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# taz.de -- Friedrich Merz' Start ins Kanzleramt: Die Stress-Koalition
> Holprige Kanzlerwahl, für Friedrich Merz klappte es erst im zweiten
> Wahlgang. Wenn Schwarz-Rot jetzt schon patzt, wie stabil kann die
> Regierung dann werden?
Bild: Friedrich Merz und Lars Klingbeil beim Austausch besorgter Blicke am Tag …
Die Schulklasse aus Coesfeld kommt an diesem Mittwochmittag genau im
richtigen Moment am Reichstag vorbei. Elf Frauen und Männer in Sakkos und
Blazern haben sich vor dem Gebäude auf den Stufen des Spreeufers
aufgestellt, um sie herum jede Menge Journalisten mit Kameras. Müssen wohl
Promis sein, die Jugendlichen bleiben also stehen.
Matthias Miersch, gerade zum Vorsitzenden der SPD-Fraktion gewählt, gibt
das Kommando: „Jetzt richten wir den Blick, auch wenn’s schwerfällt, mal
nach rechts, aber dann gleich wieder nach links bitte.“ Wenn das so einfach
wäre. Links von der SPD ist im Bundestag keine Mehrheit mehr in Sicht.
Schwarz-Rot ist die einzig mögliche Regierung der Mitte, eher
Notgemeinschaft als Große Koalition. Und gleich zum Auftakt fragil.
Als [1][Friedrich Merz] am Dienstagvormittag zum Kanzler gewählt werden
sollte, fiel er durch. Es folgten hektische Stunden, in denen die
Geschäftsordnung gewälzt, Justitiare konsultiert, Kontakte zur Linkspartei
reaktiviert und mit Zweidrittelmehrheit am gleichen Tag [2][noch ein
zweiter Wahlgang beschlossen wurde]. Diesmal erhielt Merz die nötige
Mehrheit. Noch mal gut gegangen. Doch die Frage bleibt: Wenn Schwarz-Rot
schon beim Auftakt patzt – wie stabil wird die Koalition dann? Führt
Merz, der das Ampel-Chaos beenden wollte, es unter veränderten Vorzeichen
fort? Wie loyal ist die SPD?
## Wer hat Merz das Herz gebrochen?
Dirk Wiese, der groß gewachsene neue Erste Parlamentarische Geschäftsführer
der SPD-Fraktion, hat sich zum Gruppenbild in die letzte Reihe gestellt.
Seine Aufgabe ist es, die Abgeordneten seiner Fraktion für wichtige
Abstimmungen zusammenzuhalten und den Kontakt zu den anderen Fraktionen zu
suchen. Der Flop im ersten Wahlgang war „eine Überraschung, da es in der
SPD-Fraktion keine Anzeichen gab, dass jemand nicht für Friedrich Merz
stimmen wollte“, sagt Wiese zur taz. Er hofft, dass das ein „heilsamer
Schock“ für alle Abgeordneten war. Fragt man in der SPD herum, heißt es
unisono: Aus den eigenen Reihen kamen die Renegaten nicht, das Problem
liege wohl in der CDU.
Zwar weiß niemand, wer die 18 Abweichler waren. Aber dass sie komplett aus
der SPD stammen, ist mehr als unwahrscheinlich. Merz sprach nach dem
Desaster des ersten Wahlgangs in der Fraktionssitzung ein Machtwort. Man
sei hier „nicht auf einem Kreisparteitag“, sagte er. Das hieß übersetzt:
Merz selbst glaubte, dass es in der Unionsfraktion Dissidenten gab. Man
ahnt: Mit unbedingter Loyalität kann der Kanzler in der Unionsfraktion kaum
rechnen.
