# taz.de -- Gedenken an NSU-Opfer in Berlin: Unheimliche Stille | |
> Am Sonntag erinnern Initiativen an die Opfer der rechten Terrorzelle, die | |
> vor einem Jahr aufgedeckt wurde. Eine Analyse aus der neuen | |
> taz.berlin-Wochenendausgabe. | |
Bild: Gedenken an das Hamburger NSU-Opfer Sueleyman Taskoeprue am Freitag. | |
Wenn Deniz Utlus Theaterstück in drei Wochen uraufgeführt wird, im | |
Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße, wird auf der Bühne ein Mann stehen, der | |
nichts vergessen kann. Keine Alltagsschnipsel, kein Gesicht, keine | |
Ungeheuerlichkeit. Auch die des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) | |
nicht. „Es wird zu schnell vergessen“, sagt Autor Deniz Utlu. | |
„Fahrräder könnten eine Rolle spielen“, heißt sein Stück. Mit Fahrräde… | |
fuhren die Rechtsterroristen zu einigen ihrer Morde und Banküberfälle. Beim | |
Nagelbomben-Anschlag in Köln hatte die Polizei sogar Fotos davon. Die Täter | |
ermittelte sie nicht. | |
Die flogen erst im November 2011 auf – genau vor einem Jahr. Und mit ihr | |
die siebenjährige Mordserie an neun migrantischen Geschäftsleuten und einer | |
Polizistin. Auch wenn das Trio fernab Berlins tötete: Ihre Taten haben in | |
der Hauptstadt vor allem bei Migranten tiefe Spuren hinterlassen. | |
Es sei nicht so, dass die Gesellschaft nicht schockiert wäre, sagt Utlu. | |
Über das kalte Töten, über das Versagen der Behörden, über die | |
geschredderten Akten, über ungeklärte Fragen wie den Verfassungsschützer am | |
Tatort in Kassel. „Wenn davon berichtet wird, sind die Menschen ja | |
ernsthaft betroffen“, sagt Utlu. „Aber dann vergessen sie es sofort | |
wieder.“ | |
Auch Garip Bali klingt ernüchtert. Der Sozialarbeiter ist Mitglied bei | |
Allmende, einem Berliner Verein für „alternative Migrationspolitik“. | |
Frustration und Wut, sagt Bali, bemerke er in der migrantischen Community | |
ein Jahr „danach“. Nur artikulierten sich diese Gefühle noch wenig nach | |
außen – „zu wenig“. Erst wenn sich das ändere, glaubt Bali, könne es u… | |
ursächliche Problem gehen: „den Rassismus in dieser Gesellschaft“. | |
Blumen für die Opfer wurden nach Bekanntwerden des Mordhintergrunds am | |
Bundestag niedergelegt. Dann folgte lange nichts. Und dennoch, sagt Autor | |
Utlu, seien die migrantischen Gruppen näher aneinander gerückt. „Auch weil | |
klar wurde, dass wir nicht den gleichen Schutz genießen wie andere.“ | |
Utlu sieht eine Politisierung der Community. Im März fuhr ein | |
antirassistischer Autokorso des Türkischen Bunds durch die Stadt. Im Juni | |
gab es ein „zivilgesellschaftliches NSU-Hearing“. Im August ein | |
Antirassismus-Festival in Kreuzberg, organisiert von fast 50 | |
Migrantenverbänden. Selbst das „Berliner Ensemble für klassische türkische | |
Musik“ lädt demnächst zum Konzert – gegen Rassismus. „Das macht Mut“,… | |
Garip Bali. | |
Auf der anderen Seite aber, beklagen beide, stehe die Mehrheitsgesellschaft | |
– und schweige. „Wo sind die tausenden Leute, die Anfang der Neunziger, | |
nach Mölln und Solingen, auf der Straßen waren?“, fragt Utlu. Warum blieben | |
die großen, strukturellen Fragen ungestellt? | |
Auch die Integrationsdebatte, kritisiert Garip Bali, komme weiter nicht | |
ohne Rassismen aus. „Es wird eher noch schlimmer.“ Selbst einer wie Kenan | |
Kolat, Bundeschef des gemäßigten Türkischen Bunds, spricht heute von einem | |
„riesigen Rassismusproblem“ in Deutschland. | |
Jahrelang baute Ex-Innensenator Ehrhart Körting (SPD) Vertrauen in der | |
migrantischen Community auf, besuchte Moscheen. „Das ist nun wieder weg“, | |
konstatiert Kenan Kolat. Zu viele Ermittlungspannen und Ungereimtheiten | |
erlaubten sich die Sicherheitsbehörden im Fall NSU. Und seit September ist | |
klar: Auch Berlin war verstrickt, führte zehn Jahre lang einen NSU-Helfer | |
als V-Mann. | |
Zumindest darüber wird nun anders diskutiert. Die Forderung, V-Leute in der | |
rechten Szene abzuschaffen, gar den Verfassungsschutz an sich, hat das | |
Abgeordnetenhaus erreicht, wird dort von der Linken verfochten. Für eine | |
Neustrukturierung, eine Zusammenlegung der Ämter von Berlin und | |
Brandenburg, ist man auch in der SPD offen. | |
Ob das den Vertrauensverlust wettmacht? Sabine Seyb ist skeptisch. Denn | |
gesellschaftlich habe sich nicht viel geändert, sagt die Frau vom | |
Opferhilfe-Verein ReachOut. 158 rechte Gewalttaten zählte der 2011 in | |
Berlin. Dieses Jahr, sagt Seyb, würden es wohl nicht weniger. | |
Mehr Sensibilität der Polizei? „Leider nein“, sagt Seyb auch hier. | |
Vielleicht habe sich „oben“ was getan. „In den Polizeiabschnitten aber | |
nicht.“ Noch immer würden migrantische Opfer zu oft gefragt, ob sie selbst | |
die Tat provoziert hätten, würden rassistische Tathintergründe abgetan oder | |
gar nicht abgefragt. „Bitter“, sagt Seyb, sei das nach den Erfahrungen der | |
Angehörigen der NSU-Opfer. „Ganz bitter.“ | |
Polizeivizechefin Margarete Koppers verweist dagegen seit Monaten auf | |
Schulungen ihrer Beamten und Sensibilisierung „vor Ort“. Oder auf eine | |
Ermittlergruppe, die alle Mordfälle seit der Wende auf einen rechtsextremen | |
Hintergrund neu prüfe. | |
Einer davon ereignete sich erst im April. Im beschaulichen Rudow trat ein | |
Unbekannter an eine Gruppe jugendlicher Migranten heran und schoss. Burak | |
B., 22 Jahre, starb. Der Täter ist sieben Monate und 104 Hinweise später | |
immer noch flüchtig. | |
Die Parallele zur NSU ist sofort im Kopf, auch wenn sie unbewiesen ist. Für | |
ein rechtsextremes Motiv gebe es im Fall Burak B. keine Hinweise, sagt ein | |
Polizeisprecher. Dann schiebt er schnell hinterher: Solange der Täter nicht | |
gefasst sei, werde nichts ausgeschlossen. Das immerhin, sagt Kenan Kolat, | |
„ist richtig“. | |
3 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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