Männer nicht vom Mars sind und Frauen
von der Venus, oder nicht. Dann wird sich herausstellen, ob es sich um eine
Comedyserie handelt oder ein Drama.
29 Mar 2025
## LINKS
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[3] /Urvater-des-Schulsports/!5118263
[4] /Missbrauch-im-Turnen/!6055696
[5] /Frauenfeindlicher-Influencer-Andrew-Tate/!5942078
## AUTOREN
Frédéric Valin
## TAGS
Turnen
TikTok
Scheitern
Social-Auswahl
Big Tech
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Leistungssport
Missbrauch
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