Ende Februar saß Jens Spahn in einer Talkshow und sagte lächelnd in Bezug
auf Schwarz-Rot: „Alternativlos gibt es nicht.“ Spahn ist jetzt
Fraktionschef, die Nummer zwei hinter Merz. Spahn, der schon die Nähe des
Trump-Buddies Richard Grenell suchte, trauen viele zu, dass er eine
doppelte Agenda verfolgt. Auffällig war nicht nur das maliziöse Lächeln,
mit dem er im TV eine „Alternative“ für Deutschland ins Spiel brachte. Den
gleichen Doppelsinn hatte seine Initiative, [3][auch AfDler zu
Ausschussvorsitzenden im Bundestag zu wählen.] Das diene nur der besseren
Bekämpfung der AfD, versicherte Spahn treuherzig. Möglich ist auch eine
andere Lesart – die Rechtspopulisten Stück für Stück zu normalisieren.
Wird also hinter Merz' Rücken bereits dessen Sturz vorbereitet? Einer, der
sich nicht scheute, Merz immer wieder öffentlich zu kritisieren, ist Dennis
Radtke, Vorsitzender des Sozialflügels der CDU. In der Regierung ist die
Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft, CDA, nicht vertreten, was
Radtke öffentlichkeitswirksam anprangerte. Aber nun stellt er sich hinter
Merz, sieht auch keine Anzeichen organisierten Widerstands. „Da sind
unterschiedliche Motive zusammengekommen“, sagt der Europaabgeordnete zur
Nichtwahl von Merz am Dienstagmorgen. In der Bundestagsfraktion habe danach
„kollektives Erschrecken geherrscht, nach dem zweiten erfolgreichen
Wahlgang aber kollektive Erleichterung und nun kollektive Zuversicht“.
Fakt ist, dass es im Regierungsnormalbetrieb keine weiteren geheimen
Abstimmungen geben wird – und Pleiten wie bei der Kanzlerwahl damit
unwahrscheinlich sind.
## Die Union hat theoretisch eine Alternative – die SPD nicht
Radtke versprüht Optimismus, das muss er auch. Demnächst werden noch die
Posten in der Fraktion verteilt: „Ich bin zuversichtlich, dass die CDA sich
dort gut wiederfinden wird.“ Fraktionschef Spahn kenne er seit vielen
Jahren, sagt Radtke. „Ich traue ihm ohne Weiteres zu, Brücken zu bauen.
Denn er hat jetzt eine andere Rolle: als Brückenkopf in Richtung SPD.“ Dass
Spahn hingegen in Richtung AfD blinkt, hält Radtke für ausgeschlossen.
„Alle Gedankenspiele in Richtung AfD sind Gift. Wer damit spielt, der macht
die CDU kaputt.“
Doch: Solche Ideen haben in der CDU einen Echoraum. Eine Minderheit findet
es strapaziös, mit der störrischen, linken SPD zu regieren – und die
Aussicht, sich Mehrheiten bei der AfD zu besorgen, zumindest
nachdenkenswert. Der Publizist Andreas Püttmann schätzt, dass „rund ein
Fünftel der Basis der CDU offen für Schwarz-Blau wäre“. Vor allem im Osten
und auch im Südwesten. Denkbar ist das Szenario: Wenn Schwarz-Rot mies
läuft, die Umfragen für die Union sinken, dann „kann diese Minderheit
versuchen, ins Geschäft zu kommen“, schreibt Püttmann.
Das berührt die Machtarchitektur von Schwarz-Rot. Die Union hat –
theoretisch – eine Alternative, wenn die Regierung scheitert. Die SPD
nicht. Sie hat auf das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte mit einer
seltsamen Mischung aus Ermattung, unterdrückter Panik und kühler
Professionalität reagiert. Jetzt ist sie auf Wohl und Wehe darauf
angewiesen, dass diese Regierung funktioniert. Und muss gleichzeitig
schauen, dass sie sich in dieser nicht verliert.
Im Koalitionsvertrag stehen jede Menge Punkte unter Finanzierungsvorbehalt,
über andere gehen die Interpretationen auseinander. Die Beteuerung, man
habe alle Missverständnisse und offenen Fragen ausgeräumt, hielt nach der
Veröffentlichung des Vertrags Mitte April nur zwei Tage. Seitdem behauptet
die SPD steif und fest, [4][man habe 15 Euro Mindestlohn vereinbart.] Die
Union sieht das ganz anders. Und hat, wenn man den Koalitionsvertrag liest,
recht. Denn dort sind 15 Euro ein wünschenswertes Ziel, das die zuständige
Kommission erfüllen kann – oder eben auch nicht. Ähnlich ist es bei der
Entlastung von Geringverdienern und Mittelschicht. Die SPD hält das für
ausgemacht, die Union für nice to have.
