# taz.de -- „Franziska“ am Theater Bremen: Genuss ohne Ende | |
> Als Technicolor-Schauspiel hat Pınar Karabulut in Bremen ihre Fassung von | |
> Frank Wedekinds „Franziska“ inszeniert: Laut, krawallig und | |
> freiheitsgierig. | |
Bild: Die mephistophelische Annemaaike Bakker bedrängt als Veit Kunz Franziska… | |
Nix Tragödie. Das Ende ist auch bei [1][Pınar Karabulut] ein gutes, nein, | |
ein besseres als im Original. Es hat geradezu etwas Triumphales: „Am | |
Schluss“, so beschreibt die Regisseurin den Ausgang [2][ihrer Bremer | |
„Franziska“-Aufführung], „wandelt sie allen Mächten gleichberechtigt auf | |
Augenhöhe und geht ihre eignen Wege“. Inszeniert hat sie das Stück als | |
rasanten Bilderbogen, atemberaubend krawallig und rauschhaft bis zum | |
Taumeln. Freitag war Premiere. | |
Pınar Karabulut macht Theater, das wirkt, als wäre es in Technicolor | |
inszeniert. Und sie macht schnelles Theater: Ihre Produktionen haben die | |
Wucht, oft auch die Wut und stets das Tempo, die ein saturiertes Publikum | |
schocken und ein neues interessieren können. Die 34-Jährige, [3][seit 2020 | |
Mitglied im Leitungsteam der Münchner Kammerspiele], inszeniert derzeit an | |
den wichtigsten deutschsprachigen Sprechbühnen bis auf die großen Hamburger | |
Häuser, mal sehen, wie lange noch. Ihre wilde, laute, aufdringliche | |
Ästhetik lässt sich nicht aufhalten. | |
Klar also, dass auch ihre „Franziska“ eigene Wege geht. Und die führen eben | |
nicht in das etwas lahme Landlust- und Familien-Idyll, mit dem Frank | |
Wedekind sein heute nahezu vergessenes Drama einst ausklingen ließ. | |
Sättigung, Beruhigung, Bescheidung gar dichtet er seiner Titelheldin darin | |
ganz unversehens an. | |
Das ist mit Karabulut nicht zu machen: Sie legt dem mephistophelischen Veit | |
Kunz ein Zitat aus George Michaels Song „Freedom!“ in den Mund, das als | |
Vorgriff auf dessen Coming-out gelesen wird: „Sometimes the clothes do not | |
make the man“ heißt die Zeile, also „Kleider machen manchmal nicht den | |
Mann“, das sagt also Annemaaike Bakker. | |
## Kein chronisches Gretchen | |
Und die lebensgierige Titelheldin toppt das noch mit einer leider etwas | |
verschluckten ironischen Replik: Er möge sie doch bitte nicht | |
george-michaelisieren, sagt die Hauptdarstellerin [4][Fania Sorel], die | |
sich zuvor völlig hatte verausgaben müssen. | |
Was auch immer das bedeuten mag, es stellt klar: Sie wird jetzt nicht | |
Kinder kriegen und voltairianisch ihren Garten bestellen. Sie ist kein | |
chronisches Gretchen, das sich in vorgeschriebene Bahnen zurückdrängen | |
lässt. | |
[5][Wedekinds „Franziska“] ist, grob gesagt, eine feministische | |
Faust-Persiflage. Ihr Teufelspakt besteht darin, dass die Protagonistin | |
zwei Jahre als Mann leben darf, um ihre Freiheitsgier zu stillen. Der | |
Dramatiker hat das seinerzeit angereichert um die Kunst-, Kultur- und | |
Philosophie-Debatten der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und ergänzt mit viel | |
bildungsbürgerlichem Ballast – vielleicht, um den absehbaren Skandal etwas | |
zu dämpfen. | |
Diese Zusatzgewichtigkeit hat Karabulut abgeworfen, sodass das Ding, das | |
kaum je gespielt wird, tatsächlich endlich einmal abhebt. Sie fokussiert | |
die Grundstruktur, macht die direkt parodistischen Szenen stark, infiziert | |
mit diesem respektlosen Spirit durch unmittelbare Faust-Zitate die weniger | |
goetheanischen Bilder und unterstreicht und weitet durch klug montierte | |
Pop-Elemente die Geschlechterkampfdimension: | |
Nicht nur steht Lady Gaga für die schrillen Outfits Patin, die Aleksandra | |
Pavlović geschneidert hat, es wird auch [6][Michel Rivgauches debiler | |
Yéyé-Chanson] „Zou bizoubizou“ im pinken Plaste-Puppenhaus (von Mattel®) | |
intoniert. | |
Das hat Bühnenbildnerin Johanna Stenzel vom handelsüblichen Pocketformat | |
hochskaliert auf einen bösartig knapp unterlebensgroßen Spielort, der nach | |
Weichmacher zu riechen scheint. Hier, in diesem Modell der Heimeligkeit, | |
müssen sich alle immer hübsch klein machen, um nicht anzuecken: Die | |
schönste Szene des Abends ist ein Kampf zwischen Franziskas Gattin Sophie | |
und Lydia Zipfel, ihrer vermeintlichen Nebenbuhlerin, der von Mirjam Rast | |
und Lieke Hoppe in perfekter Stop-Motion-Motorik ausgetragen wird. | |
Wer fliegen will, muss bereit sein, den Boden unter den Füßen zu verlieren. | |
Der Abend ist, seiner Kürze zum Trotz – das Spektakel ist nach 90 Minuten | |
vorbei –, auch fürs Publikum geradezu körperlich anstrengend: In andere | |
Arbeiten hat Karabulut Momente des ausgesprochenen Stillstands eingebaut. | |
Deren Schönheit besteht darin, dass sie das Vergehen der Zeit radikal | |
bewusst machen, es erleben und erleiden lassen. | |
Auf solche Phasen des quälend konsequent ausgespielten Leerlaufs hat sie | |
für „Franziska“ verzichtet: Zu stark ist der Antrieb der Titelfigur. In dem | |
Prolog ist der bereits zum Programm erhoben: Er ist collagiert aus Reimen | |
des Stücks und dessen erster Szene, aus deutschem Zitatenschatz, Aperçus | |
aus den Schriften von Wedekinds Vorbild Franziska zu Reventlow und Eigenem. | |
Sorel trägt ihn mit großartiger Verve vor. | |
„Für mich reicht es nicht“, ruft sie, frisiert wie Mireille Mathieu und mit | |
einem von einer Kluges-Schulmädchen-Brille entstellten Gesicht in den Saal. | |
„Ich will mehr!“ Dieser Drang, diese Sucht nach Genuss, diese Hetze, die | |
sie sich selbst auferlegt, das ist ihr eigener Weg. Rastlos wie er ist auch | |
die Aufführung. Auf ihm zu bleiben, ist das beste Ende, das Franziska | |
finden kann. Das einzige. Und im Grunde ist auch das eine Art Hölle. | |
6 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Neubau-Volkstheater-Muenchen-eroeffnet/!5805825 | |
[2] https://www.theaterbremen.de/de_DE/programm/franziska-ein-modernes-mysteriu… | |
[3] https://www.muenchner-kammerspiele.de/de/wir/126-pnar-karabulut | |
[4] /Knausgrd-Projekt-am-Theater-Bremen/!5587424 | |
[5] http://www.zeno.org/Literatur/M/Wedekind,+Frank/Dramen/Franziska.+Ein+moder… | |
[6] https://fr.wikipedia.org/wiki/Zou_bisou_bisou | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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