Und dann ist da noch die Frage, wie man mit der Linkspartei umgeht. Die CDU
schließt eine Zusammenarbeit per Unvereinbarkeitsbeschluss aus, doch
[5][Schwarz-Rot braucht Zweidrittelmehrheiten – und damit die
Linksfraktion] – für die Wahl eines neuen Richters fürs
Bundesverfassungsgericht. Oder für die im Koalitionsvertrag vereinbarte
Reform der Schuldenbremse, die der SPD besonders wichtig ist. Fraktionschef
Miersch sagt am Spreeufer kampfeslustig: „Wir werden alles daran setzen,
dass wir diese Zweidrittelmehrheit mit Stimmen der Grünen und Linken und
dieser Koalition zustande bekommen.“ Im Regierungsviertel liegen eine Menge
lose Minen herum.
## Die Union will diesmal mehr
Dirk Wiese möchte sich weniger Gedanken über Explosionsgefahren machen –
und lieber loslegen. „Klar, es wird strittige Abstimmungen geben, Themen,
bei denen wir Zugeständnisse an die Union und die Union Zugeständnisse an
uns machen muss. Es wird darauf ankommen, sich gegenseitig Erfolge zu
gönnen.“ Seinen Ansprechpartner, den Ersten Parlamentarischen
Geschäftsführer der Unionsfraktion, Steffen Bilger, kennt er. Beide
betreuten in der vergangenen Legislatur als Fraktionsvize gleiche Themen.
Wiese ist überzeugt: „Das wird gut zwischen uns funktionieren.“
Bislang galt in Großen Koalitionen: Die SPD versuchte Gerechtigkeitsideen
mit programmatischen Elan durchzusetzen, die Union bremste und verwaltete
die Macht. Das ist diesmal anders, komplexer. Die Union will mehr. So wie
die SPD das HartzIV-Image loswerden wollte, will die Union das
flüchtlingsfreundliche Merkel-Image von 2015 ausradieren. Innenminister
Alexander Dobrindt will Asylsuchende in großem Stil an den Grenzen
zurückweisen. Die SPD hält das für „europarechtswidrig“ und beharrt auf
„Absprache mit den europäischen Partnern“.
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder sieht Union und SPD „nicht
nur schwächer und angeschlagener als früher“, sie liegen auch
programmatisch mehr über Kreuz. Er rechnet mit „kleinen Säbeleien“ bei
Migration, Wirtschafts- und Steuerpolitik, doch ohne dass es zum Bruch
kommt. „Es wird aber zuweilen knirschen und krachen.“ Zusammen regieren,
und den eigenen Anhang bei Laune halten – wie geht das denn zusammen?
Schroeder hält eine Arbeitsteilung für möglich, bei der „die Union bei der
Migration, die SPD bei Sozialem“ das Sagen hat. Keine Regierung aus einem
Guss, sondern zwei Parteien, die ihre Felder beackern. So wie es
Christdemokraten und Grüne mal in Österreich versucht haben.
„Eine große Koalition produziert immer auch Müdigkeit“, sagte einst
Wolfgang Schäuble, der acht Jahre Minister in Großen Koalitionen war. Aber
die Merz-Klingbeil-Regierung hat eine andere Dynamik. Müdigkeit wäre da
vielleicht gar nicht mal das Schlechteste. Nach reibungslosem, langweiligem
Regieren, das man von Großen Koalitionen kennt, sieht es jedenfalls nicht
aus.
10 May 2025
## LINKS
[1] /Friedrich-Merz-und-sein-Naziopa/!6086702
[2] /Kanzlerwahl-von-Friedrich-Merz/!6086558
[3] /Die-CDU-und-die-AfD/!6079392
[4] /Mindestlohn/!6080680
[5] /Nach-der-Bundeskanzlerwahl/!6086683
## AUTOREN
Anna Lehmann
Stefan Reinecke
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